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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 8, 98

Weder Wissenschaftler noch Verwaltungsbeamter: der wissenschaftliche Bibliothekar im Berufsfeld Bibliothek

Anmerkungen zur jüngsten Debatte um das Berufsbild

Peter Didszun

Das Berufsbild des wissenschaftlichen Bibliothekars ist erneut Gegenstand einer heftigen Diskussion geworden. Anlaß sind Helmut Oehlings1) provozierende "Zwölf Thesen zur Zukunft des Fachreferenten", die sofort eine heftige Reaktion von drei Kollegen2) hervorgerufen haben. Oehling, Mitglied der Kommission für Fachreferatsarbeit des VDB, diagnostiziert eine sich grundlegend verändernde berufliche Umwelt, die zu einer "Legitimationskrise" des Fachreferenten geführt habe. Die Problembereiche dieser Legitimationskrise werden in fünf Punkten vorgestellt: der Funktionsverlust der Zentralbibliothek in den Universitäten, die zweifelhafte Zukunft des Beamtenstatus für das bibliothekarische Berufsfeld, der Funktionsverlust des herkömmlichen Fachreferenten, die zukünftige Aufgabe des wissenschaftlichen Bibliothekars als Informationswissenschaftler, die Konkurrenzsituation mit dem immer besser ausgebildeten Diplombibliothekar im Bereich der betriebs- bzw. verwaltungswirtschaftlichen Aufgaben in der Bibliothek. Der Berufsstand des wissenschaftlichen Bibliothekars stehe vor der Entscheidung, ob er sich in erster Linie als Bibliotheksverwalter oder als Fachreferent und Informationsspezialist legitimiert. Oehling plädiert entschieden für die zweite Alternative. Er fordert einen "neuen Fachreferenten", der nicht nur erwirbt und erschließt, sondern der auch aktive Fachinformation betreibt. Diesem neuen Fachreferenten soll künftig auch das Amt eines Bibliotheksdirektors (A 15) offenstehen.

Den "Zwölf Thesen" geht ein einleitender Aufsatz von Uwe Jochum3) voran, der die Thesen Oehlings historisch und systematisch untermauern soll, tatsächlich aber eine Fundamentalkritik der gesamten Entwicklung des (wissenschaftlichen) Berufsbibliothekars darstellt. Die Institutionalisierung des bibliothekarischen Berufs sei erkauft worden mit dem Verzicht auf die wissenschaftliche Betätigung der Bibliothekare, die Entwicklung der professionell geführten Universitätsbibliothek habe die Entwicklung der "nicht professionell, aber wissenschaftsadäquat" (was für eine Entgegensetzung!) geführten Institutsbibliothek zur Folge gehabt, mit der Schaffung einer Laufbahn des höheren Bibliotheksdienstes sei zugleich auch die Konkurrenz zum gehobenen Dienst etabliert worden. Jochums Lösungsvorschlage, bzw. die Tendenz, die er den "Zwölf Thesen" gibt, könnten unter das Motto "Vorwärts in die Vergangenheit" gestellt werden.

Die Gegner der "Zwölf Thesen" konstatieren dagegen in universitären Bibliothekssystemen eine "klare Trennung von Verwaltungskompetenz auf seiten des höheren Bibliotheksdienstes", wogegen die "Beschaffungskompetenz auf seiten der Fachbereiche" liege. Es seien also gerade die Managementaufgaben, die den wissenschaftlichen Bibliothekar im universitären Bereich legitimierten. Etwas beschwichtigend geben die Verfasser zu verstehen, daß es auch in Zukunft Fachreferatsaufgaben geben werde. Deren Bedeutung trete jedoch gegenüber den Managementaufgaben zurück4).

Damit wird die berufspolitische Diskussion mit einer völlig falschen Gegenüberstellung in Bezug auf das Leitbild des wissenschaftlichen Bibliothekars geführt: Soll er sich - zugespitzt formuliert - als Professorenbibliothekar, als Chemiker, Theologe, Jurist, Philologe verstehen, der in einer Bibliothek arbeitet, oder vielmehr als "Bibliotheksbetriebswirt", der an verantwortlicher Stelle einer zentralen universitären Betriebseinheit tätig ist und der früher einmal Chemie, Theologie etc. studiert hat? In der Auseinandersetzung mit dieser Gegenüberstellung soll auf die Stellung des wissenschaftlichen Bibliothekars im Berufsfeld Bibliothek eingegangen werden und in diesem Zusammenhang auf die Frage der Wissenschaftlichkeit seiner Tätigkeiten sowie auf die Stellung des wissenschaftlichen Bibliothekars in Hochschulbibliotheken und Hochschule.

Einleitend sei auf zwei Beobachtungen hingewiesen, die bereits ein bezeichnendes Licht auf die Debatte werfen. Zum einen fällt auf, daß sich die Diskussionsbeiträge eng an der Problematik des Fachreferenten an einer Hochschulbibliothek orientieren. Zwar ist dies das Tätigkeitsgebiet einer großen Zahl der Kollegen des höheren Dienstes. Ein unverzerrtes Berufsbild des wissenschaftlichen Bibliothekars muß jedoch das gesamte Tätigkeitsspektrum ins Auge fassen. Das Berufsbild des wissenschaftlichen Bibliothekars erschließt sich erst im Kontext des gesamten Berufsfeldes. Zum anderen gibt ein Blick in die Stellenanzeigen dieser Zeitschrift wenig Anlaß zu Zweifeln, daß Bibliothekare mit einer fachwissenschaftlichen Qualifikation auch weiterhin gefragt sein werden. Dies allein sollte Grund genug zu sein, die These von der Legitimationskrise des wissenschaftlichen Bibliothekars mit einem dicken Fragezeichen zu versehen.

Als Bibliothek gilt, so lautet die bekannte Definition der UNESCO, "ungeachtet der Bezeichnung jeder geordnete Bestand gedruckter Bücher und Zeitschriften oder anderen Schriftguts oder audiovisuellen Materials sowie die personellen Dienstleistungen, die den Benutzern die Verwendung dieser Materialien für Informations-, Forschungs-, Bildungs- und Erholungszwecke ermöglichen und erleichtern sollen"5). Zu Recht weist Kirchner darauf hin, daß diese Definition auch bibliothekarische Tätigkeiten einschließt, die an Dienststellen erbracht werden, die zum Bibliothekswesen gehören, aber nicht den Namen "Bibliothek" tragen, wie etwa Zentralkataloge oder Verbundsysteme. Auch die Fachhochschulen für Bibliotheks- und Informationswesen, die einen Auftrag zur Lehre in der "Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und wissenschaftlicher Methoden", sowie einen "Forschungs- und Entwicklungsauftrag im Rahmen ihres Lehrgebiets"6) haben, sind in eine Betrachtung des Berufsfeldes Bibliothek mit einzubeziehen.

"Auftrag der Bibliotheken", so heißt es im "Berufsbild" des VDB aus dem Jahre 19847) "ist es, die Quellen des dokumentierten Wissens der Vergangenheit und Gegenwart mit modernen Methoden zu sammeln, zu bewahren, zu erschließen und zu vermitteln". An dieser Aufgabe sind alle Mitarbeiter entsprechend ihrer jeweiligen Qualifikation beteiligt. Für den wissenschaftlichen Bibliothekar fallen dabei Aufgaben sowohl wissenschaftlicher als auch komplexer organisatorischer Art an. Dabei differenziert das "Berufsbild" zwischen Aufgaben, die fachwissenschaftliche und solchen, die bibliotheks- und informationswissenschaftliche Qualifikationen erfordern. Bestimmte Aufgaben organisatorischer Art erfordern eine wissenschaftliche Qualifikation aus allgemeinmethodischen Gründen, "weil alle Entscheidungen unmittelbare Auswirkungen auf Bestandsaufbau, Erschließung und Benutzung haben und sowohl betriebliche wie fachliche Belange berücksichtigen müssen". Es ist nicht zu erkennen, was sich an dieser Charakterisierung des Berufsbildes in den letzten Jahren grundlegend geändert hätte.

Das Tätigkeitsgebiet des wissenschaftlichen Bibliothekars ist vielseitig. Es sieht in einer wissenschaftlichen Spezialbibliothek anders aus, als in einer Universalbibliothek mit regionalem oder überregionalem Versorgungsauftrag, oder in einer Hochschulbibliothek mit einem mehr oder weniger dominierenden institutsgebundenen Versorgungsauftrag. Sein Tätigkeitsgebiet ist abhängig von der Größe der Bibliothek und der personellen Ausstattung des wissenschaftlichen Dienstes. Von zunehmender Bedeutung für das Berufsbild des wissenschaftlichen Bibliothekars sind bibliothekarische Kooperation und Planung im Bibliothekswesen. Der Literatur- und Informationsversorgungsauftrag kann immer weniger von einer Bibliothek allein erfüllt werden, sondern wird zunehmend einem System mit vielen Partnern übertragen, die zusammen eine "virtuelle Bibliothek" bilden. Dem dienen kooperative Dienstleistungseinrichtungen, wie Zentralkataloge, Verbundsysteme und Dokumentliefersysteme. Die bibliothekarische Zusammenarbeit erfordert einheitliche Standards und Normen. Der Aufbau wissenschaftsadäquater bibliographischer Normdateien, die Entwicklung und Aktualisierung von Instrumenten kooperativer und zugleich wissenschaftsadäquater sachlicher und formaler Erschließung von Literatur und Information in Katalogen, Bibliographien und Datenbanken erfordern bibliotheksfachliche und fachwissenschaftliche Kompetenz.

Entscheidend ist in allen Fällen, daß sich Aufgaben wissenschaftlicher und organisatorischer Art in vielfältiger Art durchdringen. Auch der wissenschaftliche Bibliothekar hat, sofern er nicht als Lehrer an einer Fachhochschule tätig ist, genuin bibliothekarische Aufgaben, aber eben solche, die eine fachwissenschaftliche, bibliotheks- und informationswissenschaftliche und allgemeinmethodische Qualifikation auf wissenschaftlichem Niveau erfordern. Je nach Arbeitsplatz muß er diese Komponenten seiner bibliotheksfachlichen Kompetenz in unterschiedlicher Gewichtung einsetzen.

In welchem Sinne die Tätigkeiten des wissenschaftlichen Bibliothekars als "wissenschaftliche Tätigkeiten" anzusehen sind, das ist jüngst von Vollers und Sauppe8) aus Anlaß ihrer Arbeitsplatzbewertung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst ausführlich dargestellt worden. Im Regelfall handelt es sich danach nicht um eine wissenschaftliche Tätigkeit im engeren Sinn der Erarbeitung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, wohl aber um Tätigkeiten, "die die Fähigkeit erfordern, selbst wissenschaftlich zu arbeiten oder in wissenschaftlich fundierter Weise berufliche Aufgaben zu erfüllen oder auf Grund der im Studium erworbenen speziellen und allgemeinen Kenntnisse Voraussetzungen für wissenschaftliche Arbeit zu schaffen"9).

Die Gründe, die Oehling für die angebliche Legitimationskrise des wissenschaftlichen Bibliothekars anführt, vermögen nicht zu überzeugen. Der Funktionsverlust der Zentralbibliotheken ist kein neues Phänomen. Er war bereits seit den fünfziger Jahren beklagt worden. Zusammen mit den auch von Seiten der Wissenschaftler empfundenen Mängeln des Dualismus von Zentralbibliothek und Institutsbibliotheken war er ein Motiv für den Strukturwandel der Hochschulbibliotheken und die Schaffung einschichtiger Bibliothekssysteme in den siebziger Jahren . Dabei war von vornherein klar, daß der Abschied von der zentralen Universitätsbibliothek als wissenschaftlicher Universalbibliothek und ihre Einbeziehung in ein System der universitären Literaturversorgung auch Auswirkungen auf die Tätigkeit des Fachreferenten haben würde. Er schafft nicht mehr in akademischer Freiheit Bücher für einen unbestimmten Kreis von Forschern an. Bei seinem Bestandsaufbau orientiert er sich vielmehr an der Funktion der Bibliothek innerhalb dieses Systems. Der Aspekt der Dienstleistungseinrichtung für Forschung und Lehre, der der Universitätsbibliothek schon immer zukam, wurde deutlicher und kam auch hochschulrechtlich in ihrer Stellung als zentraler Betriebseinheit zum Ausdruck.

Dieser klare Dienstleistungsauftrag muß keineswegs als Einschränkung des Status des Fachreferenten, sondern kann im Gegenteil als Element der zunehmenden Professionalität seines Tuns betrachtet werden. Die sachlichen Kriterien des Bestandsaufbaus werden nun nicht mehr von einem utopischen Universalismus abgeleitet, der in der Praxis nur allzuoft zu sehr subjektiven Entscheidungen führte. Die Beschaffung orientiert sich vielmehr an der zu erwartenden Benutzung. Dies schließt im Rahmen eines langfristig festgelegten Bestands- und Erwerbungsprofils der Universitätsbibliothek die Sorge um einen insgesamt ausgewogenen Bestand ein, der sowohl einen Bedarf berücksichtigt, der in der Hochschule vergleichsweise weniger vehement bekundet wird, als auch einen derzeit noch nicht existenten, jedoch in der Zukunft zu erwartenden Bedarf. Diese distanzierte Bedarfsabwägung einer differenzierten aktuellen und zukünftigen Benutzerschaft kann die Bibliothek nicht an Dritte, wie fachkundig sie in ihrem Interessensgebiet auch immer sein mögen, delegieren. Dies ist und bleibt die Aufgabe des wissenschaftlichen Bibliothekars. Es ist abwegig, die Sorge um einen planvollen Bestandsaufbau als prätentiös zu bezeichnen, wie te Boekhorst und seine Mitautoren es tun.

Was den Funktionsverlust des Fachreferenten in den Hochschulbibliotheken betrifft, gilt es zu differenzieren. Es war nie die berufliche Aufgabe des Fachreferenten, in seinem studierten Fach oder in den von ihm bibliothekarisch vertretenen Fächern zu forschen und zu lehren. Seine Situation hat sich allerdings seit der Etablierung der - koordinierten oder integrierten - Literaturversorgungssysteme an unseren Hochschulen entscheidend verändert. Es ist den verantwortlichen Bibliothekaren vielerorts nicht gelungen, die notwendige Zusammenarbeit zwischen der professionell betriebenen Bibliothek als zentraler Hochschuleinrichtung und den Wissenschaftlern der Hochschule so zu regeln, daß der Bibliothek die Beschaffungskompetenz erhalten blieb. Dies erweist sich immer mehr als schweres Versäumnis. Gelungene Zusammenarbeit kann nur entstehen, wenn die Aufgaben der an der Zusammenarbeit beteiligten Partner wechselseitig respektiert werden. Aus der Beschaffungskompetenz lassen sich nämlich weitgehende Eingriffsrechte in die Bibliotheksverwaltung ableiten: von der Festlegung der Exemplarzahl, über den Beschaffungsweg bis zur Festlegung des Standorts, von der sachgerechten Aufstellung, bis hin zu speziellen Benutzungsbedingungen. Wer den Auftrag zur Beschaffung eines bestimmten Buches erteilt, will auch über dessen spätere Verwendung bestimmen.

Die Stellung des Fachreferenten hängt auch von der Einstellung der Bibliotheksleitung ab. Im günstigen Fall findet er deren Unterstützung bei seiner "Brückenfunktion" zwischen Bibliothek und Fachbereich, ist er zugleich Leiter einer dezentralen Fachbibliothek oder steht an der Spitze eines fachlich ausgerichteten Buchbearbeitungsteams. Wenn er dagegen keinen Einfluß auf den Bestandsaufbau seiner Bibliothek hat, die Anschaffungswünsche des Lehrkörpers nicht einmal über seinen Schreibtisch gehen und sein Aufgabenbereich sich auf die Sacherschließung beschränkt, dann wird er weder innerhalb der Bibliothek noch von Seiten der Wissenschaftler als kompetenter Partner angesehen. Die Stellung des Fachreferenten - aber auch die Stellung der Hochschulbibliothek als zentraler Hochschuleinrichtung - steht und fällt mit der Beschaffungskompetenz. Sie im Hochschulbereich durchzusetzen ist eine der wichtigsten bibliothekspolitischen Aufgaben der Zukunft.

Sehen te Boekhorst und seine Mitautoren die Beschaffungskompetenz in den Hochschulbibliotheken auf seiten der Fachbereiche, so sieht Sabine Wefers10) mit der sachlichen Bestandserschließung ein weiteres traditionelles Hauptarbeitsfeld des wissenschaftlichen Bibliothekars mehr und mehr in die Kompetenz des Diplombibliothekars übergehen und begründet diese Einschätzung mit dem geringeren Arbeitsanfall infolge kooperativer Verfahren der Sacherschließung, den intimen Regelwerkskenntnissen der Diplombibliothekare und der Möglichkeiten der maschinellen Indexierung. Ein genaueres Hinsehen ergibt auch hier ein anderes Bild.

Gewiß wird ein Diplombibliothekar mit einer Fachhochschulausbildung, die auch die Verfahren inhaltlicher Erschließung von Dokumenten umfaßt, in diesem Bereich zunehmend tätig werden. Das macht den wissenschaftlichen Bibliothekar jedoch nicht entbehrlich. Zusammenarbeit ist hier angesagt. Ein kooperativ anzuwendendes Sacherschließungssystem stellt nämlich viel höhere wissenschaftliche und methodische Anforderungen als eines, das nur lokale Funktionen hat. - Das gleiche gilt übrigens auch für die formale Katalogisierung. - Denn die Indexierungs-, bzw. Klassifizierungsergebnisse sollen für alle Verbundpartner und deren wissenschaftliche Klientel akzeptabel sein. Qualitätskontrolle wird hier zum obersten Gebot. Die Entwicklung eines überregional gültigen Regelwerks der verbalen Sacherschließung, die Entwicklung eines terminologisch kontrollierten Indexierungsvokabulars beinhalten eine hohe wissenschaftliche Verantwortung. Das Vokabular muß in der Lage sein, alle wissenschaftlich relevanten Sachverhalte durch Suchbegriffe von hoher Eindeutigkeit wiederzugeben und soll sich zugleich in größtmöglichem Umfang an die wissenschaftliche Fachterminologie und an den wissenschaftlichen Fachjargon anlehnen11). Analoges gilt für eine Verbundklassifikation.

Wird das Vertrauen, das die Benutzer unserer wissenschaftlichen Bibliotheken der Qualität der Bestandserschließung entgegenbringen, enttäuscht, kann dies zu schwerwiegenden Konsequenzen für unser Bibliothekswesen führen. Die Verantwortung dafür kann nur dem wissenschaftlich ausgebildeten Bibliothekar übertragen werden. Es ist kein Zufall, daß sich sowohl für die Weiterentwicklung der RSWK, als auch für die Pflege von Verbundklassifikationen wie der RVK Fachredaktionen und Arbeitsgruppen von Fachreferenten der einzelnen Disziplinen gebildet haben. Auch die korrekte Beschreibung eines Dokumenteninhalts mit dem Vokabular der SWD bedarf angesichts deren mittlerweile erreichten Umfangs vielfach spezifischer Fachkenntnisse. Das gilt in gleichem Maß für die Anwendung einer Verbundklassifikation. Erst die Sacherschließung im Verbund bietet überhaupt die Möglichkeit, Problemfälle kompetent zu lösen, wenn ein entsprechender fachwissenschaftlich ausgebildeter Bibliothekar am Ort nicht zur Verfügung steht. Die maschinelle Indexierung von Titeldaten ist ein Erschließungsverfahren, das die intellektuelle Sacherschließung - ebenso übrigens wie die intellektuelle Formalerschließung - nicht ersetzen kann. Vielmehr ergänzen sich diese Erschließungsverfahren. Die Wahl der Erschließungsverfahren auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene ist eine bibliothekspolitische Entscheidung von großer Tragweite, bei der bibliotheksfachliche, wissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Aspekte miteinander in Einklang, bzw, gegeneinander abgewogen werden müssen. Auch diese Verantwortung kann und darf der wissenschaftliche Bibliothekar nicht delegieren.

Die Informationsvermittlung gehörte schon immer zu den Aufgaben des wissenschaftlichen Bibliothekars. Es spricht einiges dafür, daß diese Tätigkeiten im Zuge der weiteren Professionalisierung ein stärkeres Gewicht erhalten. Insofern fordern die "Zwölf Thesen" zwar nichts Neues, sie geben aber wichtige Anregungen für eine zeitgemäße und zukunftsorientierte Weiterentwicklung des Berufsbilds. Es ist vorauszusehen, daß die Arbeitsteilung weiter voranschreitet, daß die Erschließung und Vermittlung von Information sich methodisch verfeinert, in Abhängigkeit von der technischen Entwicklung wie auch der Entwicklung der Wissenschaften. Die Tätigkeitsfelder des Bibliothekars und des Dokumentars werden zusammenwachsen. Es ist daher richtig, wenn gefordert wird, diesen Tätigkeitsbereich in der Ausbildung, wie in der beruflichen Fortbildung, stärker zu berücksichtigen.

Was nun die Konkurrenz des wissenschaftlichen Bibliothekars mit dem Diplombibliothekar betrifft, so kann ein Vergleich mit der Sparte der Öffentlichen Bibliotheken für die Beurteilung hilfreich sein. Dort war der Diplombibliothekar schon immer die Berufsgruppe mit der vollen professionellen Kompetenz - auch für den Bestandsaufbau. Soweit in diesem Bereich wissenschaftliche Aufgaben anfallen - z. B. im Lektorat einer Großstadtbibliothek oder einer zentralen Fachstelle - werden sie teils von Diplombibliothekaren mit einer akademischen Zusatzqualifikation, teils aber auch von Bibliothekaren des höheren Dienstes oder von wissenschaftlichen Mitarbeitern ohne bibliothekarische Qualifikation ausgeübt. Im Bereich des wissenschaftlichen Bibliothekswesens ist der gehobene Dienst geschaffen worden, um den wissenschaftlichen Bibliothekar von "Routinetätigkeiten" zu entlasten. Darüber ist die Entwicklung längst hinweggegangen.

Heute besitzt der Diplombibliothekar, der ein dreijähriges bibliotheks- und informationswissenschaftliches Studium absolviert hat, auch im wissenschaftlichen Bibliothekswesen eine umfassende berufliche Kompetenz. Sie stößt da an eine Grenze, wo die Funktion der Bibliothek für die Wissenschaft involviert ist, also die wissenschaftliche Qualität ihres Bestandes, deren wissenschaftsadäquate Erschließung, die wissenschaftliche Fachinformation und wissenschaftsadäquate Benutzungsbedingungen. Managementaufgaben gehören sowohl zu den Aufgaben des Diplombibliothekars, wie auch des wissenschaftlichen Bibliothekars. Es gibt zahlreiche Fachbibliotheken (Werksbibliotheken, Institutsbibliotheken etc.), die von einem Diplombibliothekar für den Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken geleitet werden. Im Zuge der Professionalisierung im Berufsfeld Bibliothek haben diese Aufgaben ein zunehmendes Gewicht bekommen. Der Bereich der Bibliotheksbetriebswirtschaft muß daher auch ein stärkeres Gewicht in der Ausbildung beider Dienste erhalten.

Die Ausbildung für Tätigkeiten im Berufsfeld Bibliothek muß sich daran orientieren, daß die Bibliotheken ihre gegenwärtigen und künftigen Aufgaben erfüllen und der Gesellschaft die dringend benötigten Dienstleistungen im Bibliotheks- und Informationsbereich auch in Zukunft kompetent anbieten können. Rückgrat dafür ist die bibliotheksfachliche Kompetenz des Berufsbibliothekars. Für den wissenschaftlichen Bibliothekar hat sich der bisherige Berufszugang durchaus bewährt: eine universitäre Ausbildung in einer wissenschaftlichen Disziplin mit anschließender bibliothekarischer Ausbildung im Referendariat. Das Gewicht des theoretischen Anteils sollte hier allerdings verstärkt werden. Jedoch könnten auch andere Zugänge zu diesem Beruf geschaffen werden, etwa über ein universitäres bibliotheks- und informationswissenschaftliches Studium mit einem integrierten Studienanteil in einer weiteren Disziplin als Anwendungsfach.

Der Beamtenstatus der Bibliothekare ist eine deutsche Besonderheit, die sich wohl im Zuge der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen auf europäischer Ebene auf Dauer nicht wird halten lassen. Es macht daher wenig Sinn, sich am derzeitigen Laufbahnrecht zu orientieren, wenn es um eine zeitgemäße und zukunftsorientierte inhaltliche Weiterentwicklung unseres Berufes geht. Andererseits aber ist sozialen Institutionen wie dem Beamtenstatus und dem Laufbahnprinzip ein großes Beharrungsvermögen eigen. Innovationen sollten dies in Rechnung stellen. Dabei gilt, daß höherwertige Ämter nur für die Wahrnehmung von Aufgaben von herausgehobener Bedeutung geschaffen werden können. Wer als wissenschaftlicher Bibliothekar sein Amt als Fachreferent engagiert und erfolgreich wahrnimmt, mag sich dadurch für ein solches Beförderungsamt qualifizieren. Sein derzeitiges Amt wird dadurch jedoch nicht aufgewertet.

1) Oehling, Helmut: Wissenschaftlicher Bibliothekar 2000 - quo vadis? 12 Thesen zur Zukunft des Fachreferenten. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 247-254

2) te Boekhorst, Peter; Harald Buch, Klaus Ceynowa: "Wissenschaftlicher" Bibliothekar 2000 - Hic Rhodus, hic salta! In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S.686-693

3) Jochum, Uwe: Die Situation des höheren Dienstes. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 241-247

4) Mittlerweile wird die Diskussion fortgeführt durch: Wefers, Sabine: Thesen zur Zukunft des Fachreferenten. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 865-870 und Schibel, Wolfgang: "Fachreferent 2000" - 13 Thesen zur Differenzierung des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 1040-1047

5) zitiert nach Kirchner, Hildebert: Bibliotheks- und Dokumentationsrecht. Wiesbaden 1981. S. 75

6) FHG Baden-Württemberg §3

7) Verein Deutscher Bibliothekare. Rundschreiben 1984, H. 2, S. 10-13

8) Vollers, Hinrich; Sauppe, Eberhardt: Arbeitsplatzbewertung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst (AWBD). Berlin: Dt. Bibliotheksinst., 1997

9) ebd. S. 25

10) a.a.O. Fußn. 4, S. 867f

11) Auch für die formale Beschreibung eines Dokuments, die Bildung formaler Suchbegriffe und deren Ordnung in Katalogen gilt übrigens, daß sie das Verständnis der Bibliotheksbenutzer und insbesondere auch der wissenschaftlichen Bibliotheksbenutzer nicht aus dem Auge verlieren darf.^


Stand: 05.08.98
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