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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 98

Die Situation des höheren Dienstes

Uwe Jochum

Seit man in Nordrhein-Westfalen über die Abschaffung des Referendariats zum höheren Bibliotheksdienst nicht mehr nur nachdenkt, scheint sich eine gewisse Unsicherheit über die Zukunft des höheren Bibliotheksdienstes breit zu machen. Auf diese Unsicherheit gibt es bislang zwei publik gewordene Antworten: den Bewahrern der jetzigen Ausbildungs- und Laufbahnkonzeption, die natürlich zu Verbesserungen im Detail bereit sind, stehen die Modernisierer entgegen, die wie zuvor schon die Ausbildung zum gehobenen nun auch die Ausbildung zum höheren Dienst von der Institution Bibliothek auf einen globalen Informationsmarkt umorientiert wollen.1)

Beide Antworten stimmen darin überein, daß sie im Prinzip auf Leitungsaufgaben abstellen, und der Streit dreht sich im Grunde nur darum, welches der beiden Modelle dafür die besseren Realisierungschancen bietet. Dabei übersieht man jedoch, daß es noch eine dritte Antwort gibt, die darin liegt, daß der wissenschaftliche Bibliothekar eine aus der Wissenschaft kommende und auf sie bezogene Tätigkeit ausübt, deren Zentrum eben nicht das Leiten ist, sondern die Wissenschaft. Diese Antwort soll im Folgenden in drei Schritten erläutert werden: Zunächst werde ich kurz auf die Genese des höheren Dienstes eingehen (I), in der die Probleme, mit denen wir heute zu tun haben, bereits angelegt waren (II). Schließlich werde ich begründen, warum eine Erneuerung der Verbindung von bibliothekarischer und wissenschaftlicher Arbeit Sinn macht (III), so daß die nachfolgend abgedruckten zwölf Thesen von Helmut Oehling ihr volles Gewicht entfalten können.

I. Die Erfolgsgeschichte des höheren Dienstes

Nimmt man ältere Bibliotheksgeschichten zur Hand, dann stellt sich das Problem der Institutionalisierung des bibliothekarischen Berufs recht einfach dar: da es im 19. Jahrhundert an den von Professoren nebenamtlich geleiteten Universitätsbibliotheken zu schweren Mißständen gekommen sei, sei eine Ablösung der Professoren- durch Berufsbibliothekare notwendig gewesen, und diese Ablösung sei ab 1894 mit der Einführung einer eigenen Bibliothekslaufbahn vollzogen worden. Der Einrichtung der Laufbahn ging dabei eine Phase voraus, in der man zunächst mit der Gründung des "Zentralblattes für Bibliothekswesen" (1884) und dem Göttinger Lehrstuhl für "Bibliothekshilfswissenschaften" (1886) den höheren Dienst diskursiv absicherte, um sich danach nur noch darum kümmern zu müssen, daß die solcherart Sozialisierten auch nach außen hin geschlossen auftreten konnten. Dieses Problem löste man mit der Gründung des Vereins Deutscher Bibliothekare (VDB) im Jahre 1900.

Da der Beruf aber "von oben her" institutionalisiert worden war, tauchte alsbald das Problem der Routinetätigkeiten auf, für die man doch kaum studierte und promovierte Bibliothekare benötigte. Man löste dieses Problem durch die Einführung anderer Laufbahnen, der des gehobenen und später der des mittleren Dienstes, bei denen es immer darum ging, Routinen "nach unten" abzugeben und diese Routinen gleichzeitig in einem doppelten Sinne zu professionalisieren: sie sachgerecht ausführen zu lassen und dabei diejenigen, die für diese sachgerechte Ausführung sorgten, als feste Laufbahn zu etablieren, indem man den Zugang zum Beruf durch Prüfungen regulierte.

II. Die Problemgeschichte des höheren Dienstes

Der Erfolg einer Institutionalisierung des bibliothekarischen Berufs kostete freilich einen dreifachen Preis: einen inhaltlichen, einen institutionellen und einen laufbahntechnischen.

1. Inhalte

Die Gründung des VDB löste die Bibliothekare aus dem Philologenverband heraus, dem sie bis dahin als Sektion angehört hatten. Damit wurde nach außen hin sichtbar und symbolisch vollzogen, was den Beruf seither charakterisiert: daß für ihn nicht die Inhalte zählen, sondern die Verwaltungsaufgaben, die alleine laufbahnrelevant sind. Diese Tendenz war in der Anfangsphase noch kaum zu spüren, denn viele Bibliothekare in leitenden Positionen waren selbstverständlich habilitiert und verstanden ihren Beruf als einen wissenschaftlichen, aber das Eigengewicht des Laufbahnrechts bewirkte eine zunehmende Umstellung des Berufs auf Verwaltungsfragen. Diese Tendenz verstärkte sich Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre, als in die Bibliotheken der Managementgedanke und die EDV einzogen, die dem gelehrten Bibliothekar endgültig den Garaus machten.2)

Diese Entwicklung ist nun aber aus zwei Gründen prekär: Zum einen bedeutet die laufbahnrechtliche Festlegung der wissenschaftlichen Bibliothekare auf Verwaltungstätigkeiten, daß der eigentliche Inhalt der bibliothekarischen Arbeit, der Aufbau eines wissenschaftlichen Standards gehorchenden Bestandes, zumeist nur als lästiger Appendix der "eigentlichen" organisatorischen Arbeit mitgeschleppt wird. Damit fallen die wissenschaftlichen Bibliothekare aber als Partner der Wissenschaftler weitgehend aus und wiegen sich in der laufbahninduzierten Illusion, die gut organisierte Bereitstellung von Informationstechnik sei irgendwie forschungsfördernd.

Zum andern jedoch sehen sich die auf Verwaltungstätigkeiten kaprizierenden Bibliothekare zunehmend mit der schmerzlichen Einsicht konfrontiert, daß ihre Arbeit entweder billiger vom gehobenen Dienst oder professioneller von gelernten Managern erledigt werden kann.3) Diese Kränkung wird sich verstärken, sobald der politische und finanzielle Druck die Bibliotheken vermehrt zu Downsizing ihrer Verwaltung und Outsourcing ihrer Dienstleistungen zwingt, denn mit dem Wegfall von Abteilungen fällt auch die Leitungsstelle fort.

2 Institutionen

Die Professionalisierung des Berufs im Sinne einer Verwaltungslaufbahn wurde von Beginn an dadurch konterkariert, daß sich die Wissenschaftler in den Seminarbibliotheken exakt wieder jene nicht-professionell aber wissenschaftsadäquat geführten Bibliotheken schufen, die die Bibliothekare auf der Ebene der Zentralbibliothek gerade überwunden hatten.4) Man muß das als inverse Bewegung begreifen: dem Rückzug der Berufsbibliothekare aus der Wissenschaft und der Verdrängung der Professorenbibliothekare korrespondiert der Ausschluß der Berufsbibliothekare aus den von Wissenschaftlern dominierten Bibliotheken. Die bis heute nicht überwundene Zweischichtigkeit an vielen deutschen Bibliotheken ist daher nicht einfach ein organisatorisches Problem, das par ordre du mufti gelöst werden kann, sondern ein Problem der Bibliotheks- und Wissenschaftskultur. Als diese beiden Kulturen sich zu trennen begannen, da fiel auch das Bibliothekswesen an den Universitäten institutionell auseinander.

3. Laufbahnen

Die Professionalisierung des bibliothekarischen Berufs etablierte im Grunde von Beginn an eine Laufbahnkonkurrenz, indem einerseits die Routinen von oben nach unten weitergegeben wurden und andererseits die jeweils tiefere Laufbahn alles daransetzte, wenigstens einen Teil der attraktiveren Aufgaben der höheren Laufbahn zu erhalten.

Diese Konkurrenz ist nun aber nur darum möglich, weil der Beruf als Verwaltungsberuf konzipiert und dem Laufbahnrecht unterworfen wurde, so daß die laufbahnrechtlich gebotene Arbeitsteilung dazu zwingt, bei jeder Verwaltungstätigkeit einzuschätzen, ob sie mit etwas weniger oder mit etwas mehr Verstand erledigt werden kann. Dabei fingiert das Laufbahnrecht, man könne die Frage des Verstandhabens vorab durch Laufbahnprüfungen entscheiden, so daß sich die Verteilung der Routinen schließlich nicht aus inhaltlichen, sondern aus Laufbahngesichtspunkten ergibt, etwa so: einfache Katalogisate für den mittleren Dienst, schwierige Katalogisate für den gehobenen Dienst, ganz schwierige Katalogisate für den Abteilungsleiter höherer Dienst. Kurz: verschiedene Laufbahnen konkurrieren um ähnliche, teilweise sogar gleiche Arbeitsinhalte, die ex post erst durch das Laufbahnrecht auseinanderdividiert werden und Arbeitsvorgänge horizontal gliedern, statt sie sektoral zu trennen und dadurch eine echte Spezialisierung zu ermöglichen.

Diese verquere Form der Arbeitsteilung gerät nun aber durch drei Entwicklungen unter Druck. Zum einen nehmen die Ambitionen des gehobenen Dienstes inzwischen eine politisch gewollte feste Form an, insofern die den gehobenen Dienst ausbildenden Fachhochschulen eine Akademisierung betreiben, an deren Ende konsequenterweise das Promotionsrecht stehen wird. Gelingt das, dann wäre der jetzige höhere Dienst gleichsam mit den eigenen Waffen geschlagen, denn er könnte nicht mehr behaupten, qua akademischem Grad ein Monopol auf die höhere Laufbahn zu haben.

Zum andern wird diese Entwicklung durch die drohende Abschaffung des Referendariats zum höheren Dienst flankiert, der sich um die mit der akademischen Prüfung erworbenen Laufbahnpfründe gebracht sieht und in Zukunft auf ein Zusatzstudium verwiesen wird, nach dessen Absolvierung er u. U. mit gut ausgebildeten Fachhochschulabsolventen um knapper werdende Stellen konkurrieren muß. Bei der von der Politik immer wieder ins Spiel gebrachten Absenkung der Eingangsbesoldung kann man sich denken, wer der Gewinner bei diesem Stellenpoker sein wird.

Und schließlich darf man nicht vergessen, daß bereits heute schon an zahlreichen Bibliotheken Leitungsaufgaben faktisch durch den gehobenen Dienst wahrgenommen werden. Damit beweisen diejenigen Bibliotheken, die das ermöglichen, daß der Laufbahnkonflikt lösbar ist - zugunsten des gehobenen Dienstes.

III. Lösung

Wenn die vorliegende Analyse richtig ist, dann kann die Lösung des Problems nur darin liegen, daß der Bibliothekar im höheren Dienst sich wieder als wissenschaftlicher Bibliothekar begreift, der das Adjektiv "wissenschaftlich" ernst nimmt und die Bibliothek als wissenschaftliche Einrichtung zu positionieren hilft. Daß das alles andere als eine Illusion ist, dafür gibt es gute historische und systematische Gründe.

Erstens war in der Gründungsphase unseres Berufes keineswegs impliziert, daß die Professionalisierung zu einer Herauslösung der Bibliothekare des höheren Dienstes aus der Wissenschaft führen sollte. Vielmehr ging es darum, die wissenschaftlichen Bibliotheken in dem Sinne als wissenschaftliche Institute zu führen, wie auch die anderen Institute einer Universität geführt wurden (und werden): mit einem wissenschaftlichen Leiter an der Spitze und mit weiterem wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Personal. Man brauchte daher auch an den Bibliotheken Wissenschaftler, die als Wissenschaftler zugleich in der Verwaltung praktisch arbeiten wollten und konnten. Diese Doppelfunktion erklärt, warum zu Anfang so viele namhafte Bibliothekare ganz selbstverständlich habilitiert und sowohl in ihrer Fachwissenschaft wie in ihrer Bibliothek engagiert waren.5)

Zweitens war es gerade das Vorbild des Professorenbibliothekars Ritschl in Bonn, das den Berufsbibliothekar konturieren half. Damit ist gesetzt, daß es die Arbeit von Professorenbibliothekaren war, die den Maßstab für die professionelle Arbeit der Berufsbibliothekare abgab.6) Daß eine saubere Trennung zwischen Bibliothekaren und Wissenschaftlern möglich sei, ist daher nichts weiter als eine Illusion späterer Berufsbibliothekare, die zur Legitimation ihrer beruflichen Existenz die Mär vom schlecht arbeitenden Professorenbibliothekar erfanden. Wie unsinnig das ist, hat niemand anderer als ausgerechnet Althoff den Bibliothekaren ins Stammbuch geschrieben, als er vom Leiter der Berliner Königlichen Bibliothek drei Eigenschaften forderte: erstens (!) hervorragende Bedeutung und Stellung in der Wissenschaft, zweitens administratives Geschick und drittens technische Tüchtigkeit.7)

Das dritte Argument für eine Erneuerung der Verbindung von bibliothekarischer und wissenschaftlicher Arbeit liefert ein Blick über den Gartenzaun unserer Bibliotheken. Da sieht man dann an den höheren Schulen, in Archiven, Museen und Universitäten Räte und Oberräte aller Art arbeiten, von denen selbstverständlich genau dies verlangt wird: daß sie verwalten und zugleich wissenschaftlich arbeiten, will sagen: daß sie auch die Inhalte ihrer Arbeit kennen und sich nicht auf rein technische Fragen versteifen. Oder wer würde seine Kinder einer Schule anvertrauen, in der die Lehrer behaupteten, sie seien zwar hervorragende Pädagogen, könnten sich aber leider kaum um ihre Unterrichtsfächer kümmern?

Das vierte Argument lautet, daß es insgesamt um eine Umstellung der vom Laufbahnrecht bewirkten Arbeitsteilung auf eine sachgemäße Spezialisierung gehen muß. Ein Beispiel für eine solche Spezialisierung liefern die Krankenhäuser, an denen die Ärzte für die Behandlung der Patienten zuständig sind und außerdem wissenschaftlich forschen, offenbar in der festen Überzeugung, daß das eine dem andern nützt. Damit das Krankenhaus funktioniert, braucht es natürlich noch Pflegekräfte, Techniker, Verwaltungspersonal u. a. m., aber diese arbeiten alle in ihren sektoral klar getrennten Zuständigkeitsbereichen, die erst auf der Ebene der Gesamtleitung des Krankenhauses zusammengeführt werden. In den Bibliotheken dagegen meint man immer noch, ein Bibliothekar müsse von Datentechnik über Buchrestauration bis hin zum Haushaltsrecht alles beherrschen, was die Organisation Bibliothek zu einer Bibliothek macht, könne also ungestraft alle sektoralen Grenzen ignorieren und gleichsam Arzt, Pfleger, Hausmeister und Manager in einer Person sein. Tatsächlich kann man aber immer nur eines sein, und daß die Bibliotheken die Inseln eines seligen Generalistentums darstellten, die das moderne Spezialistentum überwunden hätten, ist ja nicht die geringste bibliothekarische Illusion, die eine echte Modernisierung der Bibliotheken zäh verhindert.8)

Daß es wirklich anders geht, zeigt ein Blick auf das bibliothekarische Wunderland USA, wo wissenschaftliche Bibliothekare vielfach als Professoren eingestuft sind, von denen man natürlich verlangt, daß ihre bibliothekarische Arbeit auch das Forschen, Unterrichten und Veröffentlichen umfaßt.

1) Dazu Jochum, Uwe: Bibliothekswissenschaft und bibliothekarische Ausbildung. In: MB NRW 45 (1995), S. 131-144.

2) Zu diesem epochalen Bruch Jochum, Uwe: Die Aufgabe des höheren Dienstes. In: Der Ort der Bücher. Festschrift für Joachim Stoltzenburg. Hrsg. von Uwe Jochum. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1996, S. 69-79.

3) Schon vor Jahren hat Hartwig Lohse darauf hingewiesen, daß echte Managementaufgaben in den Bibliotheken doch wohl nur für den leitenden Bibliotheksdirektor und seinen Stellvertreter anfallen. Siehe Lohse, Hartwig: Tagesanforderungen wissenschaftlicher Bibliotheken in kritischer Diskussion. Ausgewählte Schriften 1960-1990. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 1991, S. 345 u. 357.

4) Siehe Jochum, Uwe: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart: Reclam, 1993, S. 134 f.

5) Für das Beispiel der Germanistik hat das untersucht Lohse, Gerhart: Die Beteiligung von Bibliothekaren an der Institutionalisierung des Universitätsfaches Germanistik in Deutschland. In: MB NRW 45 (1995), S. 24-34.

6) Dazu Jochum, Uwe: Das Opfer der Schrift. Zur beruflichen Identität der Bibliothekare im 19. Jahrhundert. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 21 (1996), S. 166-184

7) Siehe Erman, Wilhelm: Erinnerungen. Köln [u.a.]: Böhlau, 1994, S. 251.

8) Jochum, Uwe: Die vergebliche Suche nach dem Allgemeinen: 100 Jahre Höherer Dienst. In: Arbeitsfeld Bibliothek. Hrsg. von Hartwig Lohse. Frankfurt am Main: Klostermann, 1994, S. 39-50.


Stand: 11.02.98
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