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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 8, 98

Abgrenzung oder Partnerschaft?

Anmerkungen aus der Praxis zur Erwerbungskooperation in universitären Bibliothekssystemen

Ralf Brugbauer und Dirk Barth

In seinem Beitrag "Fachreferat 2000". 13 Thesen zur Differenzierung des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes1) befürchtet Wolfgang Schibel, daß der Bestandsaufbau universitärer Bibliotheken zunehmend den Professoren überlassen wird. Er nimmt damit Bezug auf entsprechende argumentative Positionen von te Boekhorst, Buch und Ceynowa2) und folgert, es wäre "ein historischer Irrtum gewesen, daß vor gut 100 Jahren der Bestandsaufbau von den Professoren auf die bibliothekarische Profession übertragen"3) wurde.

Schibels Beitrag verdient eine differenzierte Behandlung, etwa im Hinblick auf das Denkmodell des "hochspezialisierten regionalen Fachreferenten"4). Einen sofortigen, spontanen Widerspruch fordert jedoch die angesprochene Aussage heraus, die er im Zusammenhang seiner 13. These macht und die ein allzu plakatives, schwarzweißes Bild vom Bestandsaufbau in universitären Bibliothekssystemen zeichnet; denn weder sind Bibliothekare nur "uneigennützige Kenner" (= good boys), noch Professoren nur "eigensüchtige Spezialisten" (= bad boys), die "weder willens noch imstande sind, das zeitraubende, entsagungsvolle Geschäft einer umsichtigen und weitblickenden Literaturauswahl zu betreiben" 5).

In einer Zeit, in der es mehr denn je auf Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Bibliothekaren6) ankommt, ist eine solche polarisierende Argumentation verhängnisvoll und in ihrer Umsetzung geradezu selbstmörderisch zumindest für die Entwicklung der Bibliotheken und damit des bibliothekarischen Berufs in zweischichtigen Bibliothekssystemen alter Universitäten.

Das Bibliothekssystem der Philipps-Universität Marburg, aus dem nachfolgend über praktische Erfahrungen berichtet wird,7) befindet sich im Übergang von der klassischen Zweischichtigkeit zu einer Form der Einschichtigkeit, die unter anderem deshalb "kooperativ" genannt wird, weil sie den Fachbereichen/Professoren einen maßgeblichen Einfluß auf den Bestandsaufbau einräumt,8) ohne daß bislang die von Schibel prognostizierten Konsequenzen eintraten und "eigensüchtige Spezialisten und ihre ahnungslosen Hilfskräfte"9) System und Kontinuität des Bibliothekswesens gefährdeten.

Auf Grund der knappen finanziellen Mittel für den Literaturerwerb bei gleichzeitig extremen Preissteigerungen insbesondere bei naturwissenschaftlichen Zeitschriften war in verschiedenen Studienfächern der Marburger Philipps-Universität ein Nebeneinander, d. h. die Sammlung und Bereitstellung der dringend benötigten wissenschaftlichen Literatur in der Universitätsbibliothek und in den Fachbereichs- bzw. Institutsbibliotheken nicht mehr finanzierbar. Insofern lag es nahe, die vorhandenen Literaturmittel der ehemals "konkurrierenden" Einrichtungen in gemeinsam betriebenen Bibliotheken zusammenzuführen und im Konsens zu verausgaben, um das Literaturangebot - in den Naturwissenschaften natürlich in erster Linie den Zeitschriftenbestand - zu erweitern.

Dieser Ansatz führte Mitte der achtziger Jahre zu der Idee, Fachbereichs- und Institutsbibliotheken als Teilbibliotheken der Universitätsbibliothek in der Weise kooperativ weiterzuführen, daß die UB für die Bibliotheksverwaltung verantwortlich ist, der Fachbereich/die Professoren maßgeblich den Bestandsaufbau bestimmt/bestimmen. Diese Arbeitsteilung hat sich im vergangenen Jahrzehnt in der Praxis bewährt. Mittlerweile bestehen neun Teilbibliotheken der UB im Bibliothekssystem der Universität Marburg, und zwar nicht mehr nur in den naturwissenschaftlichen Fachbereichen und der Medizin, sondern auch in den gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Fachbereichen.

Rechtliche Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen und der UB sind bilaterale Vereinbarungen, in denen Grundsätze und Details des gemeinsamen Vorgehens geregelt werden. Diese Vereinbarungen legen fest, daß der jeweils zuständige Fachreferent der UB als Leiter der Teilbibliothek eingesetzt wird. Auf diese Weise hat diese nun zur UB gehörende dezentrale bibliothekarische Einrichtung zumeist erstmalig in ihrer Geschichte ein professionelles bibliothekarisches Management auf der Ebene des höheren Dienstes erhalten. Dieser Vorgang bedeutet eine nicht unbeträchtliche Ausweitung des Einsatzbereichs wissenschaftlicher Bibliothekare und mithin eine deutliche Stärkung des Berufs. Zur Zeit sind sechs Fachreferenten der UB Marburg in den verschiedenen Fachbereichen als Leiter der Teilbibliotheken für die konzeptionelle und technische Entwicklung auf dem Gebiet der Literaturversorgung des jeweiligen Faches verantwortlich. Neben ihren Aufgaben in der UB wenden sie für die Betreuung jeweils einer Teilbibliothek ca. 20 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit auf.

In Marburg werden die im Haushaltsplan veranschlagten und der Universität quasi global zugewiesenen Mittel für das wissenschaftliche Schrifttum nach einem Schlüssel im Verhältnis 1 : 2 zwischen der UB und den Fachbereichen insgesamt aufgeteilt. Auf der Grundlage der Teilbibliotheksvereinbarungen werden diese den daran beteiligten Einrichtungen getrennt zugewiesenen Bibliotheksmittel wieder zusammengefaßt. Wenn also den Fachbereichen das Recht zugebilligt wird, auf die Verausgabung der Literaturmittel insgesamt Einfluß auszuüben, so kommt zum Buchetat des Fachbereichs der des Fachreferats der UB, also ca. ein Drittel der Gesamtzuweisung der Literatur für dieses Studienfach an der Universität, hinzu. Im Gegenzug nimmt der Fachreferent als Teilbibliotheksleiter die oben genannten Koordinierungsaufgaben wahr und gewährleistet einen systematischen und kontinuierlichen Bestandsaufbau beim Literaturerwerb, d. h. auch aus dem Bibliotheksetat des Fachbereichs, und das sind zwei Drittel des Gesamtetats der Universität für das jeweilige Fach.

Gesteuert bzw. koordiniert wird die Erwerbung in aller Regel durch Bibliothekskommissionen, deren Bestehen ebenfalls durch die Vereinbarungen abgesichert ist. Sie setzen sich aus Vertretern bzw. Bibliotheksbeauftragten der Abteilungen/Institute (Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter) und dem Fachreferenten als Bibliotheksleiter zusammen, welcher üblicherweise diese Kommission einberuft und ihr vorsitzt. In dieser Funktion berichtet er auch über die zurückliegenden Aktivitäten in der Bibliothek und im Fachreferat und über zukünftige Entwicklungen (neue Medien, bibliothekarische Dienstleistungen, etc.). Weiterhin steht er den Kommissionsmitgliedern nicht nur für Auskünfte und Anregungen, sowohl den Bestandsaufbau in der Bibliothek als auch ganz allgemein die Literaturversorgung im Fachbereich betreffend, zur Verfügung. Schließlich gehört zu seinen Aufgaben insbesondere auch die Haushaltsführung und damit die laufende Finanzberichterstattung. Damit verbunden ist natürlich auch die Ausgabeplanung für das Haushaltsjahr, sobald die Zuweisungen der Universitätsverwaltung für Bibliotheksmittel bekannt werden. Hierdurch wird der Rahmen für den Literaturerwerb festgelegt, und auf seiner Grundlage werden Anregungen zum Bestandsaufbau (Neuerwerbs- und Abbestellungskoordinierung) erörtert.

Durch die genannten Bestimmungen der Vereinbarungen über die Bildung von Teilbibliotheken sowie durch die Zusammensetzung der Bibliothekskommissionen erhalten die Fachbereiche einen beträchtlichen Einfluß auf den Bestandsaufbau des jeweiligen Wissenschaftsfaches an der Universität. Gleichzeitig erhält andererseits der jeweilige Fachreferent der UB und Leiter der Teilbibliothek faktisch erhebliche Erwerbungskompetenzen, und zwar nicht nur dadurch, daß er nunmehr einen um zwei Drittel gewachsenen Erwerbungsetat "durchzusetzen" hat, sondern auch dadurch, daß er, dem Wortlaut der Vereinbarungen entsprechend,

Zudem ist er schließlich in der Lage, gezielt die Interessen der Studierenden beim Bestandsaufbau zu unterstützen.

Insgesamt konnte die Literaturversorgung der entsprechenden Wissenschaftsfächer der Philipps-Universität durch die Gründung der Teilbibliotheken deutlich verbessert werden. Voraussetzung dafür ist eine enge und vertrauensvolle Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Bibliothekaren im Sinne der o.g. funktionellen Arbeitsteilung.

Die Einbindung des wissenschaftlichen Bibliothekars als Fachreferent in die UB einerseits und als Teilbibliotheksleiter in den Fachbereich mit den beschriebenen Funktionen andererseits sowie die in ihm verwirklichte Personalunion von fachwissenschaftlich vorgebildetem Gesprächspartner der Wissenschaftler und ausgebildetem Experten für Bibliotheksverwaltung und information management haben ihm als "Pendler zwischen zwei Welten" eine gewisse Selbständigkeit und Handlungsfreiheit eingebracht. Auf diese Weise ist er eher auf dem Weg zum "bibliothekarischen Alleskönner" als zum bloßen "Bibliotheksagenten der Professoren", wie Schibel es formuliert10). Entscheidend hat dazu beigetragen, daß er in diesen Funktionen von der Professorenschaft akzeptiert wird, und zwar nicht nur, weil er ihr Belastungen abgenommen, sondern sich auch als Dienstleister und Informationszulieferer eine gewisse Unentbehrlichkeit erworben hat.

Es war sicher kein historischer Irrtum, wie Schibel angesichts der Argumentation von te Boekhorst, Buch und Ceynowa befürchtet, daß vor 100 Jahren der Bestandsaufbau auf die bibliothekarische Profession übertragen wurde. Im Gegenteil: Die Tatsache, daß ein eigenständiger Beruf aufgebaut und in Ausbildung und Berufsausübung ausgebaut und gefestigt wurde, ist vielmehr die Voraussetzung dafür, daß die wissenschaftlichen Bibliothekare sich heute selbstbewußt und ohne Berührungsängste einem vor allem durch die rasante Entwicklung der Informationstechnologie erweiterten und grundlegend veränderten Berufsfeld stellen können. In universitären Bibliothekssystemen können sie sich dabei auf diejenigen Aufgaben konzentrieren, die ihren eigenen bibliotheksfachlichen Qualifikationen entsprechen, und die Wissenschaft ebenso wie das Formulieren der inhaltlichen Anforderungen der Wissenschaft an die Bibliotheken und anderen Informationseinrichtungen - "maßgeblicher Einfluß auf die Erwerbungspolitik" - den Wissenschaftlern überlassen. Was sie allerdings erbringen müssen, ist, auf diese Anforderungen mit hochwertigen und kundenorientierten Dienstleistungen zu reagieren. Zu einer solchen sinnvollen Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern und Bibliothekaren gibt es heute keine Alternative. Eine solche Partnerschaft kommt nicht nur den Wissenschaftlern entgegen, sondern stärkt auch den bibliothekarischen Beruf.

1) Wolfgang Schibel: "Fachreferat 2000". 13 Thesen zur Differenzierung des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998) S.1040-1047.

2) Peter te Boekhorst, Harald Buch, Klaus Ceynowa: "Wissenschaftlicher" Bibliothekar 2000 - Hic Rhodos, hic salta! In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998) S.686 - 693.

3) Schibel: a.a.O. S.1046.

4) Ebda S.1045.

5) Ebda S.1046.

6) Die Begriffe Bibliothekar, Fachreferent, Bibliotheksleiter u. a. werden generisch verwendet, um eine bessere Lesbarkeit herzustellen. Somit sind auch alle Bibliothekarinnen, Fachreferentinnen und Bibliotheksleiterinnen eingeschlossen.

7) Die nachfolgenden Ausführungen entstammen einem Vortrag über den Einsatz von wissenschaftlichen Bibliothekaren in universitären Bibliothekssystemen, der am 16. 6. 1998 an der Universitäts- und Landesbibliothek Halle gehalten wurde. - Zum gesamten Fragenkomplex vgl. auch Dirk Barth und Ralf Brugbauer: Zwischen Fachreferat, Management und Informationstechnologie. Zur Berufswirklichkeit des wissenschaftlichen Dienstes in universitären Bibliothekssystemen. In: ABI-Technik 18 (1998) S.122-130.

8) Vgl. Dirk Barth: Vom zweischichtigen Bibliothekssystem zur kooperativen Einschichtigkeit. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 44 (1997), S. 495 - 522.

9) Schibel: a.a.O. S.1046.

10) Schibel, a.a.O. S.1046.


Stand: 05.08.98
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