gaukelt hat. Ich weiß, dass ich in die Bibliothek ge-
gangen bin, um abzuschalten, um eine Ge-
schichte zu erleben, die nicht meine
eigene ist. Ich erinnere mich
an die Augen des
Mannes, in
dessen Woh-
nung
ich
gegangen bin.
Dass sie plötzlich
dunkel wurden und
kalt. Dieses Bild ist neu.
In meinem Traum war es nicht
vorhanden.
Jetzt liege ich wieder in der Biblio-
thek. Ich weiß es, ich spüre den Liegestuhl
unter mir und mein Handtuch an meinen
verkrampften Händen. Ich versuche, sie zu entspannen. der
Traum ist jetzt vorbei, ich kann aufwachen.
Meine Hände bewegen sich nicht. Warum ist es so dunkel
hier? Erst dann merke ich, dass es an mir liegt, ich kann meine
Augen nicht öfnen. Nur sehr difus nehme ich Licht wahr, das
orange durch meine geschlossenen Lider dringt.
Langsam fange ich an, panisch zu werden. Was ist mit mir pas-
siert? Wieso war die Geschichte nicht wie immer, man taucht
ein und wieder auf, lässt die beendete Geschichte hinter sich
wie ein zugeklapptes Buch und ist in der Wirklichkeit zurück?
Der helle Punkt auf meinen Augenlidern, den ich nur als
oranges Glühen wahrnehme, bewegt sich. „Ihre Geschichte ist
längst vorbei“, höre ich die Bibliothekarin sagen. Erleichtert
entspanne ich mich. Was auch immer mit mir geschehen ist,
Hilfe ist unterwegs. Sie wird wissen, was mit mir geschehen ist.
Doch an meiner Lage ändert sich nichts. Ich spüre Finger, die
mich kurz betasten, und dann nichts mehr. Stattdessen wird
mein Stuhl hochgehoben; von schweigenden Menschen durch
eine stumme Bibliothek getragen. Ich spüre die Stille der Bü-
cher, die Ruhe der unerzählten Geschichten auf mir lasten.
Dann plötzlich das Atmen anderer Menschen. Ruhig, als
schliefen sie. Zugleich spüre ich ihre Unruhe, spüre sie unter
meiner eigenen Haut, weil es meine eigene Unruhe ist. Sie
können nicht wieder aufwachen, sind in ihrer Geschichte ge-
blieben. Genau wie ich.
Die Männer straften ihre Schultern unmerklich, als sie den
Raum mit den lebenden Leichen hinter sich ließen. Sie nann-
ten sie so, weil ihr Körper alle Vitalfunktionen zeigte, ohne
dass jedoch ein Funken von bewusstem Leben an ihnen zu
erkennen war. Sie bewegten sich nie und noch nie war einer
von ihnen wieder aufgewacht.
Sie ahnten nicht, dass hinter ihnen verzweifelt gelauscht wur-
de, wie ihre Schritte verstummten.
„Schade um sie“, sagte einer zum anderen. „Sie war eine so
lebenslustige Frau.“
Der andere nickte nur. Es kam nicht besonders oft vor, dass
Träumer in ihren Träumen zurückblieben, aber es geschah.
Und es gab nichts, was man dann für sie
tun konnte.
Die Bibliothekarin erwartete
sie mit strenger Miene am
Eingang des Lesesaals.
Sie nickte ihnen zu.
„Kein Wort zu
niemandem!“,
zischte sie.
Die Männer lächelten
und zuckten die Schultern. Wie
alle Traumverkäufer war die Biblio-
thekarin darauf bedacht, dass niemand von
den lebenden Leichen erfuhr, die in den Hinter-
zimmern der Bibliotheken lagen. Als hätten sich Süchtige
jemals von der Zahl Drogentoter abschrecken lassen.
An der Lesetheke stand eine junge Frau, blond und mollig.
Sie hielt die Hülle eines Traums in ihren Händen und wartete
auf die Bibliothekarin, die ihr mit einem freundlichen Lächeln
entgegenkam. Sie warnte vor keinem Risiko. Das Hinterzim-
mer war aus ihren Gedanken verschwunden. Sie ließ sich von
der jungen Träumerin zu einem Liegestuhl führen und setzte
ihr die Injektion.
Gebannt sah sie zu, wie die hellrosa Flüssigkeit in die Vene der
Frau foss, wie deren Augen sich schlossen und das Gesicht
einen tief entspannten Ausdruck annahm. Die Bibliotheksnut-
zerin hatte sich eine Geschichte ausgesucht, die in der freien
Natur spielte und ein klein wenig romantisch war. Und wie
für alles andere gab es auch hierfür die richtige Mischung
aus Hormonen, Psychopharmaka und Stimulantien, die die
Elemente der Geschichte mit den eigenen Erinnerungen der
Menschen verwoben.
Als die junge Frau ganz in ihrer Geschichte versunken war,
wandte ihr die Bibliothekarin den Rücken zu und kehrte an
ihren Platz zurück.
Die junge Träumerin erwacht am Rand eines herbstlichen
Waldes. Der Himmel ist leuchtend rot vom Licht der unterge-
henden Sonne, und der Mann, der neben ihr steht, hat strah-
lendblaue Augen.
„Hast du dir die Sonne lang genug angesehen?“ fragt er. Auf
seinem Hemd sind Kafeefecken.
ANNE SPITZNER
Die junge Autorin (Jahrgang 1988) hat schon mit 16 Jahren
ihr erstes Buch veröffentlicht, einen Fantasyroman. Neben
ihrem Biologiestudium schrieb und veröffentlichte sie weiter,
von Krimis über Jugendromane bis hin zur Lyrik. Dennoch
will sie nach eigener Aussage die Schriftstellerei nur als
Hobby betreiben.
nichts anderes erwartet in einer Liebesgeschichte. Klischees
bleiben immer die gleichen.
Ich folge der langen Straße, die in rosarotes Licht getaucht ist.
Im Westen geht gerade die Sonne unter. Über meine Schulter
werfe ich einen Blick zurück, sehe aber nur Hausdächer, de-
ren Ränder rot strahlen, weil sie das Licht der Sonne brechen.
Als ich mich umdrehe, werde ich von einem Mann angerem-
pelt. „Hey, pass doch auf!“ sagt er. Seine Stimme kommt mir
bekannt vor.
Anstatt zurückzufauchen, dass er ja schließlich auch Augen
im Kopf habe, bekomme ich nur
eine kleinlautes „Sorry“ heraus.
Irgendetwas an dieser Stimme ...
Ich muss meinen Kopf ein Stück
weit in den Nacken legen, um ihn
ansehen zu können. Er hat eine
Hand über die strahlendblauen
Augen gelegt, weil ihn die unter-
gehende Sonne blendet, und sieht
mich ebenfalls an.
Ohne dass ich es verhindern
kann, betrachte ich ihn wie ein
Teenager von Kopf bis Fuß.
Hofentlich wirke ich nicht zu
abschätzend, denke ich. Angetan
wandert mein Blick über sein Ge-
sicht, die breiten Schultern bis hin zu den gebräunten, großen
Händen, die einen Kafeebecher halten – der nur noch halb
voll ist. Der Rest des braunen Getränks ist über sein helles
Hemd verteilt.
Ich laufe knallrot an. Hastig beginne ich, Entschuldigungen
zu stottern und in dem Chaos meiner Tasche nach etwas zu
suchen, mit dem ich das Malheur geringfügig weniger schlimm
aussehen lassen könnte, doch ich fnde rein gar nichts. Nicht
einmal ein Taschentuch.
Er fängt an zu lachen. „Mach dir keine Gedanken um das
Hemd“, sagt er. „Aber den Kafee – den, fnde ich, solltest du
mir ersetzen.“
Ich begreife erst im zweiten Moment, was das heißen soll. Ich
habe schon wieder vergessen, dass ich mich in einer speziell
auf mich zugeschnittenen Liebesgeschichte befnde und nicht
in der Wirklichkeit. „Klar“, sage ich dann. Ich kriege es kaum
raus.
Woher kenne ich nur seine Stimme? Ich bin mir sicher, dass
ich mich an ihn erinnern würde, wenn ich ihn schon einmal
gesehen hätte, aber an seinem Äußeren kommt mir nichts
bekannt vor. Nur seine Stimme weckt irgendetwas in mir.
Ich werde mir nicht die Blöße geben, ihn danach zu fragen.
Nur fünf Minuten später ist tatsächlich passiert, wofür alle
anderen Frauen in meiner Nähe ihren rechten Arm geben
würden. Ich sitze einem Mann gegenüber, der aussieht wie
ein Filmstar, und trinke Kafee mit ihm! Meine Hand zittert,
wenn ich die Tasse zum Mund hebe, und ich kann nur hof-
fen, dass er mein Benehmen nicht komplett dämlich fndet.
Ich fühle mich seltsam befangen, aber entgegen meinen
Befürchtungen hält das nur einige Minuten lang an. Danach
reden wir, als würden wir uns schon ewig kennen.
Wir sitzen in dem Café, bis es wirklich, wirklich dunkel ist,
und es scheint ganz selbstverständlich, dass er vorschlägt, ich
könnte ihn begleiten, wenn ich denn wolle. Und ob ich will. Ich
habe ganz vergessen, dass ich mich in einem romantischen zu-
sammengemixten Traum befnde, und eine solche Gelegenheit
bietet sich womöglich nur einmal im Leben.
Er wohnt gar nicht weit entfernt. Ein großes, rot gestrichenes
Haus ist es, vor dem er schließlich
stehen bleibt und seine Schlüssel
zückt.
Ich folge ihm die schmalen Trep-
penstufen hinauf. Es ist angenehm
kühl hier, doch es riecht ein wenig
mufg. Mir läuft ein kalter Schauer
über den Rücken, als mir bewusst
wird, dass ich im Begrif bin, ei-
nem Mann in seine Wohnung zu
folgen, den ich noch nicht einmal
nach seinem Namen gefragt habe.
Eine Verhaltensweise, vor der ich
schon so oft gewarnt wurde – und
gewarnt habe.
Sein Nachname steht auf dem
Klingelschild. Als ich ihn lese, tue ich meine Ängste als irratio-
nal ab. Von gefährlichen Irren liest man doch höchstens in der
Zeitung.
Er öfnet seine Wohnungstür und huscht hindurch. „Entschul-
dige, aber ich wusste ja nicht, dass ich mit Besuch wiederkom-
men würde“, lacht er und deutet auf das Durcheinander in der
Wohnung, die aussieht, als sei hier gerade eingebrochen worden.
Ich lache ebenfalls. Zum Glück sieht er nicht, wie es bei
mir
zu
Hause aussieht.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragt er aus einem Raum, der die
Küche sein könnte. Ich rufe ein Nein zurück und lasse mich auf
seine Couch plumpsen, schubse ein Hemd zur Seiteund nehme
mir vor, die ganze Situation einfach auf mich zukommen zu
lassen.
Trotzdem ist mein Lachen nervös, als er aus der Küche kommt.
Er dagegen sieht aus, als würde er den ganzen Tag nichts anderes
machen, als wildfremde Frauen auf seiner Couch zu bewirten.
Es ist mir mehr als recht, dass er sich neben mich setzt, anstatt
mir gegenüber. Als er den Arm um mich legt, zucke ich nicht
zurück. Ich schließe die Augen und spüre durch die Wärme, die
er ausstrahlt, dass sein Gesicht immer näher kommt.
Doch plötzlich ist da Kälte. Statt des Kusses, den ich er-
wartet habe, spüre ich einen brennenden Schmerz an mei-
nem Hals, direkt unterhalb meines linken Ohrs, und es wird
schwarz um mich.
Die Dunkelheit bleibt. Das Bewusstsein für den Traum schwindet.
Ich weiß wieder, wer ich bin, dass ich keineswegs das blonde,
elfenhafte Wesen bin, das mein Traum mir gerade noch vorge-
Die Bibliothekarin
erwartete sie mit
strenger Miene am Ein-
gang des Lesesaals.
„Kein Wort zu nieman-
dem!“, zischte sie.
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