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LEKTÜRE MIT
NEBENWIRKUNGEN
Das Stichwort „Bibliothek 3.000“ und die Bitte nach einem
Beitrag für das Jubiläumsmagazin. Diesmal: Eine Kurzgeschichte
der Schriftstellerin Anne Spitzner über eine Bibliothek,
in der Geschichten intravenös verabreicht werden.
ILLUSTRATIONEN: ANDREA RUHLAND
Der weite Raum weckt in mir das Gefühl von Verlorenheit.
Es ist dunkel hier. Ich scheine die einzige zu sein, die sich
zwischen den großen Regalen hin und her bewegt.
Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass in Lücken zwi-
schen den Regalen viele bequeme Liegestühle stehen, auf de-
nen Menschen sitzen und liegen, die Augen leer, nach innen
gerichtet. Ihre Gesichter spiegeln alle möglichen Gefühle,
von Verblüfung über Angst bis hin zu Ekstase.
Ich fnde meinen Weg zu meinem Lieblingsplatz, einem Stuhl
ganz hinten in der Bibliothek. Die Plätze links und rechts von
mir sind leer. Ich breite meine mitgebrachte Decke über die
Lehne, um mir den Platz zu sichern, und gehe dann die Regale
entlang, auf der Suche nach meiner heutigen Geschichte.
Meistens, wenn ich hier bin, lasse ich mich spontan von einer
Idee einfangen. Aber heute funktioniert es nicht. Den ganzen
Tag bin ich schon in dieser merkwürdigen Stimmung, habe
auf nichts Lust, fange tausend Sachen gleichzeitig an und
bringe keine davon zu Ende.
Was soll es also heute sein? Kurz entschlossen kneife ich mei-
ne Augen zu, gehe zwei Schritte nach vorn und strecke die
Hand nach einem der Regale aus.
Die Geschichte, auf die ich deute, würde mir unter normalen
Umständen wahrscheinlich nicht gefallen. Aber ich habe es
mir vorgenommen, ich werde heute wenigstens eine Sache
durchziehen, und wenn es der Besuch in der Traumbiblio-
thek ist. Also ziehe ich sie aus dem Regal und gehe damit zur
Bibliothekarin. Sie lächelt mich an und hebt den Deckel von
der Geschichte, die ich mir – mehr oder weniger – ausgesucht
habe. „Heute etwas Romantisches für Sie?“
Ich zucke mit den Schultern. „Muss auch mal sein.“ Ich weiß
genau, dass sie mich jetzt für eine dieser vertrockneten ältli-
chen Frauen hält, die ihren eigenen Traumprinzen verpasst
haben und ihn deswegen in romantischen Geschichten an-
schmachten müssen. Ich bemühe mich, so zu tun, als sei es
mir egal, aber ich täusche nicht einmal mich selbst.
Trotzdem tappe ich der Bibliothekarin voraus zu dem Platz,
den ich mir vorhin ausgesucht habe, lege mich auf das Hand-
tuch und schließe die Augen. Den Rest erledigt sie. Ganz
kurz spüre ich ein Pieksen in meiner linken Armbeuge, wo
sie mir wie immer die Spritze setzt. Für einen Moment fühlt
es sich wie das Kribbeln eines Eiswürfels unter der Haut an,
als die Geschichte in mein Blut fießt. Als sie weiter durch
meine Adern gepumpt wird, spüre ich sie schon nicht mehr.
Meine Muskeln lockern sich, die Unzufriedenheit, die ich
heute schon den ganzen Tag spüre, verblasst. Ich verschwinde
in der Geschichte. Die Geschichte wird in mir geschrieben.
Ich
bin
die Geschichte.
Plötzlich stehe ich auf einer belebten Straße. Ich habe mich
verändert, bin schlank und blond geworden; ich habe
g
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