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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 5, 97

Die Moskauer Ushinskij-Bibliothek im Sog der Reformprozesse


Heinz Bartel

"Ushinka" wird sie von vielen in der Kurzform genannt. Im vergangenen Jahr konnte sie auf 70 Jahre ihres Bestehens zurückblicken. Sie hat in den zurückliegenden Jahrzehnten allen politischen und sozioökonomischen Erschütterungen standgehalten und ihren Service für einen unglaublich breiten Benutzerkreis aufrechterhalten. Dies ist zweifellos auch ein Verdienst des engagierten Personals, das nie aufgab. Gemeint ist die Staatliche Wissenschaftliche Pädagogische Bibliothek "K. D. Ushinskij" (GNPB) der Russischen Akademie für Bildung (RAB) im Herzen Moskaus, nur wenige Schritte von der berühmten Tretjakow-Gemäldegalerie entfernt. Das ganze Viertel rund um die Bibliothek vermittelt nachhaltige Eindrücke russischer Geschichte und religiöser Traditionen aus vergangenen Jahrhunderten. Auch die "Ushinka" selbst befindet sich in einem historischen Gebäudekomplex mit reich verzierten Außenfassaden, in dem einst der Fürst Jusupov mit Familie und Gefolge residierte.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1990 ließen politische Instabilität und wirtschaftliche Schwächung bei der Direktion der Bibliothek keine illusionären Vorstellungen über großzügige Finanzierung "von oben" aufkommen. Wie schon so oft mußte man sich auf die eigenen Kräfte verlassen: neue Ideen, kreative Ansätze entwickeln, attraktive Angebote unterbreiten, langjährige internationale Kontakte auf ihre Fortsetzungsfähigkeit prüfen und weitere anbahnen. Zugleich galt es, die Außenrepräsentation zu verbessern und Fortbildung des Bibliothekspersonals zu verstärken, um nur einige Aspekte unter vielen anderen zu nennen. Aber leichter gesagt als getan. Während sich in anderen Bibliotheken Sponsoren aus dem westlichen Ausland wechselseitig die Türklinke in die Hand gaben, blieb die Palette der Möglichkeiten für die Ushinka ziemlich klein. So konzentrierte sich die Bibliotheksleitung darauf, die vom Direktor der Einrichtung, Boris N. Sizov, im Jahre 1989 begonnene Automatisierung ("Computerisierung" mit lokaler Vernetzung) weiterzuführen und zu verstärken. Zu diesem Zwecke wurde der "Marketing-Sektor" geschaffen, eine kleine Unterabteilung in der 13 Abteilungen umfassenden Bibliothek, die anläßlich der UNESCO-Konferenz "Bildung und Informatik" (Juli 1996) ein weiteres Mal Gelegenheit hatte, in- und ausländischen Besuchern gedruckte und elektronische Produkte der Ushinka anzubieten. Außerdem wurden auf dem Grundstücksgelände der Ushinka sowie in einem Seitenflügel der Bibliothek sogenannte "Wirtschaftsteile" etabliert: zwei Restaurants, ein Friseursalon, ein Kopierraum und ein Souvenirladen. Zumindest die Restaurantidee zahlt sich aus, weil nach dem Besuch der Tretjakow-Galerie müde und hungrig gewordene Touristen alsbald nach einem gepflegten Platz der Erholung mit kulinarischem Angebot Ausschau halten. Leider fließt auf Grund ungeklärter Besitzverhältnisse, für deren Erläuterung hier nicht der Platz ist, nur ein bescheidener Teil des Gewinns in die Kassen der Ushinskij-Bibliothek. Auch die Einnahmen aus dem gelegentlichen Verkauf von "ausgesonderten" Büchern (Dubletten etc.) können die angespannte Finanzlage nicht lindern.

Boom anderer großer Moskauer Bibliotheken

Einigen anderen großen Bibliotheken in der russischen Hauptstadt geht es deutlich besser. Am auffälligsten ist der Modernisierungsschub in der Gesamtrussischen Staatlichen Bibliothek ausländischer Literatur "M. I. Rudomino" (VGBIL). Nach der Auflösung der UdSSR und der Öffnung zum Westen hat die Notwendigkeit der Vervollkommnung von Fremdsprachenkenntnissen noch zugenommen. Darauf reagierte die renommierte Bibliothek sofort mit einem breit gefächerten Angebot an Sprachkursen nach westlichen Standards in bezug auf Lehrmethoden und Unterrichtstechnologien. Heute sind Kultur- bzw. Sprachinstitute aus den USA, Japan, Großbritannien, Frankreich, der BRD und weiteren Ländern mit modernster Einrichtung vertreten. Traditionsgemäß rangieren Englisch und Deutsch, gefolgt von Französisch, an der Spitze der Nachfrage im Fremdsprachenbereich. Ausländer, die einen Russischkurs belegen möchten, sind in dieser Bibliothek bestens aufgehoben, zumal ein Nachbargebäude in absehbarer Zeit als Hotel zur Verfügung stehen wird. Auch für deutsche LehrerInnen könnte dieses Angebot ein "heißer" Tip sein.

Ähnlich positive Entwicklungen kann die "Russische Nationale Öffentliche Bibliothek für Wissenschaft und Technik" (GPNTB) vorweisen. Sie hat in enger Kooperation und mit Unterstützung von Industrieunternehmen im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf erworben. Moderne Computertechnik und wirtschaftsorientiertes Management der Bibliothek sind heute die Grundlage für aktuelle und qualitätsgerechte Informationsvermittlung auf wissenschaftlich-technischen Gebieten. Allerdings, so klagt der Leiter der Bibliothek, Dr. Andrei Zemskov, verhielten sich westliche Institutionen extrem zögerlich, wenn russische Produkte zum Kauf angeboten werden.

Vergleichbare Erfolgsmeldungen hat die Moskauer Staatliche Medizinische Bibliothek aufzuweisen. Ebenso wie die Technik sind auch Bereiche der Medizin ein Schwerpunkt internationaler Geschäftsinteressen. Finanzielle Unterstützung für diese Bibliothek kommt deshalb aus mehreren Quellen, nicht nur von den Pharma-Konzernen.

Die Ushinka - größte Fachbibliothek in der Russischen Föderation

Aber wieder zurück zur Ushinka. Die Bibliothek verfügt über einen Spezialbestand von 1,6 Mio. Bänden (Stand: Juni 1996) an historischer, theoretischer und praxisbezogener Literatur zur Pädagogik und Psychologie sowie zum Bildungswesen und zu angrenzenden Wissenschaften. Einen großen Wert stellt die Sammlung von Schulbüchern und Unterrichtsmitteln für die Mittelschulen sowie von Lehrplänen und methodischen Materialien für das Schulwesen aus der Zeit vor der Revolution und unter der Sowjetmacht dar. Die Ushinskij-Bibliothek besitzt als einzige Bibliothek eine so vollständige Schulbuchsammlung. Sie verfügt ferner über mehr als 250 Zeitschriftentitel mit pädagogischer Thematik, die den Zeitraum von 1803 bis 1917 abdecken. Etwa 500 Titel entsprechender Publikationen aus der sowjetischen Periode befinden sich ebenfalls in ihrem Besitz. Zu den Schätzen von großem historischen und kulturellen Wert gehört der Bestand an seltenen Büchern, der mehr als 4.000 Bände, darunter Raritäten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, umfaßt.

Viele Leser - wenig Geld

Die Ushinskij-Bibliothek hat gegenwärtig mehr als 30.000 Leser. Das sind überwiegend LehrerInnen und VorschulerzieherInnen, ferner wissenschaftliche Mitarbeiter auf den Gebieten Pädagogik und Psychologie, Hochschullehrer, Doktoranden, Studenten von pädagogischen Hochschulen sowie weitere Benutzergruppen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die unverminderte Bedeutung der Ushinka als Zentrum der wissenschaftlich-methodischen Unterstützung auf dem Gebiet der Pädagogik. Rußland hat auch heute noch u. a. etwa 65.000 (!) Schulbibliotheken, 5.000 Bibliotheken an pädagogischen Fachschulen und 600 Bibliotheken an großen außerschulischen Einrichtungen (ehemalige Häuser der Pioniere und Schüler). Fachspezialisten der Ushinskij-Bibliothek haben 1996 im Zuge der Realisierung des Gesetzes zum Bibliothekswesen den Entwurf einer "Konzeption für die normative Basis der Informationstätigkeit der Bibliotheken an allgemeinbildenden Lehranstalten unter den gegenwärtigen Bedingungen" ausgearbeitet. Auf Grund ihres gemeinnützigen Charakters sollte und müßte die Bibliothek eigentlich besonders gefördert werden, weil sie eine wesentliche Stütze für das Bildungswesen insgesamt im Lande darstellt. Immerhin ist sie das Allrussische Zentrum des Fernleihverkehrs in diesem Fachbereich und versorgte bisher über die Fernleihe 1.500 Organisationen in Rußland und im Ausland. Die finanziellen Engpässe haben nunmehr solche Formen angenommen, daß die Bibliothek ihre Servicefunktionen und -verpflichtungen gegenüber anderen russischen Regionen und dem Ausland auf ein Minimum reduzieren mußte. Es ist mehr als fraglich, ob der internationale Bücheraustausch, der Anfang der 90er Jahre noch mit 80 Ländern vereinbart war, auch künftig funktionieren wird. Seit Jahresmitte 1996 erhielten die rund 125 Mitarbeiter (90 Prozent davon sind Frauen) kein Gehalt mehr, und die schlechten Nachrichten vom Finanzministerium, die der Direktor; Dr. Boris N. Sizov, seinen Abteilungsleiterinnen im Juli 1996 zu übermitteln hatte, vertrösteten auf den Herbst desselben Jahres. Tatsächlich gab es dann im Oktober eine einmalige Gehaltszahlung und dabei blieb es, wie aus den im Februar 1997 eingegangenen E-mails zu erfahren war. Die entmutigende Entwicklung und der Dauerfrust haben inzwischen bewirkt, daß sich ein Teil des Personals Zweit- oder Drittjobs gesucht hat und MitarbeiterInnen mit Spezialkenntnissen (Computer- und Fremdsprachenkenntnisse) in besser bezahlte Business-Bereiche abgewandert sind.

Bemühungen um Kooperation mit dem Ausland und mit internationalen Organisationen

Seit 1983 zählt die Ushinskij-Bibliothek zu den Internationalen Depositarien der UNESCO für Literatur auf dem Gebiet der Pädagogik und des Bildungswesens. Die Spezialorganisation der UN hat auch einen großen Anteil daran, daß die Bibliothek ihre Datenbank "Pädagogik und Bildung" (25.000 Literaturnachweise/Stand Juli 1996) entwickeln konnte. Die mit UNESCO-Mitteln partiell realisierte technisch-elektronische Ausstattung mit Hard- und Software (Micro CDS ISIS Netzvariante) hat neue Bedürfnisse geweckt, jedoch stagniert der Entwicklungsprozeß gegenwärtig, weil technische Beratung fehlt, teilweise keine Handbücher existieren und kein Geld für die Anschaffung weiterer Computer vorhanden ist. Zum lokalen Netz gehören derzeit 30 Computer und 3 Server. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung der seit 1994 geführten Datenbank verlangt die Anschaffung eines Streamers zur Datensicherung sowie die Erhöhung des Ausstattungsgrades mit Computern in den "Schwerpunktabteilungen" der Bibliothek.

Der auf der Grundlage des "UNESCO: IBE Education Thesaurus" (5. Auflage, 1990) von russischer Seite in langjähriger Terminologiearbeit entwickelte zweisprachige Thesaurus (Russisch/Englisch) wird zwar als "nationaler Thesaurus" mit Hilfe der UNESCO-Software gepflegt, jedoch fehlen den verantwortlichen Kolleginnen vorerst internationale Erfahrungen, geeignete ausländische Kooperationspartner und wichtige Quellen, um konsequent inhaltlich-terminologische Präzision und Aktualität sichern sowie zusätzliche fremdsprachliche Versionen hinzufügen zu können.

Die Zusammenarbeit mit dem westlichen Ausland entwickelt sich nur schleppend, und es fehlt ihr an Kontinuität. Mit den ehemaligen Partnerinstitutionen in Mittel- und Osteuropa läuft so gut wie gar nichts, vor allem weil beiden Seiten die Mittel fehlen. Von den Auswirkungen besonders betroffen ist folglich die Erwerbungsabteilung der Ushinskij-Bibliothek. Von westlicher Seite engagieren sich am stärksten US-amerikanische Stiftungen, im Falle der Ushinka die SOROS Foundation, deren Aktivitäten in Rußland - wie bereits von Brigitte Stenzel bemerkt - nicht unumstritten sind.

Zusammenarbeit zwischen DIPF-Servicebereich und Ushinskij-Bibliothek

Hervorzuheben sind die Kooperationsbeziehungen zwischen dem Servicebereich des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main und der Ushinskij-Bibliothek. Bereits bestehende Kontakte wurden 1994 mit konkreten Maßnahmen wiederbelebt und seitdem schrittweise vertieft.

So weilte im Rahmen eines vom DIPF initiierten und von der Bibliothekarischen Auslandsstelle in Berlin geförderten Austauschprogramms die bereits an anderer Stelle erwähnte Stellvertretende Direktorin der Moskauer Bibliothek, Dr. Elena A. Pavlova, im März 1996 auf Einladung der Leiterin des DIPF-Servicebereichs, Dr. Irmgard Lankenau, zu einem vierwöchigen Studien- und Arbeitsaufenthalt im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Frau Pavlova erhielt außerdem Gelegenheit, sich im Rahmen ihres Besuchsprogramms über Ausstattung und Arbeitsabläufe in Bibliotheken sowie Informations- und Dokumentationszentren in Berlin, Bochum und Karlsruhe zu informieren. Umgekehrt arbeitete der Autor des vorliegenden Teilbeitrages im Juli 1996 in der Moskauer Partnereinrichtung.

Im Zentrum der Zusammenarbeit stehen ansonsten der Austausch von Literatur sowie in begrenztem Maße der Spezialistenaustausch und gemeinsame Terminologiearbeit. Vor allem sollen jedoch die ForscherInnen der Russischen Akademie und die des Frankfurter Instituts mit seinen deutschen Kooperationspartnern profitieren, wenn sie sich im Gastland in den entsprechenden Serviceeinrichtungen aufhalten und dort schnell, umfassend und aktuell informiert werden wollen.

Resümee

Die Aufrechterhaltung und Förderung der Ushinskij-Bibliothek, die sich als ein komplexes Informations-, Dokumentations-, Bibliotheks- und sogar Literaturvertriebszentrum an der Russischen Akademie für Bildung profilieren möchte, ist zwar in erster Linie ein russisches Anliegen, zugleich aber auch eines der GUS-Staaten und überdies sicherlich ein weltweites. Nutzer der "Kulturschätze" dieser Bibliothek sind letztendlich auch deutsche Interessenten. Außerdem hat die Ushinka eine unverzichtbare Mittlerfunktion im Hinblick auf die Beschaffung von bildungsrelevanten russischen Originaldokumenten für die Informationsvermittlung in der Bundesrepublik Deutschland. So wäre durchaus ein deutsches Förderungsprojekt in Kooperation mit der UNESCO und der Europäischen Kommission vorstellbar. Ohnehin ist die Ushinskij-Bibliothek auf Auslandsunterstützung angewiesen. Diese Unterstützung ist nicht einfach als Förderung einer Einzelinstitution zu begreifen und zu entscheiden, sondern auf Grund der Schlüsselstellung der Ushinskij-Bibliothek im gesamten Prozeß der Demokratisierung und Reform des Bildungswesens als eine weitreichende Maßnahme mit Multiplikatorenwirkung.


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