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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 5, 97

Die Öffentlichen Bibliotheken der Tschechischen Republik im Jahre 1997


Jana Sodomková

Unter dem Begriff "Öffentliche Bibliotheken" verstehen wir in der Tschechischen Republik alle diejenigen Bibliotheken, die von Städten und Gemeinden unterhalten und finanziert werden; dazu kommt eine Reihe anderer Bibliotheken, die von speziellen Institutionen (z. B. Schul-, Hochschul-, Klinikumsbibliothek, Bibliothek der Akademie der Wissenschaften) oder von privaten Trägern unterhalten werden, von denen viele auch der Öffentlichkeit zugänglich sind.

Nach den statistischen Angaben für das Jahr 1995 arbeiteten in der Tschechischen Republik 6.179 Öffentliche Bibliotheken. In dieser Zahl ist auch die Nationalbibliothek der Tschechischen Republik enthalten, die durch ihre Funktion in dem Bibliothekssystem des Landes eine besondere Rolle spielt, sowie 9 staatliche wissenschaftliche Bibliotheken, die - genauso wie die Nationalbibliothek - der direkten Leitung des Ministeriums für Kultur der Tschechischen Republik untersteht. Die staatlichen wissenschaftlichen Bibliotheken sind seit dem 1. Januar 1991 ebenfalls dem Ministerium für Kultur untergeordnet.

Ein weiteres wichtiges Element des öffentlichen Bibliothekswesens bilden die Bezirksbibliotheken, von denen es im Jahre 1995 insgesamt 56 gab, im Januar 1997 aber nur noch 34, obwohl die Tschechische Republik 74 Bezirke hat. Dieser Schrumpfungsprozeß der Bezirksbibliotheken ist auf die sogenannte "Transformation" zurückzuführen, d. h. mit der Überführung der Trägerschaft von der staatlichen auf die kommunale Ebene. Weiterhin gibt es im Netz der Öffentlichen Bibliotheken noch 711 professionell geführte Bibliotheken - zumeist im städtischen Bereich - mit 1.607 Zweigstellen und 5.400 dörflichen Bibliotheken, wo Bibliothekare/-innen nur wenige Stunden in der Woche freiwillig und gegen geringes Entgelt arbeiten. Insgesamt also gibt es in der Tschechischen Republik ca. 7.750 Öffentliche Bibliotheken. Das bedeutet, daß wir immer noch ein relativ dichtes Netz von Bibliotheken unterschiedlicher Funktion und Größenordnung haben, deren Servicequalität schwankt, was zumeist von der Möglichkeit, neue Medien zu erwerben, abhängig ist.

Das dichte und hierarchisch gegliederte Netz der Öffentlichen Bibliotheken in unserem Land entstand noch zu der Zeit der ersten Republik. Das Bibliotheksgesetz aus dem Jahre 1919 wurde für die Öffentlichen Bibliotheken konsequent realisiert: Dieses Gesetz sicherte jeder Gemeinde die Einrichtung einer Öffentlichen Bibliothek zu, was 30 Jahre später erfüllt war. Nach 1945 ist es in ziemlich kurzer Zeit gelungen, die Bibliotheken zu erneuern und die vor dem Krieg begründete Tradition fortzusetzen. Das zweite Bibliotheksgesetz aus dem Jahre 1959 verfolgte schon mit den Worten "in dem einheitlichen System der Bibliotheken" im Titel das programmatische Ziel, alle Bibliotheken zusammenzubinden, ohne Rücksicht auf ihre Unterhaltsträger und Funktionen, um auf diese Weise ein einheitliches Bibliothekssystem mit den Öffentlichen Bibliotheken als Rückgrat aufzubauen. Diese Konzeption konsequent umzusetzen ist aber nicht gelungen.

Nach dem November 1989 erwies sich 1990 als Schlüsseljahr: Es wurden zwei grundlegende Gesetze verabschiedet, die die Existenz der Öffentlichen Bibliotheken beeinflußten: Es war das Gesetz über die Gemeinde und das Gesetz über die Bezirksbehörden. Das erste hat den Gemeinden die Möglichkeit zurückgegeben, ihre eigenen Angelegenheiten einschließlich ihrer Bibliotheken selbständig zu lösen, d. h. zu entscheiden, ob die Gemeinde weiterhin Unterhaltsträger ihrer Bibliothek bleiben und diese finanzieren wird. Arme Gemeinden - und das ist die Mehrheit - dürften wohl anderen Bereichen den Vorzug geben: dem Schulwesen, den Kommunalangelegenheiten, dem öffentlichen Nahverkehr usw. Nach sieben Jahren muß man konstatieren, daß nur eine minimale Anzahl von Dorfbibliotheken geschlossen wurde, aber bei manchen anderen kam und kommt es zur Stagnation, die durch zu geringe finanzielle Mittel für die Erwerbung neuerer Literatur verursacht ist.

Das Gesetz über die Bezirksbehörden (mit zwei Novellierungen) legt fest, daß Organisationen, die sich in staatlicher Trägerschaft befinden, nach und nach in die Verwaltung der Stadt bzw. Gemeindebehörden zu überführen sind, was die Bezirksbibliotheken unmittelbar betrifft. Die Bezirksbibliothek kann man als Zentrum der Bibliotheks- und Informationsversorgung der Einwohner der gesamten Region charakterisieren. Sie dienen auch den Öffentlichen Bibliotheken des Bezirks als Kooperationszentrum. Mit einem gemeinsamen Anschaffungsetat erwerben und bearbeiten sie einen sogenannten Austauschbestand, d. h. einen Literaturbestand, über den die Dorfbibliotheken nach einer kurzen Frist ihre Bücher und damit auch den Zugang zu den Novitäten bekommen. Die Bezirksbibliotheken stellen auch ein Fachzentrum für Bibliothekare des ganzen Bezirks dar, in dem Schulungen, Beratungen, Fachvorträge veranstaltet werden, eine Handbibliothek der Fachliteratur und das Archiv des Bibliothekswesens aufgebaut werden und vor allem die Bibliotheksstatistik bearbeitet wird.

Alle diese Funktionen sind in einem Entwicklungsprozeß entstanden und waren allgemein anerkannt. Die Umwandlung der Bezirksbibliotheken zu Stadtbibliotheken bringt aber eine ganze Reihe von Problemen mit sich. Die meisten kommunalen Verwaltungen halten die Finanzmittel für diese Bibliotheken für unverhältnismäßig hoch und sind deshalb bemüht, deren überregionale Funktion auf eine bloße städtische Funktion zu verkürzen ohne jede weitere Verknüpfung mit der regionalen Funktion. Vom Standpunkt der langfristigen Entwicklung der Bibliotheken ist dieser Prozeß natürlich schädlich. Die Abteilung "Bibliothekswesen" der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik bemühte sich seit Beginn der Transformation, die sogenannten "Regionalfunktionen" der neuen Stadtbibliotheken (bzw. der ehemaligen Bezirksbibliotheken) durchzusetzen. Die Regionalfunktion soll auf Grund eines Abkommens mit der Bezirksverwaltung garantiert werden, entweder durch die Übernahme der entsprechenden Personalmittel oder durch einen festen Jahresetat für die Stadtbibliothek. Die sogenannten Regionalfunktionen wurden aus dem Zuständigkeitsbereich der Bezirksbibliothek herausgenommen und als selbständiger Funktions- und Arbeitsbereich neu bewertet, was bei den Verhandlungen der Bibliotheken mit den Behörden eine wichtige Rolle spielt, wenn es sich um die Zuteilung der finanziellen Aufwendungen für die Bezirksfunktion und der Anzahl des daran beteiligten Personals handelt. Eine Analyse der Tätigkeiten und Serviceleistungen der Bezirksbibliotheken hat gezeigt, daß die Regionalfunktionen ca. ein Drittel der Gesamtleistungen der Bezirksbibliothek umfassen, denn außer den Bibliothekaren muß man auch die anteilige Arbeitsleistung des Direktors des Verwaltungspersonals, des Fahrers (falls die Bibliothek einen Wagen besitzt) usw. hinzurechnen.

Wahrheitsgetreu muß man sagen, daß die Verhandlungen über die Beibehaltung der Regionalfunktion der Stadt- und Bezirksbibliotheken nicht einfach waren. Besonders zu Beginn des Umwandlungsprozesses hielten manche Verwaltungsbeamte die Bibliothek für eine unnütze Institution, die vorwiegend von Kindern und Rentnern benutzt wird, und als solche wurde sie behandelt.

Was für Resultate haben wir erreicht? Zum 31. Januar 1997 funktionieren von den ursprünglich 74 Bezirksbibliotheken nur noch 34, die übrigen wurden in Stadtbibliotheken umgewandelt. 20 Stadtbibliotheken erfüllen ihre regionale Funktion, 12 tun dies nicht. 5 ehemalige Bezirksbibliotheken wurden den Kulturzentren eingegliedert (eine ins Bezirks-, 4 in Stadtzentren). 3 Bezirksbibliotheken wurden funktional in Stadtbibliothek und Bezirksbibliothek gegliedert, was zwar die Regionalfunktion sicherstellt, verwaltungsmäßig aber wurden sie dem jeweiligen Bezirksmuseum zugeordnet. 2 Bezirksverwaltungen haben gerade eigene regionale Bibliothekszentren eröffnet. Wegen der Vollständigkeit muß ich hinzufügen, daß 2 Bezirksbibliotheken geschlossen wurden - die eine ohne Ersatz, bei der zweiten übernahm die Bezirksverwaltung einige Bezirksfunktionen. Die Bezirks- (Regional-)Funktion erfüllen auch 3 wissenschaftliche Staatsbibliotheken.

Die hier beschriebene Entwicklung der Umwandlung von Öffentlichen Bibliotheken zeigt, daß die Vorstellung der Bibliothekare ganz einfach und auch leicht zu realisieren ist. Die wichtigste Rolle spielen aber immer Beamte, meistens Technokraten, hinzu kommen noch interne Rivalitäten: Das Resultat ist bunt und nicht immer sinnvoll. Übrigens haben wir beschlossen, daß es wichtiger ist, die regionalen Funktionen zu bewahren, damit diese zukünftig möglichst unauffällig in die Bibliotheken zurückkehren können. Dies erscheint uns wichtiger als die Frage, wer diese Funktion an welchem Ort ausübt.

Probleme, die die Umwandlung der Bezirksbibliotheken in Stadtbibliotheken mit sich bringt, sofern überhaupt ein Minimum an regionalen Funktionen gewahrt bleibt, werden schon nach kurzer Zeit sichtbar, und zwar vornehmlich in den kleinen Dorfbibliotheken mit dem ehrenamtlichen Bibliothekspersonal, das die methodische Hilfe der professionell betriebenen Bibliotheken braucht. Diese Hilfe ist besonders wichtig bei der Erwerbung der Literatur, bei ihrer Bearbeitung, Foliierung, bei der Erstellung der Bibliotheksstatistik, bei der Verwendung von gedruckten Formularen sowie bei der Schulung des Bibliothekspersonals. Ohne diese Hilfestellungen scheitern viele Bibliotheken besonders bei der Erwerbung der neuen Literatur. Hier fehlt die Kenntnis des neu entstandenen Buchmarktes, insbesondere der kleinen Verlage, die vor allem triviale Unterhaltungsliteratur anbieten. Manche Bibliotheken haben sich in Ansammlungen von Harlekin, Rotbücherei und ähnlichen Reihen (vergleichbar mit den deutschen Lore-Romanen) verwandelt.

Aber Schluß mit dem Lamentieren. Öffentliche Bibliotheken in der Tschechischen Republik haben seit 1990 auch eine positive Entwicklung durchgemacht. Trotz aller großer Probleme bei der Aufstellung der Haushaltspläne, insbesondere bei der Prognostizierung der notwendigen Finanzmittel kam es zwar für einige Jahre nicht zu Kürzungen, aber auch nicht zu den entsprechenden Erhöhungen, obwohl die Durchschnittspreise für Bücher sich auf das sieben- bis achtfache erhöhte und der Kostenaufwand für Energie, Miete usw. erheblich gewachsen ist. Sehr schnell faßte auch die neue Technik in den Bibliotheken Fuß: Kopier-, Fax-Geräte, CD-Player usw., hauptsächlich aber die EDV, die in die Arbeitsprozesse der Bibliothek eingeführt wurde. In dem Postnovember-Zeitraum wurden für Bibliotheken neue zweckdienliche Gebäude gebaut (z.B. der Anbau der wissenschaftlichen Staatsbibliothek in Usti nad Labem, die Bezirksbibliothek in Mlade Boleslav, die Stadtbibliothek in Steti), eine Reihe von Gebäuden wurde renoviert, mit Computer-Anschlüssen versehen und in letzter Zeit auch ans Internet angeschlossen (Das Ministerium für Kultur der Tschechischen Republik hat für dieses Jahr eine Summe von 40 Millionen Kronen = ca. 2,5 Millionen DM aus dem Budget für die Entwicklung der EDV-Technik und für die Internet-Anschlüsse der Öffentlichen Bibliotheken bereitgestellt.). Zu Veränderungen ist es auch im Bewußtsein der Bibliothekare gekommen. Sie haben erkannt, daß Öffentlichkeitsarbeit dringend notwendig ist, wenn die Bibliothek etwas durchsetzen will, daß Bibliotheken neue Serviceleistungen anbieten müssen und daß sie den Unterhaltsträgern selbstbewußt als gleichwertiger Partner entgegentreten müssen. Die Öffentliche Bibliothek erfüllt eine unverzichtbare Funktion in der Literaturversorgung der Bevölkerung, die niemand anders ersetzen kann. Wo Bibliothekare und Unterhaltsträger dies begriffen haben, muß die Bevölkerung nicht befürchten, daß ihre Bibliothek geschlossen wird.

Statistische Grundangaben über die Öffentlichen Bibliotheken in der Tschechischen Republik für das Jahr 1995

Buchbestand
EinheitenLehrbücherBelletristikLehrbücherBelletristikÜbrige
insgesamtfür Erw.für Erw.für Kinderfür KinderDokumente
58.880.63614.497.76420.595.8102.014.5958.215.8874.348.129

Buchbestand
ZugangZugang ausgeschiedene
PeriodikaBücherEinheiten
94.4181.663.4561.491.658

Leser
Registrierte Leserdarunter unter 14 J.Besucher der Bibliothek insgesamt
1.428.309431.82114.363.598

Ausleihen
AusleihenLehrbücher BelletristikLehrbücherBelletristikübrigeAusleihen
insgesamtfür Erw.für Erw.für Kinderfür KinderDoku-d. period.
menteAusgaben
57.413.17517.594.81424.443.1004.101.3808.705.9051.408.25812.838.733

Weitere Angaben
Ausbildungs-RegistrierteLeihverkehrMethodischeHerausgegebene
u. Erziehungs-,Informations-BesuchePublikationen
KollektiveinheitenFachberatun-
Veranstalt.gen, Konsul-
tationen
46.743775.740163.26530.436907

AngestelltedarunterGesamtauf-darunterLohnkosten
d. BibliothekFach-wand, Nicht-Finanzmittel(in Taus. Kc)
arbeiterInvestitionenfür Erwerbung
(in Taus. Kc) (in Taus. Kc)
5.089,404.174,10951.802150.341639.197


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