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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 3, 97

Information der Kommission des DBI für Bestandserhaltung

Kriterienkatalog für bestandssichernde Maßnahmen der Bibliotheken

Hartmut Böhrenz, Yorck Haase, Harald Weigel

Auftrag zur Bestandserhaltung

Die Verpflichtung der Bibliotheken, sich für die Vermeidung zukünftiger und die Behebung bestehender Schäden an ihrem Sammelgut einzusetzen, hat sich in den letzten Jahren zu einer immer dringlicher werdenden Aufgabe entwickelt. Von den Unterhaltsträgern und Bibliotheken wird erwartet, regionale und überregionale Konzepte zu entwickeln und entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. Der hiermit vorgelegte Kriterienkatalog soll eine Hilfestellung für die Prioritätensetzung sowie für die Festlegung bestandserhaltender Maßnahmen bieten.

Bestandsschädigende Faktoren

Das Schadensbild einer Sammlung wird in erster Linie durch natürliche Alterung der Materialien, minderwertige Ausführung der Produkte, falsche Magazinierung sowie fehlende oder unzureichende Pflege bestimmt. Hinzu treten Abnutzungserscheinungen durch häufige Benutzung, unsachgemäß ausgeführte Reparatur- oder Restaurierungsarbeiten sowie Schäden, die durch nicht vorhersehbare Ereignisse wie Wassereinbruch, Brand, Schädlingsbefall usw. entstehen können.

Konventionelle Bestandserhaltung

Die Erfahrungen aus einer Zeit, als selbst bedeutende Bibliotheken noch keine eigenen Werkstätten unterhielten und sich auswärtiger Buchbindereien bedienten, führten zu der Einsicht, daß eine gesicherte und wissenschaftsnahe Betreuung der Bibliotheksbestände lediglich durch die eigene Einrichtung geleistet werden kann. Daher wurden in größeren Bibliotheken hauseigene Buchbindereien und Restaurierungswerkstätten geschaffen, die zu unverzichtbaren Einrichtungen dieser Häuser geworden sind.

Diese Werkstätten arbeiten heute nach einer allgemein anerkannten Leitlinie: Ihre buchbinderischen und restauratorischen Aktivitäten zur Bestandserhaltung orientieren sich an dem Grundsatz, daß eine Anpassung der handwerklichen Maßnahmen an die durch die wissenschaftliche Arbeit gestellten Bedürfnisse gewährleistet sein muß.

Massenkonservierung

Im Hinblick auf die fortgeschrittene Schädigung umfangreicher Bibliotheksbestände des 19. und 20. Jahrhunderts aus industriell gefertigten Papieren durch Freisetzung von Säure muß neben die handwerkliche Therapie die Massenkonservierung treten. Der Grundgedanke der Massenkonservierung ist, große Mengen an Büchern und Archivalien einer industriell betriebenen chemischen Neutralisation der Säure in den Papieren und einer zusätzlichen alkalischen Pufferung zuzuführen. Ziel ist es, die Zerfallsprozesse so zu verlangsamen, daß die Lebensdauer der Papiere bis zu mehreren hundert Jahren verlängert werden kann.

Ersatzmedien

Die in der Masse oder einzeln nicht mehr sanierbaren Objekte können durch Xerokopien sowie durch Mikrofilmmaterialien ersetzt werden. Elektronische Datenträger kommen für die Archivierung nicht in Betracht, da Aussagen über deren langfristige Haltbarkeit und Benutzbarkeit derzeit nicht möglich sind. Gleichwohl bieten Digitalisierungen auf der Basis vorhandener Ersatz- bzw. Sicherungsfilme für die aktuelle Benutzung große Vorteile.

Schadenserhebung

Im Vorfeld umfassender konservatorischer Maßnahmen sollte eine statistische Erhebung über den Umfang und die Art der Schäden mit Hilfe eines EDV-gestützten Nachweises der Daten auf der Grundlage einheitlich gestalteter Erfassungsbögen vorgenommen werden, um den Handlungsbedarf abschätzen und gezielte bestandserhaltende Maßnahmen einleiten zu können.

Klassierung der Materialien und ihrer Schäden

Angesichts der unterschiedlichen Zusammensetzung eines Bibliotheksbestandes ist es zweckmäßig, das Sammelgut nach Bestandsgruppe, Einbandart, zeitlicher Zuordnung, Erhaltungszustand und Schadensart zu klassieren. Da die Kategorien Bestandsgruppe und zeitliche Zuordnung als gleichrangig angesetzt werden, lassen sie sich ohne Systemzwang aneinanderketten. Jede von ihnen kann zum Ausgangspunkt der Analyse erhoben werden.

Die folgende Untergliederung der Bestandsgruppe läßt audiovisuelle und elektronische Datenträger, deren Aufbewahrung anspruchsvoller als die der klassischen Bibliotheksmaterialien ist, unberücksichtigt.

BBestandsgruppe
1Handschriften
11Pergamenthandschriften mit Buchmalerei
12Pergamenthandschriften, nur Text
13Papierhandschriften mit Buchmalerei
14Papierhandschriften, nur Text
15Handschriften auf sonstigem Material
2Autographen, Nachlässe, Sammlungen
21Handschriftliche Einzelblätter
22Werkmanuskripte
23Gedruckte Einzelblätter
24Ausschnittssammlungen (Zeitungsausschnitte)
25Fotos
3Graphische Blätter einschließlich Karten
31Handzeichnungen, handgezeichnete Karten
32Gedruckte graphische Blätter einschließlich Karten
33Gedruckte, handkolorierte graphische Blätter und Karten
4Monographien
5Periodika
6Zeitungen

Es ist vorgesehen, die Bestandsgruppe über die Einbandart zusätzlich zu charakterisieren; die jeweilige Kennung ist jener der Bestandsgruppe anzuhängen.

EEinbandart
1Bibliophiler Einband
2Gebrauchseinband
3Verlegereinband, gestaltet
4Verlegereinband, nicht gestaltet
5Bibliothekseinband
6Ohne Einband

Da bestimmte Schäden an die Epoche, aus der die Objekte stammen, gebunden sind und da bestandserhaltende Maßnahmen in Einklang mit zeitlich ausgerichteten Sammelschwerpunkten an deutschen Bibliotheken gebracht werden sollten, wird folgende zeitliche Unterteilung vorgeschlagen, die auf die Schadenserhebung des Deutschen Bibliotheksinstituts (DBI) aus dem Jahr 1988 zurückgeht1).

DDatierung
(Zeitliche Zuordnung, Erscheinungsjahr)
1vor 1500
216. Jahrhundert
317. Jahrhundert
418. Jahrhundert
51800 - 1860
61861 - 1960
7ab 1961

Die folgende Klassierung des Erhaltungszustands der Objekte lehnt sich ebenfalls an die DBI-Untersuchung an.

ZErhaltungszustand
Z aErhaltungszustand Einband
1unbeschädigt
2beschädigt, aber benutzbar
3beschädigt, nicht benutzbar
Z bErhaltungszustand Buchblock
1unbeschädigt
2leicht beschädigt
3stark beschädigt
Z cErhaltungszustand Papier/Material
1unbeschädigt
2leicht beschädigt
3stark beschädigt
Z dStabilität des Papiers nach mechanischer Prüfung
1gut, erträgt dreifache Eckfalzung2)
2brüchig, Ecke fällt nach dreifacher Eckfalzung ab
Z eErscheinungsbild des Papiers
1nicht vergilbt
2leicht vergilbt
3stark vergilbt
Z fpH-Wert
1pH-Wert größer 7 (alkalisch)
2pH-Wert gleich 7 (neutral)
3pH-Wert kleiner 7 (sauer)

Die Schadensart läßt sich unter dem Gesichtspunkt äußerer und innerer Einwirkungen gruppieren. Die Kennung festgestellter Schadensarten der Gruppe S1 ist den Festlegungen unter den Gruppen Za bis Zc, die Kennung festgestellter Schadensarten der Gruppe S2 der Festlegung unter der Gruppe Zc anzuhängen.

SSchadensart
(Zuordnung zu Einband, Buchblock, Papier)
S 1äußere Einwirkung
1mechanischer Schaden durch Benutzung
2Schaden durch Lagerbedingungen
3biologischer Schaden
4Wasserschaden
5Brandschaden
S 2innere Einwirkung
21Beschreibstoffe
1Säurefraß
22Beschreibmittel
1Tintenfraß
2Farbfraß

Die Schadensermittlung nach obigem Schema unter Einsatz eines durch die Bibliotheken individuell festzulegenden Statistikrasters - in der DBI-Erhebung wurden 0,01% des Bestandes ausgewählter Bibliotheken mit über einer halben Million Bände untersucht - gestattet Aussagen über den Schadenszustand nach Gesichtspunkten, die sich aus den Verknüpfungen der Kategorien ergeben.

Bestandssicherung

Basierend auf der Schadenserhebung, sind für jedes Objekt die zu ergreifenden Maßnahmen festzulegen. Hierzu gehören

Durchführung

Der EDV-gestützte Nachweis der Daten sollte nach Möglichkeit im Online-Katalog erfolgen. Gemäß Art und Umfang der einbezogenen Bestandsgruppen, den Zielsetzungen der Schadensanalyse und der Tiefe der Erfassung sind Datenfelder unterschiedlicher Anzahl und Differenzierung einzurichten. Wesentliche Kategorien sind: Bestandsgruppe (falls mehrere), zeitliche Zuordnung, Erhaltungszustand, Schadensart, bei Druckwerken die Einbandart. Schon bei der Einarbeitung von Drucken könnte der Papierzustand vermerkt werden (MAB 2: Kategorie 050, Pos. 2).

Sollen die Daten für eine globale Auswertung in einer Datenbank zusammengefaßt werden, ist auf die Eindeutigkeit der Felddefinitionen zu achten und die Import- bzw. Exportfunktionalität der betreffenden Software vorab zu berücksichtigen; das Bibliothekssigel wäre in einem eigenen Feld mitzuliefern.

Für eine auf statistische Angaben beschränkte Erhebung reicht der Einsatz eines Tabellenkalkulationsprogrammes aus. Im Online-Katalog sollte als Mindestanforderung an die Registerzugriffe der Einstieg über die Bestandsgruppe und die zeitliche Zuordnung, verknüpft mit den Schadensarten, möglich sein.

Folgerungen

In den meisten Fällen werden die Schadenserhebung und die daraus abgeleiteten bestandssichernden Maßnahmen zu dem Ergebnis führen, daß die Erhaltung sämtlicher Bestände im Original bzw. ihre Übertragung auf Ersatzmedien aus finanziellen Gründen auch über einen größeren Zeitraum hinweg nicht möglich ist, sondern lediglich für Archivbestände in Betracht kommt. In dieser Situation sind die Bibliotheken genötigt, auf der Grundlage ihrer Erhebung selbständig die Prioritäten und die anzuwendenden Verfahren zur Bestandssicherung festzulegen. Kooperative Maßnahmen der Bibliotheken unter Inanspruchnahme der Verbundkataloge für Monographien, der Zeitschriftendatenbank des DBI und des German Register of Microfilm Masters (GEROMM) sind unumgänglich. Die Kultusministerkonferenz (KMK) geht davon aus, daß Landeskonzepte entwickelt werden3).

1) U. Usemann-Keller: Bestandsschäden in deutschen Bibliotheken. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 36(1989) S. 109-123.

2) Eckfalzung: In die untere Ecke eines Blattes aus der Mitte des Buches wird zuerst nach hinten, dann nach vorn ein "Eselsohr" geknickt. Seitenlänge: ca. 1 cm. Der Knick wird beide Male zwischen Daumen und Zeigefinger leicht zusammengedrückt. Zur dreifachen Eckfalzung wird dies dreimal durchgeführt. Zum Schluß wird das Eselsohr wieder glattgestrichen.

3) Beschluß der KMK vom 8.10.1993, veröffentlicht in: BIBLIOTHEKSDIENST 28(1994) S. 479-793. Die Ad-hoc-Arbeitsgruppe "Erhaltung der vom Papierzerfall bedrohten Bibliotheksbestände" der AG Wissenschaftliche Bibliotheken der KMK wird einen Entwurf zur Sicherung der Altbestände erarbeiten. - DFG-Projekt: "Entwicklung von Konzepten zur Sicherung der Periodikabestände in deutschen Bibliotheken"; Laufzeit Dezember 1996 - November 1997.


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