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Bibliotheksdienst Heft 10, 96

Das Elektronische Depot des Südwestdeutschen Bibliotheksverbunds

Ein erster Schritt zum virtuellen Medienserver

Thomas Dierig

Wer im WWW-OPAC des Südwestdeutschen Bibliotheksverbunds (SWB) recherchiert und einen Treffer angezeigt bekommt, findet bei der Bestandsauflistung das Bibliothekskennzeichen (BKZ) als mit der Maus anklickbar vor. Wenn die Neugier siegt und dieses angeklickt wird, erscheint eine Kurzinformation zu dieser Bibliothek auf dem Bildschirm. Der technisch Versierte wird bemerken, daß diese Information über einen Hyperlink aus einem Datenpool außerhalb der bibliographischen Datenbank abgerufen wurden, d.h.:

Eine noch weitere Entfernung vom WWW-OPAC ist möglich, wenn in der Kurzinformation einer Bibliothek wieder "anklickbare" Wendungen wie "lokales Informationssystem", "lokaler OPAC" oder ähnliche gefunden werden: In die angezeigte Information sind erneut Hyperlinks eingebunden, über die weitere bibliothekseigene Informationssysteme (allgemein WWW-Homepages) oder lokale Kataloge erreichbar sind.

Was hat dies mit dem elektronischen Depot des SWB-Verbunds oder gar einem virtuellen Medienspeicher zu tun? Nichts! Es sollte nur das geltende Prinzip vorgestellt werden: Aus jedem Rechercheergebnis im WWW-OPAC des SWB-Verbunds können mittels der Hyperlinktechnik weitergehende Informationen angeboten und abgerufen werden.

Rückblick, Vorgeschichte

Mitte 1994 wurde der oben angesprochene WWW-OPAC einschließlich seiner Verknüpfungen zu BIBINFO in einer ersten Experimentalversion freigegeben. Angestoßen durch Projekte in den USA begannen die ersten Planungen und Experimente zum Speichern von Volltexten und ihrer Erschließung über den WWW-OPAC. Zeitlich ungefähr parallel wurde der Arbeitsgruppe "EDV in wissenschaftlichen Bibliotheken" des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung in Baden-Württemberg ein erstes Diskussionspapier1) zu einer elektronischen Speicherbibliothek vorgelegt. Die Arbeitsgruppe erteilte an den Südwestdeutschen Bibliotheksverbund und die Bibliothek der Universität Konstanz den Auftrag, dieses Projekt einer elektronischen Speicherbibliothek weiter zu bearbeiten. Im März 1995 war ein Arbeitsstand erreicht, der auf der Basis zweier neuer Planungspapiere eine erneute Beschäftigung der Arbeitsgruppe mit diesem Thema forderte. Definiert wurde: "Inhalt des Projekts ist die praktische Erprobung der elektronischen Speicherung von Dokumenten für die Bibliotheken des Landes in einem Prototyp einer elektronischen Speicherbibliothek, bei dessen Realisierung nachgewiesen wird, ob und wie die Bibliotheken mit Hilfe der elektronischen Speicherung einen Teil ihrer künftigen Aufgaben bewältigen können".2/3)

Der Gedanke der elektronischen Speicherbibliothek wurde leider nicht weiter verfolgt. Die Vorüberlegungen gingen ein in das Vorhaben eines "Elektronischen Depot des Südwestdeutschen Bibliotheksverbundes" (SWB-E-Depot).

Zielsetzung des SWB-E-Depots

Offene Fragen und Unsicherheiten, sowohl im bibliothekarischen wie auch im organisatorischen, logistischen und technischen Bereich sprechen für eine Experimentalversion. Langjährige Erfahrung in der maschinellen Katalogisierung zwingt zu einem sofort in den Routinebetrieb integrierbaren E-Depot: Einmal erfaßte Daten, und seien sie noch so problematisch, werden nur höchst selten ein zweites Mal neu erfaßt; die Nutzerschaft akzeptiert selbst einfachste Provisorien, wenn sie einen Dienstleistungsgewinn bzw. eine Wertsteigerung des Katalogangebots darstellen. Dieses Spannungsfeld bestimmt nicht nur die fünf herausragenden Ziele, auf die das SWB-E-Depot in der ersten Phase ausgerichtet wird, sondern auch Architektur, Konfiguration, Anlage, Aufbau und Nutzung des Depots:

Ohne explizite Erwähnung beinhaltet diese Auflistung eine Reihe weiterer "verborgener" Zielstellungen wie beispielsweise das Abspeichern von key pages (z.B. 10 relevante Seiten eines Dokuments), d.h. den fließenden Übergang zwischen der Speicherung von Metainformationen und Vollinformationen.

Verbunddatenbank (SWB-Pool)

Die bibliographische Datenbank des Südwestdeutschen Bibliotheksverbunds wird im Sinne eines "virtual union catalogue" als vorhandene Infrastruktur eingebracht, die in der bibliothekarischen Routine kontinuierlich weiter ausgebaut wird. Innerhalb des virtuellen Medienspeichers kommen ihr drei Aufgaben zu:

Strategie zur Einführung des SWB-E-Depots

Die Erfahrungen beim Aufbau des SWB-Verbunds, besonders im Anschlußverhalten der Teilnehmerbibliotheken, sprechen für eine möglichst freie Entwicklung der einzelnen Komponenten des SWB-E-Depots, eben der dezentralen Medienserver in den Teilnehmerbibliotheken. Folgende Strategie zum Aufbau des SWB-E-Depots erscheint als sinnvoll:

Dieser Ansatz der Dezentralisierung, d.h. der geographisch verteilten, virtuell zusammengehörigen Speicherung, deckt sich mit der Aussage von Klaus-Dieter Lehmann 4): "Akzeptiert werden muß, daß eine wachsende Anzahl von dynamischen oder verteilten Publikationen nicht in der digitalen Depotbibliothek (hier "zentraler Teil des SWB-E-Depots", Anm. d. Verfassers) gespeichert werden kann. Hier kann die Bibliothek ("der zentrale Teil des SWB-E-Depots", Anm. d. Verfassers) nur als Referenz-Server agieren und durch Adressen auf Publikationen verweisen".
Die ersten geplanten und begonnen Projekte zeigen, daß diese Strategie richtig ist.

Elektronisches Depot "SWB-E-DEPOT"

Konzipiert als ein virtuelles Depot, das aus einem zentralen Teil und mehreren dezentralen Teilen besteht (siehe Abb.1), sind die dezentralen Teile des SWB-E-Depot geographisch verteilte, von Teilnehmerbibliotheken betriebene und in ihrer Zuständigkeit stehende Medienserver, auf die der Zugriff über den Managementteil im zentralen Bereich des Depots erfolgt. Die betreibende bzw. zuständige Bibliothek kann den lokalen Medienserver nahezu unabhängig von der Integration in das SWB-E-Depot gleichzeitig für eigene lokale Interessen und Bedürfnisse einsetzen und die Bereiche und Daten, die Teil des SWB-E-Depot sind, in die lokalen Systeme einbeziehen (z. B. in Campus-Informationssysteme, eigene lokale Erschließungssysteme). Da ein Einbinden nur im Sinne eines "Lagerhauses" erfolgt, reichen einige wenige Konventionen aus, um die dezentralen Medienserver in das Netz des virtuellen Depots einbinden zu können. Zu den wenigen Garantien, die eine Bibliothek gewährleisten muß, gehören Verfügbarkeit, Authentizität und Kontinuität der eingebrachten Dokumente. Die Bibliothek übernimmt die Pflege der Verknüpfungen zum zentralen Teil des SWB-E-Depots (also der URL's), die volle Verantwortung für die inhaltliche Seite und die Zuständigkeit für die langfristige Archivierung sowie eventuelle Datenumstrukturierungen, um dem technologischen Veränderungen zu folgen.

Das Einbinden von Medien, die auf Servern angeboten werden, die nicht zum SWB-E-Depot gehören, wird als problematisch eingeschätzt. Ist die Stabilität, Qualität und Verfügbarkeit dieser externen Server nicht gesichert (es sei offen gelassen, was genau unter "gesicherter" Stabilität und Qualität zu verstehen ist), wird die Spiegelung der gewünschten Dokumente von diesen Serven in das SWB-E-Depot angestrebt. Breite Erfahrung zur Abschätzung des Arbeitsaufwandes fehlt bislang noch, muß jedoch für gewisse Konstellationen unter Umständen als nicht vertretbar hoch angesehen werden.

Zentraler Teil des SWB-Depots

Der zentrale Teil des SWB-E-Depots ist in drei Teile gegliedert (siehe Abb.1), in

Dieser Managementbereich "DOKERSCH" ist derzeit nur sehr einfach konzipiert. Er enthält sogenannte Erschließungsdateien, auf die sich die "Anker" in den bibliographischen Daten des SWB-Pools beziehen: In der Titelaufnahme ist eine URL angegeben, die Titelaufnahme und Erschließungsdatei beziehungsweise Metainformation verknüpft und damit eben die weiterführende Information anbietet. Für die bibliographische Datenbank bedeutet dies, daß in ihr nur Verknüpfungen zu diesen Bereichen zugelassen sind, d.h. nur URL's auf einen Medienserver der Verbundzentrale und keine URL auf Medienserver, die nicht in der Regie und Zuständigkeit der Verbundzentrale liegen. Der Hintergrund dieser nur auf den ersten Blick restriktiven Praxis ist die Sicherheitsproblematik und Pflegemöglichkeit der Hyperlinks.

Über die Erschließungsdatei findet die Erschließung auf Dokumentebene statt, beispielsweise durch Aufruf von Inhaltsverzeichnissen, Registern oder durch Suchfunktionen auf Dokumenteebene. Sie kann aber auch als Konverter analog zum Konzept der PURL (Persistant URL) im Internet Cataloguing Project des OCLC fungieren: eine URL aus dem bibliographischen Datenpool auf eine Erschließungsdatei wird in eine URL auf einen Medienserver außerhalb des zentralen Bereichs des SWB-E-Depots im Verhältnis 1:1 "umgesetzt", unter Umständen sogar automatisch. In der Funktion des 1:n-Konverters enthält die Erschließungsdatei beispielsweise ein Inhaltsverzeichnis, dessen einzelne Positionen als Hyperlinks URL's zu Medienservern außerhalb des zentralen Teils des SWB-E-Depots anbieten, die aber aus der bibliographischen Datenbank heraus über eine URL erreicht werden.

Wird diese Entkopplung momentan primär unter dem Sicherheitsaspekt durchgeführt, sind durch ihre Konzentration im Managementbereich des zentralen Teils des E-Depots zukünftig weitere Funktionen denkbar: beispielsweise kann die Überwachung und Pflege der URL's zu Medienservern außerhalb des zentralen Teils des SWB-Depots in diesem Managementteil erfolgen, ohne daß die bibliographische Datenbank davon betroffen ist; im Fall des Einbezugs kostenpflichtiger Publikationen kann das Abbrechnungssystem, ebenfalls vom bibliographischen Datenpool entkoppelt, auf dieser Managementebene aufsetzen und der Abrechnungsverkehr gegebenenfalls über das BIBINFO-System gesteuert werden; längerfristig kann auch die Drucksteuerung zur Ausgabe der Informationen auf "digitalem Papier"5) aufsetzen (digitales Papier soll den wiederholten "Druck" digitalisierter Informationen am Arbeitsplatz auf ein und demselben Papier, nämlich dem "digitalen Papier" ermöglichen, d.h. die Ausgabe von "Scheinprintmedien". Für den Benutzer sind dies "echte" Printmedien, deren Umfang er beispielsweise an seinem persönlichen Lesevolumen für einen Abend ausrichten kann).

Zugriffslogik

Da mit dem SWB-E-Depot nicht nur ein virtueller Medienspeicher aufgebaut wird, sondern auch der Zugriff aus einer Vielfalt von Online-Katalogen und der direkte Zugriff aus anderen, selbst SWB-fremden Informationssystemen ermöglicht wird, stellt die Kombination von bibliographischem SWB-Pool und SWB-E-Depot die Basis zu einem "mächtigen" Informationsbeschaffungswerkzeug dar. Konkret sieht dies in der Benutzersicht wie folgt aus (Abb.3, User-Bereich):

Anders verhalten sich die Metainformationen, die im SWB-E-Depot gehalten werden: Sie sind vornehmlich über die Online-Kataloge abrufbar (ebenfalls über alle Hierarchiestufen von Verbund-, Regional- und Lokal-OPAC). Ob als Abstract, Buchrezension oder Inhaltsverzeichnis geben sie dem Katalogbenutzer "Zusatzinformationen" zur traditionellen bibliographischen Katalogauskunft, die ihm die Entscheidung zur Auswahl einer Medieneinheit erleichtert; genauso kann aber auch die die Metainformation der Kaufentscheidung des Fachreferenten im dienstlichen Gebrauch dienen.

Produktion

Unter Produktion soll der Gesamtvorgang von der gegebenenfalls noch durchzuführenden Digitalisierung eines Dokuments (Medienkonversion) über das Einbringen in das SWB-E-Depot bis zum Nachweis in den Online-Katalogen verstanden werden. Dieser Produktionsprozeß kann vereinfacht dreistufig dargestellt werden (Abb.3, Produktion).

Nicht nur in der Medienkonversion bestehen große Unsicherheiten; ebenso liegen sie in Regelwerksfragen und in der Dokumentestruktur (z.B. SGML und TEI [Text Encoding and Interchange], die in den USA mit dem Electronic Text Center at the University of Virginia einen Quasistandard darstellen). Aussagen von Klaus-Dieter Lehmann 7) lassen zwar eine Tendenz erkennen ("Eine möglichst große Nähe zu AACR kann nur von Vorteil sein. Globale Vernetzung muß sich auch in Regelwerken widerspiegeln. Für die erforderlichen Metadaten sollten möglichst bald Standards gefunden werden" oder "Die Entscheidung Artefact oder Inhalt muß deshalb für den Inhalt getroffen werden, auch wenn im Einzelfall interaktive, dynamische Aspekte der Originalpublikationsform verloren gehen"), für die tägliche Arbeit sind sie jedoch noch keine Hilfe: eventuell muß später alles nochmals umgesetzt oder manuell nachbearbeitet werden. Ausblick

Die zuletzt angesprochene "Produktion" erscheint als die Achillesferse: Der bibliographische Datenpool, der Datenrücktransfer in sekundäre, abgeleitete Datenbanken sowie die Online-Kataloge existieren und werden in Routine eingesetzt. Die technisch-organisatorische Seite des Medienserver ist beherrschbar bzw. bereits weitgehend realisiert. Woher aber sind Daten jeglicher Art und im großen Stil erhältlich? Gefragt sind Metainformationen wie Inhaltsverzeichnisse, Abstracts und Rezensionen. Wie ist eine kontinuierliche Belieferung des SWB-E-Depots zu gewährleisten mit Vollinformationen, d.h. kompletten Dokumenten, die als E-Publikation aufgelegt werden bzw. durch nachträgliche Digitalisierung entstehen? Ein Blick auf den Istzustand im SWB-E-Depot zeigt, daß mit langen Anlaufphasen gerechnet werden muß, danach mit noch längeren kontinuierlichen Produktionsphasen. Dies liegt nicht nur am Urheberrecht, sondern auch daran, daß momentan hauptsächlich von engagierten Mitarbeitern in Bibliotheken und in der Verbundzentrale "nebenher produziert" wird, eine Institutionalisierung dieser Arbeiten fehlt.

Wenn der SWB-Pool derzeit in rund 2.000 Titelaufnahmen URL's zum SWB-E-Depot enthält, mag diese Zahl auf den ersten Blick groß erscheinen. Bezogen auf die 5 Millionen Titel im SWB-Pool ist sie verschwindend klein. Für eine Statistik sind diese 2.000 URL's noch zu wenig aussagekräftig. Sie führen hauptsächlich zu Rezensionen und Abstracts, aber auch zu Vollinformationen wie Dissertationen, alten Drucken und einigen Zeitschriften. Drei Universitätsbibliotheken haben begonnen, Dissertationen in digitalisierter Form in das SWB-E-Depot zu überführen; noch dieses Jahr ist die Übernahme einiger tausend Buchbesprechungen der EKZ in das SWB-E-Depot vorgesehen; an einigen Bibliotheken werden Projekte vorbereitet: der Anfang ist gemacht. Wenn der SWB-Verbund vor zehn Jahren mit zunächst nur drei Teilnehmerbibliotheken seinen Produktionsbetrieb aufgenommen hat, wird eine zunehmende Zahl von Bibliotheken, die am SWB-E-Depot partizipieren, zu einem immer umfassenderen Angebot und stetig wachsenden Wert der Datenbanken führen: der Anfang ist gemacht.

Als Resumee lassen sich folgende "10 Gebote zum SWB-E-Depot" formulieren:

Einige URL's, auf die im Text Bezug genommen wurde:

1) "Elektronische Speicherbibliothek - ein Diskussionsvorschlag" von Dr. Adalbert Kirchgäßner, Bibliothek der Universität Konstanz, Herbst 1994

2) "Elektronische Speicherbibliothek", Projektvorschlag von Dr. Adalbert Kirchgäßner, Bibliothek der Universität Konstanz März 1995

3) "Verteilte elektronische Depots im Hypertext OPAC des Südwestdeutschen Bibliotheksverbunds", Projektübersicht, von Thomas Dierig, März 1995

4) Klaus-Dieter Lehmann, Das kurze Gedächtnis digitaler Publikationen, in Zfbb 43 (1996) 3, S. 209-226

5) "Digitales Papier für das Buch der Zukunft" in Online Mitteilungen Nr.55 (1996), S. 35-36

6) Hans Zotter, Veranstaltungsbericht zu "Workshop Medienkonversion - Die Digitalisierung des Dokuments" in Mitteilungen der VÖB 49 (1996) 2, S. 102-104

7) Klaus-Dieter Lehmann, Das kurze Gedächtnis digitaler Puplikationen, in Zfbb 43 (1996) 3, S. 209-226


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