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Bibliotheksdienst Heft 10, 96

Virtuelle Organisationen - Bibliotheken an der Schwelle?

Ulrich Hofmann

Ökonomische Trends

Das Vorbild der Begriffsbildung "Virtuelle Organisationsformen oder Unternehmen" kommt aus der Informatik. Zur logischen (nicht physikalischen) Hauptspeichererweiterung werden die Informationsflüsse (Programmteile) geschickt zwischen dem vorhandenen Hauptspeicher und den Paging-Bereichen ein- und ausgelagert. Genauso wie man bei dieser "virtuellen Speichertechnik" versucht, den Aufbau neuer zusätzlicher Ressourcen (Hauptspeichererweiterung) zu verhindern, so möchte man im Rahmen von virtuellen Organisationen den Aufbau neuer Institutionen, Unternehmen, Einrichtungen umgehen und trotzdem eine quantitative und qualitative Kapazitäts(Angebots)erweiterung erreichen.

Geänderte Zielsetzungen, Strategien gehen stets von bestimmten Veränderungen der Rahmenbedingungen aus. Dabei zeigt sich für alle informationsintensiven Dienstleistungen, die nicht nur von Bibliotheken angeboten werden, sondern ebenso auch von Banken, Reiseunternehmen, Handelsbetrieben etc., ein besonders dynamisches lnnovationsgemisch aus technology push (vom Angebot angestoßen) und demand/market-pull (von der Nachfrage stimuliert). Dies muß in einen Technologieeinsatz umgesetzt werden, der zu einer Qualitätssteigerung neuer oder geänderter Dienstleistungen führen sollte. Die hier relevanten Networking Technologien, flankiert von Hypertext- und Kompressionstechnologien, haben in der jetzigen Technologiereife eine ungewöhnlich hohe zeitnahe Akzeptanz und Umsetzungsgeschwindigkeit in Nutzungs- und Anwendungsprozesse.

Nutzen Anbieter und Nachfrager für Ihren Güteraustausch diese neuen Informationstechnologien, so kommt es zu "Elektronischen Märkten". Diese Marktform 1) basiert auf einer völlig neuen Informations-Infrastruktur, die in der Folge einen neuen Organisations(Unternehmens)typ forciert.

Byrne (Byrne 1993) ist zuzustimmen, wenn er in Umrissen diese neue Form einer Wertschöpfung wie folgt beschreibt: "The virtual corporation is a temporary network of independent companies - suppliers, customers... - linked by information technology to share skills, costs, and access to one another's markets. lt will have neither central office nor organization chart. lt will have no hierarchy, no vertical integration... In the concept's purest form, each company that links up with others to create a virtual corporation will be stripped to its essence. lt will contribute only what it regards as its core competencies" (Hervorhebungen durch den Verf.).

Die Stukturvariablen dieser neuen Organisationsform, die es auszufüllen gilt, werden immer deutlicher.

Daraus folgt, daß die hierarchischen Aufbauorganisations-Strukturen mit ihren Gliederungen, Weisungs- und Informationskanälen verblassen- sie verlieren weiter an Bedeutung. Die Ablauforganisation dagegen rückt in das Zentrum neuer Gestaltungsalternativen, insbesondere an der Schnittstelle der Eingangslogistik/Beschaffung (zwischenbetriebliche Integration) und der Ausgangslogistik (Integration der End-Nutzer).

Der weitgehende Verzicht auf die zusätzliche Institutionalisierung von zentralen Managementfunktionen ist ein Charakteristikum, durch das sich virtuelle Organisationen von anderen Kooperationsformen besonders unterscheiden.

Leistungsfähige Informations- und Kommunikationssysteme unterstützen in einem hohen Maße den zur Koordination der anstehenden Aufgabe erforderlichen Informationsaustausch und forcieren neue Organisationsformen. Diese Entwicklung zu team(objekt)orientierten Strukturen wäre nicht möglich, wenn nicht zeitgleich große Qualitätssteigerungen durch die (Hochschul)Bildungsanstrengungen der letzten Jahrzehnte greifen würden.

Wenn man so will, verstärken diese technologiebasierten lnformationsinfrastrukturen den Druck auf die Einführung "schlanker" Organisationsstrukturen (Lean Organization).

Das Beispiel UNCOVER

UNCOVER 2) basiert auf einer virtuellen Organisationsform, in der der delivery- und der retrieval-service auf einer flexiblen, temporären Verknüpfung von 400 Bibliotheken beruht. "Der Kraft oder der Möglichkeit nach vorhanden" (Duden) oder "existing in the mind, especially ... of imagination" (American Heritage Dictionary) scheint virtuell eine riesige Bibliothek der Anbieter zu sein. Die "Virtuelle Bibliothek" ist also nur eine "scheinbare" Bibliothek. Dabei kann der Nachfrager über verschiedene Sichtweisen der Benutzeroberflächen und Selektionsmöglichkeiten zur Lösung seines Problems individuelle Konfigurierungen der lnformationsdienstleistung vornehmen (virtuelle Produkte). Die Datenbasis von Uncover ist für ihn transparent, d. h. sie erscheint ihm wie aus einer Hand, obwohl sie faktisch das Ergebnis eines auf viele unabhängige Leistungsträger verteilten Prozesses ist. Dabei sind laufend große räumliche und zeitliche Distanzen zu überwinden. Bei dem Management dieser virtuellen Organisationsform geht es um die dynamische und flexible Zuordnung von abstrakten Leistungsanforderungen zu Leistungsträgern und dem konkreten Ort der Leistungserbringung.

Organisation:

Die weltweit überall verfügbaren technologiebasierten Kommunikationsverbindungen und Zugriffe ermöglichen sowohl die räumliche Entkoppelung zwischen Nachfragern und Lieferanten der Informationsdienstleistung als auch eine neue intraorganisatorische Verteilung der Arbeitsteilung. Dies ist möglich durch neue Größenordnungen der Geschwindigkeit und der Qualität des Informationsaustausches und der Möglichkeit, Aktivitäten zu koordinieren, die auf Grund der hohen Kosten bisher kaum als synchronisierbar galten. Die klassischen Funktionen bzw. Abteilungen Benutzung, Ausleihe und Buchbearbeitung (Erwerbung, formale und inhaltliche Erschließung) sind funktional auf zwei verschiedene Organisationsformen bzw. Betriebe verteilt. Dabei ist die Buchbearbeitung wieder auf weitere selbständige Betriebe verteilt, denn die Daten der Formal- und Inhaltserschließung werden in der Regel von US-Bibliotheken je nach spezifischer Kompetenz und Preis von der LoC (= Library of Congress), OCLC (= Ohio Computer Library Center) RLG (= Research Libraries Group) etc. bezogen. Auch diese Großanbieter bibliographischer Daten sind USA-weit räumlich verteilt mit ihren Standorten an der Ost- und Westküste bzw. in Nord-West. Es gibt an allen Schnittstellen dieser virtuellen Organisation keine zeitlichen Zugangsbeschränkungen. Der Betriebstyp UNCOVER basiert also auf einem verteilten Operieren zwischen verteilten Datenbanken und ist an jedem Zugriffspunkt der Welt lokal ohne zeitliche Beschränkung präsent.

Institution:

Es handelt sich also in diesem Fall um ein kooperatives, flexibles Netzwerk rechtlich selbständiger Organisationen bzw. Bibliotheken, die ihre Ressourcen gemeinsam nutzen bzw. vermarkten und in die virtuelle Organisation jeweilige Stärken

einbringen. Dabei wird diese Verbundorganisation durch keinerlei zentrale Instanzen mit den dazugehörigen Hierarchien einer Aufbauorganisation reguliert.

UNCOVER hat also die Funktion eines "Brokers", der im Rahmen eines dynamischen Netzwerkes je nach Situation unterschiedliche Partner zusammenführt.

Zusammenfassung

UNCOVER ist somit ein Prototyp einer virtuellen Organisationsform im bibliothekarischen Kontext, die versucht, die Dezentralisierungs-, Spezialisierungs-, Verteilungs- und Individualisierungseffekte dieser neuen lnformations-Infrastruktur in ihrer Komplexität zu beherrschen bzw. nutzbar zu machen. Vom Umfang der Recherchemöglichkeiten und der Direktlieferung bzw. Benutzung ist der Möglichkeiten gemäß eine sehr große Bibliothek vorhanden, die aber institutionell nicht existiert. Diese "als-ob"-Organisation - die ohne die Potentiale der neuen IT nicht denkbar wäre - ermöglicht eine flexible und effiziente Verteilung und Koordination von Aufgaben in einem interorganisatorischen Netzwerk. Die Mehrwerte der globalen, zeitkritischen Erreichbarkeit sind beachtlich, so daß sowohl die Effizienz- als auch die Effektivitätssteigerungen der spezialisierten, maßgeschneiderten Problemlösungsmöglichkeiten enorm sind.

Welche Trends ergeben sich aus dem Muster UNCOVER bzw. aus den derzeitigen ökonomischen Wirkungen der Informationstechnologien für das (deutsche) Bibliothekswesen?

Das Umfeld der Bibliotheken

Bibliotheken sind durch die Informationstechnologien besonders erfaßt.

Nach Porter (Porter 1985) läßt sich - seit langem in der Literatur unstrittig - die Informationsintensität einer Branche durch folgende Merkmale beschreiben:

Potentiell hohe Informationsintensität der Wertschöpfungskette:

große Zahl von Lieferanten [= Buchhändler, Verlage, Grossisten des In- und Auslandes]
große Zahl von Kunden[= Nutzer]
ein Produkt, das beim Verkauf eine große Menge an Informationen erfordert[= lnformationsvermittlung]
eine Produktlinie, die aus vielen unterschiedlichen Typen besteht[= bibliothekarisches Dienstleistungsprofil]
große Zahl von Fertigungsstufen[= Buchbearbeitung, Geschäftsgang]

Potentiell hohe Informationsintensität des Produktes:

ein Produkt, das in der Hauptsache Informationen liefert[bibliothekarische Dienstleistungen]
ein Erzeugnis, dessen Bedienung vom Anwender verlangt, eine umfangreiche Datenmenge zu verarbeiten[Recherchieren in einer Datenbank etc. durch die Nutzer]
ein Produkt, das viele alternative Anwendungsmöglichkeiten hat[Problemlösungsqualität bibliothekarischer Dienstleistungen]
Kunde hat im Rahmen seiner
eigenen Geschäftstätigkeit eine hohe lnformationsintensität
[Sachliteratur wird zur Problemlösung genutzt bzw. in Anwendungen transferiert]

Diese Kriterien haben bei Bibliotheken eine außerordentlich hohe Ausprägung. Daraus folgt, daß sie von den Potentialen der Informationstechnologien, Vernetzung, Digitalisierung und elektronischen Publikationen in besonderem Ausmaß betroffen sind. Vor dem Hintergrund des zeitgleich zusammenfallenden Nachfragedrucks nach neuen Qualitäten von Informationsdienstleistungen und der informationstechnologischen Schübe bieten sich für Bibliotheken neue globale Informations-Infrastrukturen an, die nur durch kooperative, netzwerkgestützte Organisationsformen zu nutzen sind.

Die lokale Informationsversorgung - dergestalt definiert: der Benutzer betritt die Bibliothek, recherchiert in den dort zugänglichen Katalogen, leiht die Medien aus und bringt sie wieder termingemäß zurück - wird ständig abnehmen. Die einzelne Bibliothek wird sich immer mehr in den elektronischen Markt einfädeln. Die Konzentration auf die Kernkompetenzen muß verstärkt werden, denn nur diese können auf den elektronischen Märkten bestehen. Die daraus sich ergebenden Mehrwerteffekte werden, unterstützt durch intelligente Navigationssysteme, von den Nutzern präzise gesucht, und diese sind in der virtuellen Welt "mächtig". Sie sind nicht mehr an die "Heimatbibliothek" gebunden. Die Sanktion des Fernbleibens greift umso schärfer. Die "Zeit" und die "Verfügbarkeit am Arbeitsplatz" werden zu kritischen Erfolgsfaktoren. Mittelfristig wird die Problemlösungsqualität hinzutreten, d.h. das Bibliothekssystem muß im Rahmen einer "intelligenten" Suche in eigenen und fremden Informationsquellen recherchieren und das Ergebnis zur Problemlösung benutzergerecht darstellen.

Auf den Prüfstand müssen daher alle Routinen, die möglicherweise von anderen Partnern oder Teilnehmern am Informationsmarkt effektiver und effizienter erledigt werden können (z. B. evtl. Zeitschriftenerwerbung, Scannen von Texten, Erwerbungsroutinen etc.). Früher hätte man diese Leistungen, Produkte gekauft (Outsourcing), heute bildet man mit den Partnern eine virtuelle Organisation. Dazu bedarf es auch im öffentlichen Sektor monetärer Anreize bzw. einer Leistungsverrechnung zwischen den konföderierten Servern. Dies würde den Status der Bibliotheken als Anbieter von unentgeltlichen Informationsdienstleistungen (sog. öffentliche Güter) je nach Budgetvorgaben möglicherweise treffen.3) Im Rahmen der abzusehenden deutschen Haushaltsreform, in der mehrere Haushalts-Grundsätze modifiziert bzw. effektiviert werden (größere Deckungskreise, Außer-Kraft-Setzen der Jährlichkeit, des Brutto-Prinzips) spricht jedoch nichts dagegen, Dienstleistungen von Vorlieferanten zu "kaufen" bzw. an andere zu "verkaufen" (so die Praxis in den USA).

Dazu ist zu fragen: was sind die erfolgsfördernden und die erfolgshemmenden Faktoren zur Realisation einer virtuellen Organisation ?

Erfolgsfördernde Faktoren sind die

Erfolgshemmende Faktoren sind:
Bibliotheken kommen somit nicht an der Frage vorbei, wie sie Potentiale der neuen Informationstechnologien durch eine strategische Redefinition der eigenen Rolle und ihrer Verbundsysteme durch neue Organisationsformen von Netzwerkbeziehungen erschließen können.

Literaturverzeichnis:

Byrne, John A.; Brandt, Richard; Port, Otis: The Virtual Corporation. In: Business Week 8.2.1993, S. 36-40.

Fischer, Klaus u.a.: Intelligente Agenten für das Management Virtueller Unternehmen. In: Information Management 1996, S. 38-45.

Porter, Michael E.; Millar Victor E.: How Information gives you competition advantage. In: Harvard Business Review Heft 4 1985.

1) Markt im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext ist eine Bezeichnung für die (abstrakte) Gesamtheit aller möglichen Geschäftsbeziehungen zwischen "Käufern" (Nachfrager) und "Verkäufern" (Anbieter) hinsichtlich bestimmter Güter bzw. Dienstleistungen in einem öffentlichen Rahmen

2) UnCover Company, Denver, CO (USA)

3) In welchem Ausmaß bibliothekarische Dienstleistungen öffentliche Güter bleiben, trifft den Kern gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Die Grundversorgung wird in Zukunft nur noch die Frage eines politisch definierten Niveaus sein. Die Spaltung des Marktes in einen privaten und einen öffentlichen läßt sich sicherlich nicht mehr aufhalten.


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