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Bibliotheksdienst Heft 4, 1996

Expreß-Fernleihe - Auf zu neuen Ufern?

Ein Erfahrungsbericht der Universitätsbibliothek Konstanz

Gunnar Wilsdorf

An den Bibliotheken der Universitäten Stuttgart und Konstanz wurde in der zweiten Jahreshälfte 1995 ein neuer Fernleihe-Service angeboten. Angeregt durch die vielfach geäußerte Kritik von Benutzer/Innen, daß der normale Fernleihe-Service aufgrund langer Lieferfristen sehr unattraktiv sei, war es das Ziel des Projekts, diese Fristen entscheidend zu verkürzen. Zurückgegriffen wurde dabei auf die bei den meisten Bibliotheken bereits bestehenden Expreß-Service-Angebote. Neben der Erfassung des Bedarfs, ging es zudem um die Frage, in welchem Umfang die deutlich höheren Kosten dieses Services auf die Benutzer/Innen überwälzt werden könnten. Für den Versuchszeitraum konnte die Finanzierung durch Landessondermittel sichergestellt werden.

Das Angebot in Konstanz umfaßte die Möglichkeit, Zeitschriftenartikel wahlweise innerhalb einer 24- bzw. 48-Stunden-Frist anzufordern, wobei sich bei fristgerechter Lieferung der Gebührensatz auf DM 10,- bzw. DM 5,- erhöhte. Innerhalb der Universität Konstanz stand der Service zunächst nur ausgewählten Lehrstühlen offen, wurde aber nach kurzer Zeit aufgrund des geringen Rücklaufs allen Benutzergruppen zur Verfügung gestellt. In die Auswertung wurden entsprechend nur Daten, die nach dieser Öffnung erhoben wurden, einbezogen. Als liefernde Partner wurden sowohl Bibliotheken als auch Lieferdienste1) in Anspruch genommen. Letztere wurden allerdings nur in geringem Ausmaß kontaktiert. Die Ergebnisse dieses Projekts werden im Folgenden vorgestellt.

1. Benutzergruppen und Bestellprofil

Die sogenannte Expreß-Fernleihe stieß bei den Benutzer/Innen auf ein breites Interesse. Insgesamt gingen 300 Bestellungen ein, von denen knapp die Hälfte auf Studierende entfielen, während Mitarbeiter/Innen und Externe je ein Viertel ausmachten. Betrachtet man den Bedarf in Abhängigkeit vom Bestelldatum, ergibt sich ein erhöhter Bedarf von Studierenden und Externen während der vorlesungsfreien Zeit. Bei den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen läßt sich dagegen eher ein gleichmäßiger Bedarf feststellen (abgesehen von dem Ausreißer im Oktober).

JuliAug.Sept.Okt.Nov.Dez.
gesamt555172342959
Studierende37253261234
Mitarbeiter/Innen1071224109
Externe819284716

Deutlicher werden die Trends in der nachfolgenden Grafik: (Grafik einfügen)

Bei der Untersuchung der Erfolgsquote der Bestellungen (Erfolg wird hier definiert als die fristgerechte oder schnellere Lieferung des bestellten Artikels) weist die Gruppe der Mitarbeiter/Innen erneut ein von den anderen abweichendes Ergebnis auf. Ihre Erfolgsquote ist deutlich niedriger.

BenutzergruppeErfolgsquote in %
Studierende80,1 %
Mitarbeiter/Innen51,4 %
Externe75,6 %

Insgesamt ergibt sich, zumindest aus Sicht der Benutzer/Innen, eine erfreuliche Bilanz. Die Erfolgsquote liegt im gewichteten Durchschnitt zwar nur bei 72%, doch da der größte Teil der zu spät gelieferten Bestellungen die Frist nur knapp überschritt, ist der "Beschleunigungseffekt" für die Benutzer/Innen noch höher anzusetzen. In Anbetracht des bei den Bibliotheken zusätzlich anfallenden Aufwands durch die Expreßfernleihe, besonders in Form der im Vergleich zur normalen Fernleihe sehr hohen Gebühren, kann allerdings nur die eigentliche Erfolgsquote relevant sein.

Eine genauere Betrachtung des Bestellprofils der einzelnen Benutzergruppen ergibt weitere Differenzen.

1. Studierende

Bestellartgesamterfolgr. 1)in %schnellerin %zu spätin %nicht geliefert 2)in %
48h1381118o,4836o,11913,885,8
24h8675 0 3)022500

    1) alle Bestellungen, die innerhalb der Frist oder schneller geliefert wurden
    2) auf Grund falscher Angaben der Benutzer/Innen o. ä. konnten einige Bestellungen nicht beschafft werden. Auf die gründe wird bei der Untersuchung des Lieferverhaltens der einzelnen Bibliotheken näher eingegangen
    3) da keine genauen Uhrzeiten festgehalten wurden, läßt sich keine Aussage machen

2. Mitarbeiter/Innen

Bestellart 1)gesamterfolgr.in %schnellerin %zu spätin %nicht geliefertin %
48h291551,71034,51344,813,4
24h432251,2001432,6716,3

    1) es gelten die Fußnoten der Tabelle 1. Studierende

3. Externe

Bestellart 1)gesamterfolgr.in %schnellerin %zu spätin %nicht gelie-fertin %
48h735676,74460,379,61013,7
24h9666,700222,2111,1

    1) es gelten die Fußnoten der Tabelle 1. Studierende

Während der überwiegende Anteil der Anfragen von Studierenden und Externen in der 48h-Kategorie liegt, ist der Bedarf der 24h-Bestellung bei den Mitarbeiter/Innen deutlich ausgeprägter. Knapp 60 % der Anfragen fallen in die 24h-Kategorie. Die ist jedoch keine Begründung für die niedrige Erfolgsquote, da sie, wie auch bei den anderen Benutzergruppen, in beiden Kategorien fast gleich ist. Ebenso auffallend ist der hohe Prozentsatz der zu spät gelieferten Bestellungen der Mitarbeiter/Innen. Eine der Ursachen hierfür könnte ein qualitativ anderer Bedarf dieser Benutzergruppe sein. An Hand der erfaßten Daten lassen sich diesbezüglich allerdings keine klaren Aussagen ableiten. Der sehr geringe Anteil der 24h-Bestellungen bei Studierenden und Externen wird vermutlich auf den hohen Preis zurückzuführen sein. Während Mitarbeiter/Innen die anfallenden Kosten über Kostenstellen abrechnen können, stand bei den anderen Benutzergruppen dem Zeitdruck das eigene Budget gegenüber. Die trotz allem rege Beteiligung der Studierenden deutet darauf hin, daß mit der 48h-Fernleihe ein guter Kompromiß gefunden wurde.

2. Fachbereiche

Um ein möglichst differenziertes Bedarfsprofil zu erhalten, wurden neben den Benutzergruppen auch nach Fachbereichen unterschieden. Der sehr heterogene Bereich Sozialwissenschaften wurde in vier Bereiche unterteilt, um eine zu hohe Datenaggregierung zu vermeiden. Natur- und Geisteswissenschaften wurden als Ganzes betrachtet.2)

FachbereichgesamtStudierendeMitarbeiter/InnenExterne
1Naturwissen.87231936
2Sozialwiss. ohne 3,4,57026246
3Jura4022
4VWL88491321
5Psychologie60331017
6Geisteswiss.181440

Überraschend ist die relativ klare Trennung in Fachbereiche mit hohem und Fachbereiche mit niedrigem Bedarf. Fest steht aber, daß nicht allein die Naturwissenschaften von diesem Service profitieren, sondern eine breite Benutzergruppe.

Gewichtet man den Bedarf nach der Anzahl der Studierenden in den jeweiligen Fachbereichen, verschiebt sich das Bild nur unwesentlich. Die folgende Tabelle beinhaltet die Beteiligung in Prozent der in den jeweiligen Fachbereichen eingeschriebenen Studierenden.

Naturwiss.Sozialwiss.JuraVWLPsychologieGeisteswiss.
4,230,214,4101

Vorausgesetzt, daß alle beteiligten Studierenden genau eine Bestellung durchführten, ergibt die Tabelle, daß beispielhaft 14,4 % aller Studierenden im Fachbereich VWL die Expreß-Fernleihe in Anspruch genommen haben. Faßt man den gesamten sozialwissenschaftlichen Bereich wieder zusammen, haben sich insgesamt 3,9 % der Studierenden beteiligt. Damit liegt der Bedarf fast auf gleicher Höhe mit dem in den Naturwissenschaften von 4,2 %.

3. Bibliotheken und Lieferdienste

Da einige Bestellungen mehrere Bibliotheken durchliefen, wird in diesem Abschnitt eine Grundgesamtheit von 328 Vorgängen verwendet. Auch das Erfolgskriterium wird aus der Sicht der liefernden Stellen definiert. Liefert z. B. eine Bibliothek eine 24-Stunden-Bestellung fristgerecht, gilt diese Lieferung hier als Erfolg, auch wenn sie erst als zweite oder dritte angefragt wurde und aus Sicht des Benutzers keine rechtzeitige Lieferung erfolgte.

Insgesamt wurden 45 Stellen kontaktiert, wobei eine starke Konzentration zu erkennen ist. Über 50 % der Bestellungen entfielen auf nur vier Bibliotheken. Am häufigsten wurde die Kölner Zentralbibliothek der Medizin angefragt. An sie gingen 55 Anfragen bzw. 17 % des Gesamtaufkommens. 24 Bibliotheken erhielten jeweils nur eine Bestellung.

Die Häufigkeit, mit der die Bibliotheken konsultiert wurden, korreliert mit ihrer Lieferverläßlichkeit. Auffallend ist, daß gerade diese Bibliotheken im Rahmen der normalen Fernleihe sehr langsam bzw. unzuverlässig arbeiten. 32 Bestellungen konnten nicht geliefert werden. In sieben Fällen war dies auf falsche Benutzerangaben zurückzuführen, so daß diese Fälle aus der Wertung genommen wurden. Bei den übrigen 25 Anfragen stand der bestellte Artikel zum Bestellzeitpunkt nicht zur Verfügung. Diese Situation wurde wie eine nicht fristgerechte Lieferung als Mißerfolg gewertet.

BibliothekVorgängeerfolgreichin %
Kölner Zentralbibl. d. Medizin554480,00
Saarländische Universitäts- und Landesbibl., Saarbrücken402767,50
Kieler Zentralbibl. der Wirtschaftswissenschaften352880,00
Staatsbibl. zu Berlin (1A)352674,30
Hannoversche Universitätsbibl.292482,70
Bayerische Staatsbibl.231878,30
Niedersächs. Staats- und Universitätsbibl. Göttingen16531,30
Staatsbibl. zu Berlin (1) 8675,00
Senckenbergische Bibl. Frankfurt a. M.66100,00
Saarländische Universitäts- und Landesbibl./Medizinische Bibl. Homburg6583,30

Die gewichtete durchschnittliche Erfolgsrate der zehn am häufigsten kontaktierten Bibliotheken liegt bei 74,7 %. Lediglich die Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek Saarbrücken und die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen unterschreiten diesen Wert deutlich, wobei letztere das von allen Beteiligten mit Abstand schlechteste Ergebnis erzielte.

4. Kosten

Die 300 Expreß-Fernleihen verursachten insgesamt Kosten von DM 7.027,-, denen Einnahmen von DM 1265,- gegenüber standen. Es ergibt sich somit ein Nettomehraufwand von ca. DM 5800,- pro Halbjahr. Da in Konstanz die Expreß-Fernleihe seit Beginn 1996 den externen Benutzern nicht mehr zum subventionierten Preis angeboten wird, dürfte das Bestellaufkommen für das gesamte Jahr 1996 ca. 500 Aufträge umfassen. Der Finanzbedarf läge dann bei ca. DM 10.000,- pro Jahr.

5. Fazit

Bei dem in Konstanz durchgeführten Projekt ist es gelungen, alle Benutzergruppen aus fast allen Fachbereichen mit dem neuen Service anzusprechen. Zwar war das Bestellvolumen von 300 Stück gegenüber der Standard-Fernleihe mit 15.000 Bestellungen vergleichsweise gering, doch wird dieser Service ventilartig auch den besonders dringenden Bedürfnissen der Benutzer/Innen gerecht. Eine generelle Alternative zum bestehenden Fernleih-System oder ein neuer Standard sollte damit nicht geschaffen werden. Vielmehr ging es um die sinnvolle Ergänzung der für den Wissenschafts- und Lehrbereich unverzichtbaren Institution Fernleihe. Das große Interesse, gekoppelt mit einer hohen Erfolgsquote und relativ niedrigen Kosten hat dazu geführt, daß die Expreß-Fernleihe seit Beginn 1996 an der Universitätsbibliothek Konstanz zu einem festen Bestandteil des Fernleihe-Angebots geworden ist.

1) Im Folgenden wird zwischen Bibliotheken und kommerziellen Lieferdiensten nicht weiter differenziert.

2) Sozialwissenschaften: Soziologie, Erziehungswissenschaften, Geschichte, Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaft, Informationswissenschaften (Jura, VWL, Psychologie, einzeln aufgeführt)
Naturwissenschaften: Biologie, Chemie, Physik, Mathematik, Statistik
Geisteswissenschaften: Literaturwissenschaften, Philosophie


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