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Bibliotheksdienst Heft 1, 1996

Konzertierte Aktion PubliCA hat sich konstituiert

Hans-Peter Thun

Die Europäische Kommission, Generaldirektion XIII, hat ein neues Gremium begründet, eine in ihrem Bestehen zeitlich befristete, sog. Konzertierte Aktion, die als Namen das Akronym PubliCA trägt. "Publi" weist darauf hin, daß es sich um public libraries handelt, "CA" ist die Abkürzung für Concerted Action. Konzertierte Aktionen sind nicht neu in der Arbeit der Europäischen Kommission, so gibt es z. B. COBRA, die Concerted Action on Computerised Bibliographic Record Actions oder CAMILE, Concerted Action on Management Information for Libraries in Europe.

Etwa 35 Vertreter aus Öffentlichen Bibliotheken der Mitgliedsstaaten waren zu einer konstituierenden Sitzung am 7.11.1995 in Luxemburg eingeladen worden, auf der es zur Formulierung von Aufgaben und künftigen Aktionen von PubliCA kommen sollte. Die Teilnehmer setzten sich zum größten Teil zusammen aus Bibliotheken, die in bisherige Projekte oder nicht positiv evaluierte Vorschläge involviert waren.

Warum PubliCA? Für deutsche Bibliotheken könnte man die Beweggründe, die zur Gründung dieses Gremiums geführt haben, aus zwei Einleitungssätzen des von der Generaldirektion XIII zu dieser Sitzung vorbereiteten background document entwickeln. Es heißt dort:

"Public libraries traditionally play an important role in the provision of information to the citizen... In the information environment which is moving towards the Information Society, public libraries must continue their traditional role of easy and free access to various kinds of information for all and at the same time foster change and meet the challenges that the technologies offer."

In diesen beiden Sätzen, die die Luxemburger so selbstverständlich nie-

dergeschrieben haben, werden sich die meisten deutschen Öffentlichen Bibliotheken weder hinsichtlich Selbstverständnis noch Praxis wiedererkennen. Oder wer wollte behaupten, daß deutsche Öffentliche Bibliotheken traditionell eine bedeutende Rolle in der Informationsversorgung spielten und nun diese traditionelle Aufgabe auf dem Wege in die Informationsgesellschaft weiterzuentwickeln bestrebt seien. Das, was hier mit den Worten der Europäischen Kommission beschrieben wird, ist zwar auch eine Bibliothekswirklichkeit, aber nicht unsere, ist die Sichtweise einer fest mit den Grundwerten von Freiheit und Demokratie verwurzelten öffentlichen Informations- und Bibliothekstradition nordamerikanischer und britischer Provenienz, die auf den wechselseitigen Beziehungen öffentlichen Bewußtseins und öffentlicher Wertschätzung für Bibliotheken einerseits und öffentlicher Akzeptanz andererseits beruht und nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern der EU keine Entsprechung hat.

Die Öffentliche Bibliothek, gleichgültig, unter welchen gesellschaftlichen, kulturellen oder finanziellen Bedingungen sie begründet wurde, hat eine facettenreiche Skala denkbarer oder nachweisbarer Aufgaben, und davon ist die Informationsaufgabe nur eine. Je nach seinen Zielen und Möglichkeiten wird der Staat mehr oder weniger großen Wert darauf legen, seinen Bürgern möglichst viele Informationszugänge zu öffnen, je nachdem, was er seinen Öffentlichen Bibliotheken zutraut, wird er ihnen eine Rolle in der Informationsversorgung übertragen, und abhängig davon, wie gut die Bibliotheken diese Rolle spielen und wie mündig der Bürger ist, wird dieser ein solches Angebot annehmen und nutzen. Öffentliche Bibliotheken sind Spiegelbilder ihrer nationalen und gesellschaftlichen Zustände, und die Maßstäbe, an denen sich ihre Qualität mißt, sind eigentlich vornehmlich nationale. Man könnte es kraß ausdrücken: Jedes Land hat die Öffentlichen Bibliotheken, die es verdient. Man kann es aber auch gebildeter sagen: Eine deutsche oder portugiesische Öffentliche Bibliothek muß nicht schon deshalb schlechter sein, weil sie anders ist als eine englische, sie entspricht zunächst nur einem anderen Bewußtsein und anderen Verhältnissen.

Nun gibt es aber zwei Punkte, die beachtet werden müssen. Der eine betrifft den nationalen Aspekt: Wir sind auf dem Wege zu einem vereinten Europa, und das heißt, daß man, wenn man gleichen Verhältnissen für alle europäischen Bürger möglichst nahe kommen will, die nationalen Maßstäbe nicht mehr zum Maß aller Dinge machen kann. Auch die Konzeption und die Qualität der Dienstleistungen Öffentlicher Bibliotheken in Europa müßte man daher jetzt und künftig in verstärktem Maße unter europäischem Blickwinkel betrachten und auf einen Ausgleich von unterschiedlichen Bedingungen in den Mitgliedsstaaten hinarbeiten. Der zweite Gesichtspunkt ist die internationale Konzeption: Gleichgültig, wieviel Gewicht man bisher in den einzelnen Ländern auf die Informationsaufgabe gelegt hat, gilt es als international allgemein akzeptierte Prognose, daß wir uns, bedingt durch die Entwicklung der elektronischen Informationstechnologien, insbesondere hinsichtlich der Digitalisierung und Verbreitbarkeit, gesellschaftlichen Zuständen nähern, die es rechtfertigen, den Begriff "Informationsgesellschaft" zu prägen, eine Gesellschaft, in der der Zugang zu digitalisierten Informationen sowohl für den Einzelnen als auch für Gruppen, Berufe und Industrie jene lebenswichtige Bedeutung erlangen soll, die bereits für die gegenwärtige und nun fast schon hinter uns liegende Dienstleistungsgesellschaft prophezeit wurde, ohne daß dieses für unser Land und unsere Öffentlichen Bibliotheken so sichtbar eingetreten wäre.

Daher bemüht sich die EU über ihr Telematics-Bibliotheksprogramm, die Implementierung von Informations- und Telekommunikationstechnik auch in Öffentlichen Bibliotheken zu fördern, unterschiedliche Entwicklungsstände in den Mitgliedsländern auszugleichen und die Bibliotheken auf die vor uns liegenden Aufgaben vorzubereiten. Da es den europäischen Standard im Öffentlichen Bibliothekswesen aber nicht gibt, ist es nicht verwunderlich, wenn das Telematics-Programm im Bereiche der Öffentlichen Bibliotheken schnell auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung stoßen muß. Wer die bewilligten Projekte und Studien genau betrachtet, wird eine deutliche Tendenz feststellen: Diejenigen, die sich erfolgreich durchsetzen und die führende Rolle in den Maßnahmen spielen, sind vorwiegend die Länder, die die eingangs beschriebene Sichtweise der Europäischen Kommission in Selbstverständnis und Praxis teilen und es daher verstehen, die erfolgreiche Antrags- und Projektsprache zu sprechen. Die anderen Länder sind vielfältig beteiligt, aber sie sind nicht die eigentlichen Trendsetter des Programms. Während im wissenschaftlichen Bibliothekswesen, wo die Unterschiedlichkeiten nicht so stark ausgeprägt sind, sich diese Tendenz auch nicht so stark auswirkt, muß sie bei den Öffentlichen Bibliotheken dazu führen, daß die Ressourcen für erfolgversprechende Projektideen und Modellversuche schnell verbraucht sind und sich damit die breite Basis nicht herstellen läßt, die zur Beseitigung der Unterschiede erforderlich wäre, vielmehr die Gefahr entsteht, daß die Fortschrittlichen noch fortschrittlicher und die Rückständigen noch rückständiger werden.

Es ist wohl nicht sehr gewagt zu behaupten, daß in viel zu vielen europäischen Ländern den Bibliothekaren in Öffentlichen Bibliotheken noch das Gefühl fehlt für das internationale fachliche Umfeld, in dem sie sich bewegen, sobald sie daran gehen über europäische Telematics-Projektvorschläge nachzudenken. Diese Orientierung ist aber die Grundbedingung für die oben erwähnte "Projektsprache", für die Fähigkeit, die Desiderate zu identifizieren, den Kompromiß zwischen eigenem Nutzen und europäischer Perspektive zu finden und dem Ganzen dann den europäischen Rahmen in Organisation und Partnerschaften zu geben, der Erfolg verspricht. Wer aber kann von sich sagen, daß er hinsichtlich bereits in den Konturen sichtbarer künftiger Konzepte und gegenwärtig durchgeführter Projekte zum Thema "Öffentliche Bibliothek der Zukunft" informiert wäre? Während man in den USA und Großbritannien doch zunehmend beginnt, die seit Jahrzehnten bestehenden konventionellen Netze trotz vielfältiger finanzieller Probleme mit moderner Informationstechnologie umzugestalten, und in den USA FreeNets und viele andere Kooperationen entstehen, an denen die public libraries sich beteiligen, weiß man im allgemeinen bei uns wenig über Projekte wie GAIN, P.A.T.H., CLIP, IT-POINT oder EARL, und andere Kürzel wie STUMPERS oder BUBL werden den meisten Kollegen auch nicht sehr vertraut sein. Stattdessen lesen wir in unserer Zeitschrift BuB, daß Öffentliche Bibliotheken bei ihrem Leisten, dem Gedruckten, bleiben sollten. Das dürfte aber kein typisch deutsches Problem sein, sondern ein allgemeines, durchschnittlich europäisches, fällt nichtsdestoweniger nicht unter die Rubrik Zukunftsperspektiven und Visionen.

Wen nimmt es da wunder, daß die Europäische Kommission als einen Hauptbeweggrund zur Einrichtung von PubliCA die deutlich artikulierte Unzufriedenheit mit dem Ergebnis des 3. Call for Proposals nennt; sie spricht in diesem Zusammenhang wörtlich von "enttäuschend" und führt als vermutete Gründe an:

Daß daneben, wie in Gesprächen am Rande der Sitzung zum Ausdruck kam, auch die zu hohen bürokratischen Hürden und die Notwendigkeit, Projekte sowohl gegenüber dem eigenen Träger als auch gegenüber der Europäischen Kommission erfolgreich vertreten zu müssen, eine für die Personalkapazität Öffentlicher Bibliotheken große Behinderung darstellt, soll nicht verschwiegen werden, ebensowenig nicht die bereits zuvor angesprochene mangelnde fachliche Orientierung.

PubliCA soll sich nun dieser Schwachstellen annehmen. Sie soll kein "talk shop" (wie schön, daß die Vorsitzende der Sitzung diesen Begriff nicht ins Deutsche übersetzte) werden, sondern konkrete Aktivitäten entwickeln, die die beschriebene Situation und damit mittelfristig die Qualität der Projektvorschläge verbessern helfen. Manches kann PubliCA sicher nicht verändern: die technischen Voraussetzungen in den Mitgliedsländern nicht, auch nicht deren unterschiedlichen Entwicklungsstand. Aber PubliCA könnte sehr wohl für den Zeitraum ihrer beschränkten Lebenserwartung das als fehlend bezeichnete kollegiale Netzwerk sein, könnte durch vielfältige Informationsaktivitäten die Inhalte der einschlägigen internationalen bibliothekarischen Fachpublikationen verbreiten, über neue Projekte und inspirierende Beispiele berichten, Studienfahrten und Fortbildungsveranstaltungen der Europäischen Kommission organisieren, Kontakte vermitteln, kurz: Die fehlende Orientierung schaffen und den Informationsaustausch beschleunigen, Interesse vielleicht sogar bei den politisch Verantwortlichen bewirken.

Die konstituierende Sitzung diente zunächst nur der Sondierung des Terrains und dem Kennenlernen von Personen und Problemen.

Jens Thorhauge von der Danmarks Biblioteksskole stellte die erste konkrete Aufgabe der CA vor, die Planungen für die Studie " Public Libraries and the Information Society", die mit einer Laufzeit von etwa 6 Monaten ab Januar 1996 beginnen wird und mit Hilfe von Case Studies in einigen ausgewählten europäischen Bibliotheken und durch ergänzende Länderberichte die Situation auf dem Gebiet der IT-Anwendungen in europäischen Öffentlichen Bibliotheken erkunden, inspirierende Beispiele vorstellen und Vorschläge für künftige Entwicklungen machen soll. Die kleine Studie wird unter der Leitung der Dänischen Bibliotheksschule gemeinsam mit Statens Bibliotekstjenste und dem Deutschen Bibliotheksinstitut durchgeführt, wobei über die Mitglieder dieses Konsortiums noch einige Subkontraktoren beteiligt werden. PubliCA soll als eine Art Steuerungsgremium für die Studie tätig werden.

Frank Daniel, Stadtbücherei Köln, berichtete über ein neues gemeinsames Projekt seines Instituts mit der Stadtbibliothek Eindhoven und dem Philips Konzern und Chris Batt, Croydon, über das gegenwärtig laufende Projekt CLIP, Croydon Libraries Internet Project. Maija Berndtson, Helsinki Stadtbibliothek, informierte die Teilnehmer über die interessante neue Cable Book Library in Helsinki.

Die Teilnehmer stimmten der von Ariane Iljon und ihrem Team detailliert vorbereiteten Beschreibung der fachlichen Ziele und Aufgaben zu, konnten aber in der Kürze der verfügbaren Zeit die Planung konkreter Aktivitäten noch nicht in Angriff nehmen. Zu diesem Zweck wird sich eine Planungsgruppe unter der Leitung von Chris Batt, Croydon, zusammensetzen und Vorschläge ausarbeiten.

Informationen zu:

PubliCA und Studie Public Libraries and the Information Society:
Hans-Peter Thun, Deutsches Bibliotheksinstitut, Luisenstraße 57, 10717 Berlin, Tel.: (0 30) 2 31 19-4 21

Hier ist auch ein kleines aktuelles Literaturverzeichnis zum Thema der Studie erhältlich.

Projekte der Stadtbücherei Köln:
Frank Daniel, Stadtbücherei Köln, Josef-Haubrich-Hof 1, D-50676 Köln, Tel.: (02 21) 2 21-39 33

Croydon Libraries Internet Project CLIP:
Chris Batt, Central Library of Croydon, Katherine Street, Croydon Clocktower, GB-Croydon CR9 1ET, Fax: (0 44) 18 12 53-10 04

Cable Book Library:
Maija Berndtson, Helsinki City Library, Rautatieläisenkatu, P.O.B. 128, FIN-00520 Helsinki, Fax: (0 03 58) 01 59-75 17

siehe auch: EBLIDA-Newsletter 2, 1995, S.17


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