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Bibliotheksdienst Heft 1, 1996

100 Jahre Filmgeschichte und mehr

Die Film- und Videobibliothek der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen

Peter Bossen

Bei den Hamburger Öffentlichen Bücherhallen handelt es sich um ein großstädtisches Bibliothekssystem mit je einer Zentral- und Musikbibliothek, 52 Bibliotheken in den Stadtteilen und 2 Fahrbibliotheken. Hier finden Hamburgs Bürger einen ausleihbaren Gesamtbestand von ca. 1,8 Millionen Medieneinheiten, davon 10.794 Videos (Stand: 31.12.1994), der größte Teil davon wiederum in der Film- und Videobibliothek, der jüngsten Einrichtung des Systems.

Umfeld

Die Film- und Videobibliothek befindet sich in den Zeise Hallen im Stadtteil Altona, einer ehemaligen Schiffsschraubenfabrik, die zu Beginn der neunziger Jahre mit großem Aufwand zu einem Film- und Medienzentrum umgebaut wurde. Heute findet man hier und in der unmittelbaren Umgebung die Institutionen der Hamburger, aber auch der europäischen Filmförderung, Firmen, die sich mit der Produktion oder dem Verleih von Filmen befassen, ein Frauenfilmarchiv, das Filmhaus mit Möglichkeiten der Bearbeitung von Filmen, ein Kino mit drei Sälen und nicht zuletzt das Institut für Musiktheater, Theater und Film der Hamburger Universität, in dem die Studenten für den Bereich Film lernen sollen, Regie zu führen oder ein Drehbuch zu schreiben.

Bei einer solchen Konzentration von Menschen, die auf professionelle Weise mit Film zu tun haben, konnte ein hohes Informationsbedürfnis vorausgesetzt werden. Das führte dazu, daß von Anfang an in die Planung der Zeise Hallen eine Bibliothek mit einbezogen wurde. Das Zentrum wurde im März 1993 eröffnet, die Bibliothek drei Monate später am 23. Juni 1993.

Bestand

Trotz ihres professionellen Umfeldes war die Film- und Videobibliothek von vornherein nicht als Fachbibliothek für einen kleinen Kreis von Insidern konzipiert, sondern als Öffentliche Spezialbibliothek, in der sowohl der Benutzer mit professionellem Hintergrund seinem Informationsbedürfnis nachgehen kann als auch der filmbegeisterte Laie, der sich weitergehend mit dem im Kino oder Fernsehen Gesehenen auseinandersetzen möchte. Dementsprechend breit ist das Spektrum des Bestandes, das von der Hochglanzzeitschrift und dem populären Bildband bis zum Fachblatt mit den neuesten Nachrichten aus dem Business und dem Fachbuch beispielsweise zum Thema des elektronischen Video-schnitts reicht. Zur Zeit (31.10.1995) hat die Film- und Videobibliothek einen Bestand von 37 Zeitschriften und ca. 2.700 Büchern. Daneben können die Benutzer an einem PC in zwei Filmdatenbanken auf CD-ROM recherchieren (Cinemania und Film Index International).

Videofilme

Das eigentlich Neue für die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen aber war bei der Einrichtung der Film- und Videobibliothek das Medium Video als Bibliotheksmedium. So war deren Eröffnung gleichzeitig Startschuß für das Medium für den Rest des Systems. Zwar hatte es bereits Mitte der 80er Jahre eine intensive innerbetriebliche Diskussion gegeben, die ein Konzept zur Einführung von Video zum Ergebnis hatte, damals noch bestimmt vom jugendschützerischen Gedanken. Kulturpolitiker und die damalige Betriebsleitung standen dem Medium aber ablehnend gegenüber. Erst der allmähliche Wandel im Ansehen des Mediums Video weg vom Schmuddelmedium und die zunehmende Selbstdarstellung der Stadt als Film- und Medienmetropole hat hier zu einer Änderung der Sichtweise beigetragen.

Heute hat die Film- und Videobibliothek einen Bestand von knapp 4.000 Videokassetten. Natürlich soll dieser Bestand eine Alternative zu dem bieten, was in kommerziellen Videotheken vorzufinden ist. Ziel ist, das Medium Film in allen seinen Facetten abzubilden, d. h.

Schwerpunkt ist das Medium Film im Sinne von Kinofilm, allerdings mit einigen Randgebieten, so bleiben z. B. Fernsehproduktionen nicht ausgeschlossen. Das bedeutet aber, daß bestimmte Bereiche der Videoproduktion für die Film- und Videobibliothek grundsätzlich nicht von Interesse sind. Die Film- und Videobibliothek und das restliche System haben sich deshalb auf eine Arbeitsteilung geeinigt, so daß der Benutzer

Leider sind den oben genannten Leitlinien für den Bestandsaufbau Grenzen gesetzt, einerseits - wie überall - durch den Etat, der z. Z. DM 80.000,- jährlich beträgt (was auf den Videobestand bezogen einem Zuwachs von ca. 1.300 Kassetten pro Jahr entspricht). Wesentlich gravierender jedoch wirkt sich die schlechte Lage auf dem deutschen Videomarkt aus, der sich hauptsächlich auf das konzentriert, was im Kino kommerziell erfolgreich war. Filmhistorisch bedeutende oder cineastisch interessante Filme werden hierzulande eher selten auf Video herausgebracht, wenn auch mit steigender Tendenz.

Deshalb wurde verstärkt auf den englischen Videomarkt ausgewichen, der wesentlich differenzierter ist und auf dem in der Regel die meisten der gewünschten Produktionen zu bekommen sind. Diese Filme haben nebenbei noch den Vorteil, daß sie, soweit es sich um Produktionen handelt, die nicht aus dem englischen Sprachraum stammen, in ihrer jeweiligen Originalsprache belassen und lediglich mit englischen Untertiteln versehen worden sind. So ist es zu erklären, daß in der Film- und Videobibliothek Filme in relativ exotischen Sprachen wie japanisch, mandarin-chinesisch oder walisisch zu finden sind. Auch deutsche Streifen, die hierzulande nicht mehr zu bekommen sind, wurden auf diese Weise "reimportiert". Inzwischen handelt es sich bei ca. einem Drittel des Videobestandes um Originalfassungen.

Außenseiter

Wer mit einem solchen Anspruch versucht, die Filmgeschichte aufzuarbeiten und sich in diesem Maße mit Filmfreaks einläßt, wird schnell feststellen, daß es neben der offiziellen Filmgeschichte und dem cineastischen Tagesgeschehen eine große Nachfrage nach Filmen gibt, die beim Abfeiern der in der letzten Zeit so häufig bemühten hundertjährigen Filmgeschichte eher eine Außenseiterrolle spielen. Auch diese dürfen nicht von vornherein ausgeklammert werden, selbst wenn dazu Filme gehören, die man im Bestand einer Öffentlichen Bibliothek eher nicht vermutet, also kein Chaplin oder Bergman, kein Bunuel, Truffaut oder Greenaway.

Gemeinhin bezeichnet man die Filme, von denen hier die Rede sein soll, als Kultfilme. Ein Kultfilm kann nicht geplant werden, er muß sich diesen Status erst verdienen, meist über einen längeren Zeitraum. Oft werden Filme erst durch ihre Wiederentdeckung zu Kultobjekten. "Gemacht" werden Kultfilme von eingeschworenen Fangemeinden, die in einem Film oder einem ganzen Genre bestimmte Zeitströmungen wiederfinden oder mit ihm bestimmte kollektive Erinnerungen verbinden. Ein künstlerisches Niveau erreichen diese Filme selten, oft zeichnen sie sich gerade durch ihre billige Machart aus. "Trash" ist ein Begriff, den man im Zusammenhang mit ihnen oft zu hören bekommt.

Vom Genre her gesehen sind diese Filme häufig miteinander verwandt, fantastische Themen überwiegen, Action gehört dazu. Diese Filme sind physische Filme und sie sind bunt, wenn auch oft in Schwarzweiß gedreht. Gemeinsam haben diese Filme, daß es in ihnen "summt, scheppert, blitzt und rumst - das elektrische Kino verwandelt sich in einen Flipperautomaten."1)

Einige dieser Genres, die sich in der Film- und Videobibliothek steigender Beliebtheit erfreuen, sollen hier kurz Erwähnung finden:

Sicher sind diese Filme für die Videobestände herkömmlicher Öffentlicher Bibliotheken nur sehr bedingt geeignet. Von einer Einrichtung wie der Film- und Videobibliothek kann aber mit Recht erwartet werden, daß auch Phänomene außerhalb der "gemäßigte[n] Mittellagenkultur von 'Bewährtem' und pädagogisch Unbedenklichem"4) dokumentiert werden, um als Kultureinrichtung mit dem oben genannten Anspruch kompetent und glaubwürdig zu bleiben.

Es ist allerdings in diesen zuweilen sensiblen Bereichen besonders wichtig abzuwägen, welcher Film im Rahmen des oben beschriebenen Bestandskonzepts noch eine Daseinsberechtigung hat und welcher nicht. Es erübrigt sich wohl der Hinweis darauf, daß diese Filme in der Film- und Videobibliothek nicht in falsche Hände geraten können, da die Bestimmungen des Jugendschutzes streng eingehalten werden.

Erschließung

Im Hinblick auf die vielen professionellen Benutzer der Bibliothek wird in Bezug auf die Filme eine recht weitgehende Erschließung praktiziert. So ist jeder Film im EDV-Katalog unter folgenden Kriterien zu recherchieren:

Eine inhaltliche Recherche nach Genre oder Originalsprache kann derzeit noch nicht durchgeführt werden, soll aber in Kürze durch ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Bibliothek und Information der Fachhochschule Hamburg ermöglicht werden.

Statistik

Der Bestand der Film- und Videobibliothek hat heute einen Umfang von 6.680 Medieneinheiten, davon 2.726 Bücher und 3.954 Videokassetten, davon

Ende 1994 waren es noch 1.734 Bücher und 2.933 Videos, mit denen ein Ausleihergebnis von 87.779 ME erzielt wurde, von diesen wiederum

Die Videos werden mit einer Leihfrist von einer Woche ausgeliehen, z. Z. besteht noch eine Beschränkung von höchstens drei Videos pro Entleiher. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres ist die Ausleihe gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres bereits um 50 % gestiegen, d. h. daß ein Jahresergebnis von ca. 110.000 ME Ausleihe zu erwarten ist.

Eine Besucherzählung hat ergeben, daß die Film- und Videobibliothek monatlich von ca. 6.900 Benutzern aufgesucht wird. Darüber hinaus haben sich 1994 fast 800 Benutzer in der Film- und Videobibliothek neu angemeldet. Angesichts solcher Zahlen erübrigen sich alle Zweifel an der Existenzberechtigung einer solchen Bibliothek, sofern sie überhaupt noch von jemand gehegt werden.

Aussichten

Der angedachte Zielbestand für die Film- und Videobibliothek liegt bei je 10.000 Büchern und 10.000 Videokassetten. Eine zeitliche Vorgabe oder gar einen Stufenplan zum Ausbau des Bestandes gibt es allerdings nicht. Trotzdem ist dies die vordringlichste Aufgabe. Neben der bereits erwähnten Bestandserschließung nach inhaltlichen Kriterien wurden dieses Jahr noch zwei weitere einschneidende Neuerungen realisiert. Eine war die Einführung von CD-ROM als Ausleihmedium (die Einführung von CDs mit Filmsoundtracks mußte dagegen aus Kostengründen weiter zurückgestellt werden). Daneben hat Ende Juni die video edition des Hamburger Filmbüros in der Film- und Videobibliothek ihre Heimat gefunden. Dieser Verein, der 16 Jahre lang die Aufgaben der kulturellen Filmförderung in Hamburg wahrnahm, hat damit sein Archiv der durch ihn geförderten Filme einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei handelt es sich beim größten Teil der Kassetten um Einzelstücke, also um Filme, die nirgends sonst auf Video zur Verfügung stehen (z. B. von Filmemachern wie Stefan Aust, Tefik Baser, Lars Becker, Valie Export, Romuald Karmakar, Vlado Kristl, Rolf Schübel oder Helke Sander). Es wird also auch in Zukunft aus der Hamburger Film- und Videobibliothek noch Interessantes zu berichten geben.

1) Heinzlmeier, Adolf, Menningen, Jürgen, Schulz, Berndt: Kultfilme. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983. S. 12

2) timecode. No. 5, May 1995. S. 13

3) Meyer, Kai: Dario Argento. In: Enzyklopädie des phantastischen Films. Köln: Coriolan [Loseblattausg.]

4) Nagl, Manfred: Popularmusik für Rentner-Hippies? In: Buch und Bibliothek. Jg. 47 (1995). S. 151


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