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Bibliotheksdienst Heft 1, 1996

AGB-Phone

Telefonische Fristverlängerung per Sprachcomputer

Otto Jagla

1985 wurde die Ausleihverbuchung der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) von fotomechanischer auf eine EDV-gestützte Verbuchung umgestellt. Gleichzeitig wurde zum ersten Mal der Service "telefonische Fristverlängerung" angeboten. Zur Freude der Nutzer konnten sie nun dienstags bis freitags in den Zeiten von 12 - 16 Uhr anrufen, um die Leihfrist ihrer entliehenen Medien pauschal zu verlängern. Diese wöchentlich 16 Stunden reichten anfänglich gut aus, um alle Anrufe abzuarbeiten. Dann kam der Mauerfall und mit ihm eine erhebliche Steigerung der Nutzung der Bibliothek.

Ausleihzahlen:
19891990*1995
1,42 Mio.1,61 Mio.2,41 Mio.

Nutzerneuanmeldungen:
19891990*1995
32.00044.80035.126

Besucherzahlen **:
199319941995
2.7653.7054.888

* 1. Jahr nach der Maueröffnung
** Besucher werden erst seit September 1993 gezählt. Täglicher Durchschnitt in den Septembermonaten.

Zwischen 1989 und 1995 nahmen die Ausleihen um 70 % zu und 1990, ein Jahr nach dem Mauerfall, konnten 40 % mehr Neuanmeldungen verzeichnet werden. Die AGB mußte sich schnell auf diesen Massenansturm einstellen. Wer allerdings geglaubt hat, daß es sich hier um ein vorübergehendes Phänomen handelte, erlebte schon 1991 die nächste Überraschung: Die Nutzerzahlen stiegen und führen seit 1993 regelmäßig zu neuen Besucherrekorden. 1995 werden 77 % mehr Kunden die AGB besucht haben als vor zwei Jahren.

Diese enormen Steigerungen haben selbstverständlich ohne eine entsprechende Veränderung in der Infrastruktur der Bibliothek stattfinden müssen. Die Nutzer mußten nach einem längeren Anlauf oft enttäuscht mit leeren Händen wieder nach Hause gehen. Dies führte dazu, daß die telefonische Auskunft noch mehr in Anspruch genommen wurde. Der Effekt war, daß die Leitungen stundenlang besetzt blieben. Bei der telefonischen Fristverlängerung sah es nicht anders aus. Die Anzahl der Anrufe stieg proportional. Sie lag Anfang 1995 täglich (in 4 Stunden) zwischen 150 und 200. Das bedeutet, daß uns pro Stunde bis zu 50 Leser anriefen, es blieben gerade einmal 1,2 Minuten pro Anruf. Es ist klar, daß sich damit die Beschwerden der Nutzer häuften:

"... ich bin nicht durchgekommen."
"... habe ständig probiert."
"... stand zu lange in der Warteschleife, außerdem sind Ihre Pförtner echt unfreundlich."
"... ich bin nicht bereit, die Versäumnisgebühr zu zahlen, ich hab doch versucht, die Leihfrist zu verlängern."

Es wurde schnell deutlich, daß Versuche, andere Kollegen des Hauses mit PC-Arbeitsplätzen am Service "Telefonische Fristverlängerung" zu beteiligen oder auch Kollegen zu gewinnen, die zusätzlich Telefondienste machen sollten, keine langfristige Alternative sein konnten. Unser Ziel mußte nun sein, den Service erheblich auszubauen und zu verbessern. Am besten wäre es, einen Service rund um die Uhr anzubieten, den Nutzern einen weiteren Bibliotheksbesuch zu ersparen und die knappen Personalressourcen zu schonen.

Erste Kontakte zu Telekommunikationsfirmen, Beobachtungen von Entwicklungen in der Wirtschaft (Post, Banken etc.) machten uns klar, daß nur ein "Voice-System", entsprechend dem Telefonbanking, in Frage kommen konnte. Nach einer Ausschreibung und der Vorlage verschiedener Angebote entschieden wir uns für die Fa. Sietec, einem Tochterunternehmen der Fa. Siemens mit Sitz in Berlin.

Alle Beteiligten, die Fa. HP als Generalunternehmen und Hardwarelieferant, die Fa. MDIS als Lieferant der Urica-Software, die Fa. Sietec und die AGB, machten sich nun an ihre jeweiligen Hausaufgaben: Es mußten vier zusätzliche Telefonleitungen gelegt werden, MDIS hatte eine spezielle Schnittstelle zu ihrer Software zu entwickeln, und die Fa. Sietec entwickelte mit der AGB den Dialog für die Gesprächsführung.

Die technische Lösung sieht folgendermaßen aus:

Hinweis: Graphik "Konfiguration" auf dem WWW-Server leider nicht verfügbar

Am 5. September 1995, nach einer Reihe von Testläufen und Fehlerkorrekturen, fiel der Startschuß für den neuen Service der AGB. Täglich von 6 - 24 Uhr, auch am Samstag und Sonntag, können Leser die Leihfrist ihrer entliehenen Medien pauschal verlängern. Darüber hinaus können die Bürger Informationen zu Öffnungszeiten, Veranstaltungen, Anmeldeformalitäten, Leihfristen und anderen Benutzungsmodalitäten erfragen. Ein Faltblatt, das bisher über 30.000 mal verteilt wurde, informiert über die Handhabung. Bei einem tonwahlfähigen Telefon können die Nutzer per Tastendruck eingeben, ob sie eine bestimmte Information wünschen oder ob sie die Leihfrist verlängern wollen. Erkennt der Computer die Tasteneingabe nicht, so schaltet er automatisch auf Spracherkennung um. Nach Eingabe/Ansage der Nutzernummer und der Kennzahl (das ist das achtstellige Geburtsdatum) wird die Fristverlängerung vorgenommen. Der Leser erhält nun die Information, daß die Leihfrist seiner 5 entliehenen Medien bis ....... (Datum) verlängert wurde. Können einzelne Medien nicht fristverlängert werden, so kann man sich bis zu maximal 5 Signaturen der nicht fristverlängerten Medien anhören. Auch die Gründe der Ablehnung werden genannt (bereits zweimal verlängert, vorbestellt etc.)

Ist der Leser für die Ausleihe gesperrt, so wird er aufgefordert, mit den entliehenen Medien in die Bibliothek zu kommen und sich an einen Mitarbeiter zu wenden. Nach Abschluß der Fristverlängerung kommt man wieder in das Hauptmenü und kann sich nun die Schließtage, die Veranstaltungstermine oder andere Informationen anhören. Ein weiterer Anruf ist nicht mehr nötig, und es entstehen dem Kunden keine weiteren Kosten.

Grundsätzlich erhält jeder Nutzer nach seiner telefonischen Fristverlängerung einen Brief. Es wird somit sichergestellt, daß er über den Erfolg oder Mißerfolg der Fristverlängerung informiert wird, daß er das neue Rückgabedatum erfährt, daß er weiß, welche Medien nicht fristverlängert wurden und die Chance erhält, diese sofort in der Bibliothek abzugeben. Die Bibliothek erhält nach dem Tagesablauf ein Protokoll der telefonischen Fristverlängerungen. Es enthält die Uhrzeit, die Nutzernummer, die Anzahl der Fristverlängerungen und die Anzahl der Medien, die nicht fristverlängert werden konnten.

Die ersten Erfahrungen

Das Interesse an dem neuen Service ist groß. Es werden z. Z. ca. ein Drittel aller telefonischen Fristverlängerungen mit dem "AGB-Phone" erledigt, das sind im Durchschnitt 76 Anrufe täglich. Das bisherige Angebot, dienstags bis freitags einen Mitarbeiter anzurufen, bleibt vorerst weiter bestehen. Ein erheblicher Rückgang der Anrufe ist an dieser Stelle nicht zu verzeichnen. Insgesamt scheinen jetzt noch mehr Nutzer unser Angebot anzunehmen. Ein Teil unserer Leser ist mit dem neuen Angebot sicherlich noch etwas überfordert. Die Benutzernummern werden falsch eingegeben, und die Spracheingabe ist nicht immer klar und deutlich. Insbesondere ausländische Mitbürger, Menschen mit einer undeutlichen Artikulation oder Sprachfehlern werden ohne tonwahlfähiges Telefon Probleme bei der Nutzung des AGB-Phone haben. Deshalb wollen wir auch für einen längeren Zeitraum das alte Angebot für täglich 1 Stunde aufrechterhalten.

In der Telefonzentrale macht sich schon jetzt eine Arbeitserleichterung bemerkbar. Es klingelt nicht mehr so häufig, es beschweren sich keine Benutzer über die Warteschleife, man wird nicht mehr so häufig nach den Öffnungszeiten und anderen Informationen befragt.

Durch die ständig steigenden Ausleih- und Besucherzahlen ist die Entlastung bei den Kollegen in der Benutzungsabteilung kaum spürbar. Hier kann man nur fragen: was wäre, wenn wir die technischen Möglichkeiten nicht ausnutzen würden? Fest steht, daß diese hohen Zahlen nicht mit dem gleichen Personalstand von 1989 zu bewältigen gewesen wären - es hätte neben proportional steigender Personalstellen auch einer Aufstockung der Arbeitsplätze und damit eines Ausbaus der Räume bedurft.

Diese wirklich unlösbaren Rahmenbedingungen konnten nun mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnik in spürbarer Weise wettgemacht werden.

Hinweis: Graphik "Beispieldialog" auf dem WWW-Server leider nicht verfügbar.


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