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HEIKLE STELLEN
Victor Klemperer, dessen „LTI – Notizbuch eines Philologen“ wir luzide Beobach­
tungen auch zur Zensur im Dritten Reich verdanken, war als Freiwilliger im Ersten
Weltkrieg selbst Zensor. Im August 1916 wurde der Romanist aus Kowno nach Leip­
zig abkommandiert, um seinen Dienst im Buchprüfungsamt Ober Ost anzutreten.
Die
Zensurstelle
zog in das neue Gebäude der Deutschen Bücherei. Die Gutach­
ten von Klemperer und seinen Lektorats-Kollegen entschieden mit darüber, welche
Werke zur Einfuhr ins deutsch besetzte Westrussland freigegeben wurden. Entwi­
ckelte Klemperer zunächst noch eine „artistenhafte Geschicklichkeit“ im Aufnden
heikler Stellen, wurden die Gutachten mit der Zeit knapper, die Bücherstapel rasch
kleiner. Schließlich hielt er es „wie die Tee- und Kafeeschmecker, die ihre Kostproben
ausspeien, um ihre Gesundheit zu schonen“. Die Gedanken sind frei – zumindest
die des Zensors, der wie eine Maschine funktioniert: „Verbote und Freigaben kamen
so ordentlich aus mir heraus, wie Schokolade und gebrannte Mandeln aus einem
Automaten“. Als Klemperer Anfang Oktober 1918 aus dem Urlaub kam, teilte ihm
der Portier der Deutschen Bücherei mit, dass die Leipziger Zensurstelle aufgelöst war.
VERKLEIDETE LITERATUR
Sie kommen klein und unverfänglich daher, mal als Reclam-Heftchen mit
fngiertem Cover, mal als Dünndruck in der Schutzhülle eines Zigarettenpa­
pier-Päckchens oder als Rezept-Sammlung: Tarnschriften waren, gerade in den
Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, ein steter Stachel im Fleisch der
Machthaber. Nicht selten nahm die Mimikry seltsame Formen an: Shampoo-
Verpackungen, Fahrpläne, Tourismus-Broschüren, selbst Teebeutel konnten zu
Trägern regimekritischer Botschaften werden. Ratgeber waren – auf allen Seiten
– auch in der psychologischen Kriegführung beliebt: So bot eine als Reclam-
Heft aufgemachte Broschüre kriegsmüden Deutschen Tipps zur Vortäuschung
attestreifer Krankheitsbilder – der Titel des von Nachtbombern der Royal Air
Force abgeworfenen Simulanten-Breviers: „Krankheit rettet“. Klar, dass auch
der Beutel mit echten
Tomatensamen
nicht für gärtnernde Volksgenossen
gedacht war: Statt einer Pfanz-Anleitung enthält er den „Letzten Appell“ des
ausgebürgerten Schriftstellers Gustav Regler. Noch einmal rief Regler, 1933 vor
der Gestapo nach Paris gefohen, im Spanischen Bürgerkrieg verwundet und
im Sommer 1939 im südfranzösischen Lager Le Vernet interniert, die deutschen
Intellektuellen zum Sturz Hitlers auf. Eine Saat, die nicht aufgehen sollte.
GOEBBELS-SCHNAUZE
„Den Rundfunk“, daran ließ Reichspropagandaminister Joseph Goebbels
bereits im März 1933 keinen Zweifel, „werden wir in den Dienst unserer Idee
stellen. Und keine andere Idee soll hier zu Worte kommen“. Aufgrund der
hohen Preise gab es in Deutschland vor 1933 allerdings nur rund vier Milli­
onen Radioempfangsgeräte. Für Goebbels war die Produktion einer billigen
Alternative daher Chefsache: Otto Griesing, Chefkonstrukteur der Firma
Seibt, wurde beauftragt, ein Radio zu entwickeln, mit dem der Deutsch­
landsender auf Langwelle und ein Regionalsender auf Mittelwelle überall
in Deutschland in akzeptabler Qualität empfangen werden konnten. Das
Ergebnis war der
Volksempfänger VE 301
. Er wurde zur Eröfnung der
10. Berliner Funkausstellung im August 1933 präsentiert. Mit 76 Reichs­
mark war er verlockend günstig. Binnen weniger Tage waren 100.000 Gerä­
te verkauft. Bis 1939 stieg die Zahl der angemeldeten Rundfunkhörer auf
15,5 Millionen. Doch vielen Deutschen genügte der als Goebbels-Schnauze
verspottete, schwachbrüstige Bakelit-Klotz bald nicht mehr. Um ausländische
Sender, etwa den Deutschen Dienst der BBC abhören zu können, kauften
sich auch weniger Begüterte teure und leistungsfähigere Geräte. Rund 5.000
Verurteilungen wegen des Abhörens von Feindsendern gab es bis zum
Kriegsende, darunter zahlreiche Todesurteile. Eine Propagandaidee hatte sich
gegen ihre Erfnder gewendet.
INTERGALAKTISCHE FLASCHENPOST
Zur Erforschung des äußeren Planetensystems brachte
die NASA 1977 die beiden Raumsonden Voyager 1
und Voyager 2 an den Start. Mit an Bord: Zwei Daten-
platten mit menschlichen Botschaften, die
Voyager
Golden Records
. Auf den vergoldeten Kupferschei­
ben im Langspielplatten-Format befnden sich Grüße
von Erdbewohnern in 55 Sprachen, natürliche und
künstliche Alltagsgeräusche und 90 Minuten ausge­
wählte Musik – von Bach und Chuck Berrys „Jonny B.
Goode“ bis zu Gesängen der Aborigines. Den Anfang
der Datenspur bilden 116 Fotos, die ein recht harmo­
nisches Bild der Menschheit zeichnen. Die Entwickler
der Golden Record gehen davon aus, dass ihre Zeit­
kapseln locker 500 Millionen Jahre überstehen – und
eine außerirdische Zivilisation mit technischem Know-
how in der Lage sein wird, die Daten zu dekodieren.
Die Gebrauchsanleitung dafür gibt’s auf dem Cover.
Mit gut 60.000 Kilometer pro Stunde rasen die Sonden
derweil weiter der Grenze unseres Sonnensystems ent­
gegen. Bislang blieb die Botschaft unbeantwortet.
WER SCHREIBT, DER BLEIBT
„Wer Dichtung will, muss auch die Schreibmaschine wol­len“, wusste schon Arno
Schmidt. Während Hermann Hesse auf einer Smith Premier No. 4 seine Briefe und
Bücher verfasste, schwört Gün­ter Grass noch immer auf die gute alte Olivetti Lette­
ra 22, einem Modell, das schon Erich Kästner überzeugte. Bertolt Brecht dagegen
war ein Freund der Erika, jener
Reiseschreibma­schine
, die ab 1910 millionenfach
produziert wurde. Auf dieser „Königin der Kleinschreibmaschinen“ tippte Heinz
Thümmler aus dem erzgebirgischen Zwönitz von 1962 bis 1979 unglaubliche 21
Karl-May-Bände ab, die er sich leihweise ver­schaft hatte. Da May in den realsozi­
alistischen Jagdgründen lange verfemt war, Thümmler jedoch seinen Söhnen die
Lesefreuden der ei­genen Kindheit nicht vorenthalten wollte, unterwarf er sich einer
17-jährigen Sisyphusarbeit. Die dabei entstandenen 6.000 Maschinensei­ten lassen
uns an schmerzende Handgelenke denken. Und daran, dass ein Land, das die Lese­
wünsche seiner Bürger reglementieren will, wohl zum Scheitern verurteilt ist.
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