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EINE
GEISTIGE MITTE
Was hat eine Nationalbibliothek mit einer Nationalgalerie, einem
Nationalmuseum und einem Nationaltheater gemein – und was
unterscheidet sie? Ein Essay von Professor Herfried Münkler über
die Hüterin kultureller Identität in Zeiten der Globalisierung.
ILLUSTRATION: NIKITA PIAUTSOU-REHFELDT
Hauptstädte sind, auch wenn sie geografsch nicht im Zent­
rum liegen, die politische Mitte eines Landes. Analog dazu
haben Nationalbibliotheken den Auftrag, so etwas wie die
geistige Mitte einer Kultur zu markieren. Sie tun das nicht
allein, sondern im Zusammenspiel mit Nationaltheatern,
Nationalmuseen und Nationalgalerien – und gelegentlich
stehen sie auch in Konkurrenz zu ihnen. Die politische Mitte
eines Landes lässt sich topologisch präzise bestimmen: Im
Fall des wiedervereinigten Deutschlands sucht man sie im
Reichstag oder im Kanzleramt. Aber die geistige Mitte – wo
liegt sie und wie wird sie sichtbar? Es gibt keine Reporter,
die sie allabendlich belagern, und es ist unklar, ob sie in
der Hauptstadt liegt. Im Fall der Nationalbibliothek ist das
beispielsweise nicht der Fall.
Im Ringen um die Sichtbarmachung der geistigen Mitte hat
die Nationalbibliothek, verglichen mit den Möglichkeiten
des Theaters, der Oper oder der Bildergalerie, die schlechtesten
Karten. Weder spektakuläre Inszenierungen noch aufsehener­
regende Ausstellungen gehören zu ihren Möglichkeiten. Still
und kontinuierlich arbeitet sie an der Markierung der geisti­
gen Mitte. Während Theater und Galerien große Events orga­
nisieren, hat die Bibliothek bloß regelmäßig geöfnet. Sie ist
zu Diensten, ohne davon ein großes Aufheben zu machen.
Sie sammelt und katalogisiert, und ihre eigentliche Leistung
besteht darin, dass sie das vollständig tut und nichts vergisst,
weder im Hinblick auf einzelne Publikationen noch auf neue
Medien und gerade erst entwickelte Informationsträger. Bei
der Pfege der Kultur bewirtschaften Theater und Oper das
Ereignis; die Bibliothek dagegen ist die Hüterin der Konti­
nuität. Galerien und Museen stehen irgendwo dazwischen;
sie präsentieren die Kunst und Geschichte eines Landes in
Dauerausstellungen, haben aber immer auch die Möglichkeit,
in Sonderausstellungen bestimmte Perioden und Aspekte von
Geschichte und Kunst herauszustellen. Aber auch die Dauer­
ausstellungen müssen immer wieder grundlegend überarbeitet
werden. Der Blick auf die eigene Geschichte und das Interesse
an bestimmten Perioden der Kunst haben sich geändert –
oder sollen geändert werden. Dann verschwindet so man­
ches, was bisher im Vordergrund gestanden hat, im Magazin,
und bislang Magaziniertes gelangt in die Ausstellungsräume.
Die kulturelle Identität einer Nation wird neu konturiert. Bei
politischen Umbrüchen, wie sie in der deutschen Geschich­
te des 20. Jahrhunderts mehrfach stattgefunden haben, er­
folgt diese Neukonturierung abrupt und ist grundsätzlicher
Art; ansonsten geht sie langsam vonstatten und erfolgt in
Nuancen. Aber auch so verändert sich der Blick auf die eigene
Kultur und Geschichte.
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