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DIE BUCHHANDLUNG AUF DEM RÜCKEN
Dörfer, die ihre Lektüre nicht auf Bibel, Gebetbuch und Träch­
tigkeitskalender beschränkten, warteten sehnsüchtig auf den Kol­
porteur. Noch im frühen 19. Jahrhundert waren diese Hausierer
für die einfache Landbevölkerung, die keinen Zugang zu Biblio­
theken oder Lesegesellschaften hatte, die wichtigsten Literaturliefe­
ranten und Nachrichtenübermittler. Für sie selbst war der mobile
Schriften-Vertrieb oft die einzige Chance, ihre Existenz zu fristen.
Im südschwäbischen Dorf Eningen lebten zwei Drittel der Bevöl­
kerung davon. Ein harter Job: Der Kolporteur zog mit seinem
Bauchladen oder dem wie ein Rucksack zu schleppenden Trage­
kasten, der sogenannten
Krätze
, von Haus zu Haus. Bis zu 50 Titel
fasste so ein Kasten: Fromme Erbauungsbüchlein, magische Rezepte
und Prophezeiungen, Kalender, Unterhaltungsstof. Manchmal
enthielten die Krätzen auch Geheimfächer für heiße Ware. Mit
ihren strapaziösen Märschen sorgten die Kolporteure – oft selbst
nicht des Lesens mächtig – für die literarische Grundversorgung der
Bevölkerung. Tun wir ihnen Unrecht, wenn wir Kolportage heute
abwertend mit der Verbreitung von Gerüchten und Gesellschafts­
klatsch, den Auswüchsen der Boulevardpresse gleichsetzen? Die
namenlosen, schwer beladenen Vorläufer von Baby Schimmerlos,
dem Klatschreporter aus Kir Royal, haben – auf welch fragwürdige
Weise auch immer – Horizonte erweitert und Lesewünsche geprägt.
PAPIERWELTEN
„Das Theater würde ihm gleich in die Augen springen“, davon ist Hanno
Buddenbrook, als er der Weihnachtsbescherung entgegenfebert, überzeugt. Und
bereits in seiner frühen Erzählung „Der Bajazzo“ erinnert sich Thomas Mann an
Glücksmomente im schummrigen Kinderzimmer: „Ich nahm unmittelbar vor der
Bühne Platz, denn ich war der Kapellmeister, und meine linke Hand ruhte auf
einer großen, runden Pappschachtel, die das einzige sichtbare Orchesterinstrument
ausmachte. Es trafen nunmehr die mitwirkenden Künstler ein, die ich selbst mit
Tinte und Feder gezeichnet, ausgeschnitten und mit Holzleisten versehen hatte,
so dass sie stehen konnten“. In den Bürgerstuben des 19. Jahrhunderts gehört
das
Papiertheater
zu den beliebtesten Kinderbeschäftigungen. Bald fnden neben
Oper und Schauspiel auch Stofe aus Märchen- und Kinderliteratur „multimediale“
Verbreitung. Texthefte, aus denen mit verteilten Rollen vorgelesen wird, erscheinen.
Verlage wie J. S. Schreiber vertreiben Kulissen, Figuren und Requisiten massenhaft
als Ausschneidebögen, wobei die schablonenkolorierte Lithografe, wie bei diesem
traumhaft schönen Exemplar aus dem Haushalt eines Chemnitzer Handschuhfabri­
kanten, zunehmend von der nuancenreicheren Chromolithografe-Technik abgelöst
wird. Längst hat Aschenbrödel an Cinderella und die neueste Playstation überge­
ben. Träumer wie Peter Høeg werden weiter schwärmen: „Es ist nichts, nur Papier.
Und doch ist es die ganze Welt.“
MEDIALE METAMORPHOSEN
„It‘s gone all quiet on the Western Front / Male Angels sigh / ghosts in a fooded
trench / As Germany dies.“ Als Elton John auf seinem 1982er Album „Jump Up!“ den
Song „All quiet on the Western Front“ veröfentlichte, kämpften die Truppen des Ver­
einigten Königreichs gerade auf den Falklandinseln. Natürlich bezieht sich der Pop-Star
auf einen der berühmtesten Anti-Kriegsromane aller Zeiten, Erich Maria Remarques „Im
Westen nichts Neues“ aus dem Jahr 1929, der sich bis zu diesem Zeitpunkt, übersetzt in
über 50 Sprachen, weltweit an die 20 Millionen Mal verkauft hatte. Die traumatischen
Erlebnisse des jungen Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer, der dem Inferno der Schützen­
gräben des Ersten Weltkriegs ausgesetzt ist, waren damals bereits zwei Mal erfolgreich
verflmt worden – der Oscar-prämierten Hollywood-Produktion von 1930 folgte 1979
ein Remake fürs Fernsehen. Ein makabres Zeugnis der medialen Metamorphosen von
Remarques Roman ist die
Blindenausgabe
des Klassikers, die der Propyläen Verlag nur
16 Monate nach der deutschen Erstausgabe vorlegte. Der Horror der Schlachtfelder,
den Remarque so eindringlich schildert, hatte allein in Deutschland 3.500 Kriegsblinde
hinterlassen. Ob auch die Braille-Version, wie viele Exemplare von „Im Westen nichts
Neues“, 1933 auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung landete, ist nicht überliefert.
FABELTIERE
Der wohl berühmteste Vierbeiner in Conrad Gesners „
Vogel-, Fisch-
und Tierbuch
“ ist das Rhinozeros. Über Jahrhunderte kannte man
das panzerhafte Ungetüm nur aus der „Historia animalium“. In
dem vierbändigen, mit prächtigen Holzschnitten bebilderten Werk
beschrieb der Zürcher Universalgelehrte Gesner die um die Mitte des
16. Jahrhunderts bekannte Tierwelt mit enzyklopädischer Gründlichkeit.
Er grif dabei zwar auf die tradierten Vorgaben von Aristoteles oder
Albertus Magnus zurück, ließ sich jedoch, das war neu, von den eige­
nen Naturbeobachtungen leiten. Gesners Ruf als einer der Begründer
der modernen Zoologie wird auch nicht dadurch geschmälert, dass er
in seinem Buch eine Reihe von Fabeltieren auführt: Wer heute von
Paradiesvogel oder Einhorn liest, wird bedauern, dass die Natur nicht
erfunden hat, was Gesner rührend-akribisch nacherzählt. Aber manch­
mal sind die Grenzen zwischen Wissenschaft und Fantasie fießend.
ZWISCHENTÖNE
Es war der Engländer Thomas Bewick, der Ende des 18. Jahrhunderts den mittelalter­
lichen Holzschneider zum Xylografen machte: Im Gegensatz zur tradierten Technik,
mit der Halbschatten oder zarte Grautöne nicht zu schneiden waren, bearbeitete
der Brite hartes Buchsbaumholz quer zur Faser. Plötzlich war es möglich, feinste
Tonabstufungen darzustellen. Detailliert wie ein Kupferstich, doch deutlich wirt­
schaftlicher, erleichterte der Holzstich die Herstellung von Illustrationen in Büchern,
Zeitschriften und Zeitungen – und avancierte zum meistverwendeten Reprodukti­
onsverfahren des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit des Holzstechers blieb gleichwohl
mühsam: Mit einem Stichel wurde das Holz in mikroskopischer Detailversessen­
heit graviert; nicht selten, dass ein ganzes Tagwerk unter eine Fingerkuppe passte.
Die Erfndung der
Tonschneidemaschine
sollte Bewicks Geniestreich noch einmal
revolutionieren: Mit ihrer Hilfe erzeugte der Xylograf nun allerfeinste Schrafuren
im Holzdruckstock – bis die Erfndung der Rastertechnik den Holzstich im Massen­
druck ablöste. Heute, in einer Zeit millionenfach ins Netz gestellter Bilder, befällt
einen zuweilen eine leise Sehnsucht nach Mr. Bewicks Zwischentönen.
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