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Es müssen wohl einige Zehntausend Platten sein, die durch die
Hände von Thomas Schleußner-Schwarz gegangen sind, aber
auf diese unscheinbare Schellackscheibe ist er besonders stolz:
Es ist die einzige Aufnahme von Wilhelm Voigt, dem legen-
dären Hauptmann von Köpenick, aufgezeichnet am Tag nach
seiner Haftentlassung im August 1908. „Damals eine Art akus-
tischer Bildzeitung“, sagt der Mann, der seine Leidenschaft
zum Beruf gemacht hat. Der studierte Musikwissenschaftler
und passionierte Plattensammler arbeitete als Solo-Jazzpianist
und Dozent, war an Buchprojekten beteiligt und schrieb Sen-
dungen fürs Radio, bis er vor gut zehn Jahren beim Deutschen
Musikarchiv einstieg und es mit einem „abgeschlossenen Sam-
melgebiet“ zu tun bekam: der Erwerbung historischer Tonträ-
ger. Dabei reichen die Objekte der Begierde für den 56-Jähri-
gen, der mit Vinyl sozialisiert wurde, bis in die Kindertage des
Mediums um 1880 zurück, in jene Zeit, als Emil Berliner die
Schallplatte erfand.
Schleußner-Schwarz kommt in Fahrt, wenn er von Phonogra-
phenzylindern und der Blütezeit der Schellacks erzählt. Zu An-
fang des letzten Jahrhunderts, als ans Radio noch lange nicht
zu denken war, pressten mehrere Tausend Labels – von berühm-
ten Namen wie „His Master’s Voice“ bis zu kleinen Hinterhof-
klitschen – einen Großteil des Plattenbedarfs für Europa, selbst
für Südamerika und Asien. „Der Markt saugte alles auf, von
der Symphonie bis zur Singenden Säge mit Wasser-Harmonium
und Straßensänger“, erklärt Schleußner-Schwarz. „Die Mecha-
nismen der Pop-Industrie waren damals schon angelegt.“
Sein Ziel, mindestens ein Exemplar aller jemals in Deutschland
hergestellten Schellackplatten fürs Deutsche Musikarchiv zu si-
chern, wird ein Traum bleiben: Ihre Zahl geht in die Millionen,
Firmenunterlagen sind nicht nur zwei Weltkriegen, sondern
Vorstellungen des Wirtschaftlichkeitsdenkens zum Opfer gefal-
len. „Was nicht mehr gebraucht wurde, hat man weggeworfen.“
Wer meint, Thomas Schleußner-Schwarz würde jeden Morgen
rastlos über die Flohmärkte der Republik streifen, sitzt einem
romantischen Irrglauben auf. Er verlässt sein Büro kaum. Einen
Großteil seiner Arbeitszeit verbringt er vor dem Bildschirm; je
zur Hälfte der Woche im Berliner Home-Ofce und im Leip-
ziger Archiv. Er sichtet Auktionskataloge, Mail-Angebote von
Händlern und privaten Sammlern. Erfahrung und beinhartes
Verhandlungsgeschick sind nötig, um auf dem Antiquitäten-
markt erfolgreich agieren zu können. Während gängige Aufnah-
men von Richard Tauber oder Caruso zu Tausenden kursieren,
sind echte Schätze nur mit Glück zu heben. Manchmal muss
dann auch der Raritäten-Jäger im Dienst der Bundesbehörde
dankend ablehnen – so wie damals, als ihm ein ganzer Satz
seltenster Aufnahmen von „Charlie and his Orchestra“ ange-
boten wurde: Swing-Musik aus den 1940ern, im Auftrag von
Goebbels’ Propagandaministerium für den Krieg im Äther ein-
gespielt. „Elf Schellacks, fast neuwertig, 1.000 Euro das Stück.“
Prousts Madeleine – das sind für Schleußner-Schwarz die Töne
aus dem Trichter; all die fernen Geräusche und Stimmen, egal
ob Wilhelm II. oder die knisternden Takes einer Studio-Session
aus den 1920er-Jahren. „Für ein paar Plattenumdrehungen er-
wecken sie etwas zum Leben, was tot, vorbei und vergangen ist.
Das fasziniert mich: Zeit noch einmal zu erleben – akustisch!“
Und die Musik? Bleibt die zwischen zwei Schreibtischen,
historischen Analysen, schweißtreibenden Recherchen und
Ankaufsverhandlungen auf der Strecke? Thomas Schleußner-
Schwarz kann sie immer noch genießen. „Nicht nur mit dem
Kopf“, lacht er, „mit dem Bauch, aber auch mit den Fingern.“
Der Jazzer in ihm will das Gehörte selbst aufs Klavier bringen.
DIE SUCHE NACH DER
VERLORENEN ZEIT
Gesichter der Nationalbibliothek, Leipzig: Thomas
Schleußner-Schwarz hat die akustische Schatzsuche zu seiner
Profession gemacht. Er recherchiert und erwirbt historische
Tonträger für das Deutsche Musikarchiv.
PORTRÄT: NILS KAHLEFENDT FOTO: STEPHAN JOCKEL

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