Seite 52-53 - DNB_Leseraum_FINAL

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44 Jahre alt, auch völlig aus der Welt gefallen. Einstmals waren
wir aber, und einstmals gab es die Friedberger Stadtbibliothek,
und ohne sie wäre ich heute vermutlich gar kein Schriftsteller.
Später wurden die Bibliotheken meines Lebens immer, wie soll
ich sagen, allgemeiner. Unspezifscher. Sie unterschieden sich
nicht mehr allzu sehr von anderen Orten. Im Jahr 2001 saß
ich mit dem Schriftsteller Burkhard Spinnen in irgendeiner
Stadt herum, und er erzählte mir, wie er neulich irgendwo
an einer Universität in der Bibliothek gewesen war. Er saß da
herum, las irgendetwas oder suchte nach irgendetwas, und hin-
ter einem nahe gelegenen Regal hörte er nicht ganz freiwillig
einem Gespräch zu, das sich da entspann. Da das alles, wie ge-
sagt, an der Universität stattfand,
unterlag er, sagte er, zunächst
einem Denkfehler. Indem er zu-
hörte, suchte er nämlich unterbe-
wusst nach dem Gegenstand des
Gesprächs, der zwischen den bei-
den hinter dem Regal verhandelt
wurde. Das Bibliotheksgespräch,
das dort geführt wurde, hatte
aber ofensichtlich keinen Sinn. Als das Burkhard Spinnen ins
Bewusstsein kam, hörte er absichtlich und gespannt weiter zu
und dachte, wie komme jemand nur dazu, sich in einer Biblio-
thek in einer so zusammenhangslosen Weise über im Grunde
überhaupt gar keinen Gegenstand zu unterhalten. Als sei das
Gespräch das genaue Gegenteil dessen, worum es in einer Bi-
bliothek geht. In einer Bibliothek geht es um Konzentration,
um Stringenz und Kohärenz in irgendeiner Form, stets um so
etwas wie Zusammenhang. Das realisiert man meist am bes-
ten in der Form von Schweigen. Oder man verhandelt einen
Gegenstand gemeinsam, füsternd, sachbezogen. Bei diesem
Gespräch hier ging es aber in einer den Zuhörer enervierenden
Art um nichts, und es fand hinter den Bücherregalen einer
Bibliothek statt und war gar nicht einmal leise. Die Sprecher
waren sogar merklich aufgedreht und seltsamerweise innerlich
sehr an ihrem Gerede beteiligt.
Von diesem Widerspruch – Kohärenz versus Zusammenhangs-
losigkeit – immer mehr in die Aufmerksamkeit auf dieses Ge-
spräch gezwungen, inzwischen wohl auch leidlich verstört,
schaute Burkhard Spinnen irgendwann endlich hinter die Re-
galreihe und begrif, worum es ging. Es war so einfach, aber er
hatte es schlichtweg die ganze Zeit nicht verstanden.
Es ging um Fortpfanzung. Da lernte gerade ein Student eine
Studentin kennen oder umgekehrt, und ihr Turteln war für
den Außenstehenden und Unbeteiligten das unbibliotheka-
rischste und sinnleerste Gefasel, das man sich nur vorstellen
konnte. Der Ausdruck „Es ging um Fortpfanzung“ stammte
von Burkhard Spinnen.
Tatsächlich waren die späteren Bibliotheken meines Lebens oft
solche Orte. Ich selbst kann mich auch an eine Germanis-
tikstudentin erinnern, in der Germanistenbibliothek. Solange
sie da war, war die Germanistenbibliothek für mich nur diese
Germanistikstudentin. In der Philosophenbibliothek in der
Dantestraße pfegten die Studenten eher zu schlafen, die Stu-
dentinnen auch. Nicht miteinander. Vor sich hin. Selbst ich
schlief da manchmal ein. Bei den Altphilologen war die Bib-
liothek eher eine Art Trainingslager, um sich auf das Examen
oder irgendwelche anderen Prüfungen vorzubereiten. Man
kam da hin wie in eine Palästra und legte, für jeden sicht-
bar, erst einmal sein Handtuch ab, metaphorisch gesprochen.
Meistens rang man dann gemeinsam. Ich selbst übersetzte ein
Jahr lang Tag für Tag in dieser Bibliothek immer mit ein und
demselben Kommilitonen. Heute sitzen wir gemeinsam im
Fußballstadion.
Alle diese Bibliotheken waren mit einer Art Zweck kontami-
niert, anders als beim ersten Mal. So, wie die erste Liebe die
größte und die abenteuerlichste
ist und das größtmögliche Maß
von Welt, ja Kosmos und über-
haupt allem bedeutet, so auch
die erste Bibliothek. Später wer-
den wir routiniert, und unser
Umgang mit den Dingen dieser
Welt wird routinierter. Die erste
Berührung eines Mädchens wird
immer die erste bleiben, und die zweite wird wie alle weiteren
niemals mehr die erste sein. Daher liegen Bibliotheken nie in
der Zukunft. Bibliotheken liegen immer in der Vergangenheit,
zumindest die wichtigen.
Ausnahme ist, wenn man, durch Wissenschaft getrieben, noch
einmal in späteren Jahren eine Bibliothek um ihrer selbst wil-
len erfährt, einfach weil man da Dinge fndet, die es andern-
orts nicht gibt. Dann fiegt man noch mal wie beim ersten
Mal. Aber es ist doch bereits die Erfüllung einer sehr speziell
gewordenen Sehnsucht. Das ist das, was unser späteres Leben
meistens mit sich bringt: die Spezialisierung der Sehnsucht
bzw. deren Routinisierung.
Am Anfang hat ja noch eine bloß einigermaßen dilettantisch
zusammengewürfelte Hausbibliothek, ein bloßes Zimmer, ge-
reicht als Raumkrümmung in die ganze Welt hinein. Vermut-
lich hätte es sogar ein Regal getan, mit den richtigen Büchern
darin. Ja, vielleicht würde auch heute noch ein einziges Buch
reichen, es müsste dann aber so etwas wie das
Schatzkästlein des
Rheinischen Hausfreundes
von Johann Peter Hebel sein. Irgend-
etwas konzentriert Universales.
Man läse das, und plötzlich wäre eine Welt da. Es wäre die
Urbibliothek, und alle späteren Reichtümer würden vielleicht
nie mehr so wichtig sein.
DR. ANDREAS MAIER
Geboren 1967 in Bad Nauheim in der Wetterau, studierte
Maier in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft. Er ist Autor
u. a. der Romane „Wäldchestag“, „Klausen“, „Kirillow“ und
zuletzt – als zweiter Teil einer geplanten elfbändigen Roman-
serie – „Das Haus“.
Und wie immer beim
ersten Mal gibt es kein
zweites erstes Mal.
dem Philosophie-Artikel des Lingen-Lexikons), sondern jedes
Wort hatte seinen eigenen Artikel. Daneben wieder lateinische
oder andere Begrife, die langsam ihren Schrecken oder ihre
Undurchdringlichkeit verloren. Universalien. Gottesbeweis.
Deduktion. Analytisches Denken.
Ich war als Kind gern ins Kino gegangen und hatte mir da
so gut wie ohne Auswahlkriterien alles angeschaut, von Barry
Lyndon bis hin zu Peter-Alexander-Filmen, von den Nibelun-
gen (jener grauenhaften Verflmung aus den Endsechzigern,
bei der die halbe Winnetou-Filme-Truppe mitwirkte) bis hin
zu Inspector Clouseau. Ich war ja erst dabei, mich zurecht-
zufnden.
Die Bibliothek zu
Hause fel gegen
unser Kleinstadtkino
nicht ab. Begrife wie
Dreißigjähriger Krieg
kamen auf mich zu.
Buchtitel, mit de-
nen ich aufgewachsen
war, wurden langsam le-
bendig. Denn die Bücher
hatten ja allesamt schon seit
meiner frühsten Kindheit dage-
standen, nun bekamen sie ein inneres Ge-
sicht.
Wallenstein
.
Golo Mann.
Irgendwo las ich, Namen wie
Hugo und Golo und so weiter seien Bastardnamen gewesen.
Kinder von Kebsweibern im Frühmittelalter. Manchmal ge-
langten sie bis zur Königswürde.
Zum einen lieferten mir die Geschichtsbücher Schlachtenge-
mälde und Bilder vergangener Zeiten (nicht, dass ich sie je
ganz gelesen hätte damals, ich blieb ja nach wie vor auch im-
mer beim Lingen- und bei dem neuerdings hinzugekommenen
Meyer-Lexikon), zum anderen – und das transzendierte jetzt
schon das Kino – wurden die Epochen (auch das gehört dazu:
damals glaubte ich einfach an solche Begrife wie
Epoche
, weil
ich ja alles glaubte, was in den Büchern stand) mit jedwedem
Hintergrund, philosophisch, künstlerisch, soziologisch, ange-
füllt. Dann las ich über Leibniz am Ausgang des Dreißigjäh-
rigen Kriegs und verstand nichts. Oder über Hegel, spätere
Epoche
. Verstand auch nichts. Aus alldem wurde dann immer
mehr eine Frage: Was ist dieser Leibniz, was ist dieser Hegel?
Das Perry-Rhodan-Universum meines Bruders war komplett,
man musste nur wissen, an welcher Stelle man was zu suchen
hatte (bei 1.000 Bänden war das zwar schon komplizierter,
aber immer noch leistbar).
Mein Universum, das Welt-Bibliotheks-Zimmer-Universum,
auch wenn es nur aus einem circa sechzehn Quadratmeter
großen Raum in meinem Elternhaus bestand, bekam in sich
dagegen mit der Zeit einen Trichter wie bei einem gekrümm-
ten Raum, in den hinein alles verschwand, um Bestandteil
eines ofenbar viel größeren Universums zu werden, in das ich
in diesem Zimmer hineingesogen wurde.
Ich bin in unserer Familie übrigens der Einzige, der das Bü-
cherzimmer als Bibliothek bezeichnete. Es war die erste Bib-
liothek meines Lebens. Und wie immer beim ersten Mal gibt
es kein zweites erstes Mal. Die Urbibliothek.
Die Stadtbibliothek ist dagegen schon schneller abgehandelt.
Meine Heimatstadt ist Friedberg in der Wetterau, etwa 35 Ki-
lometer von der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt
entfernt, die früher, glaube ich, auch noch nicht so hieß, son-
dern eigentlich bloß Deutsche Bibliothek. Wie auch immer,
meine Zweite hieß bloß Stadtbibliothek.
Es gab gewisse Nutzungsvorstöße seitens unserer hessischen
Gesamtschule, an der ich unterrichtet wurde: Da sollten ir-
gendwelche Schüler oder Schülerinnen (meistens meldeten sich
Schülerinnen) in unsere Stadtbibliothek gehen und da
für irgendeinen Unterricht Dinge nachschauen,
vielleicht nannten sie es sogar recherchie-
ren, die Lehrer. Sie vermittelten einem
geradezu den Eindruck, man lerne da
eine gewisse Art von im weitesten Sinn
wissenschaftlicher Kompetenz. Die, die
in die Bibliothek geschickt wurden, wa-
ren einige Jahre später dann Reisebegleite-
rinnen oder Konferenzmanagerinnen gewor-
den, oder wie sich all das nennt, was es kurz
vorher als Beruf noch gar nicht gegeben hatte.
Ich ließ mich nicht von der Schule da hinschicken. Ich
liebte diese Bibliothek und wollte mein Verhältnis zu ihr nicht
von meiner Schule belastet sehen.
Thomas Mann. Der Zauberberg. Doktor Faustus. Budden-
brooks. Das gab es bei uns zu Hause nicht. Prousts Recherche
in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens bei Suhrkamp,
später wurde das mein Verlag. Hamsun. Auch Schopenhauers
Welt als Wille und Vorstellung
habe ich da zum ersten Mal in
der Hand gehabt. Shakespeare. Strindberg. Letzterer war da-
mals kaum noch verlegt. Um gewisse Dinge zu kriegen, musste
man in die Friedberger Stadtbibliothek, man konnte sie nicht
kaufen.
Später, ich war inzwischen Student, wurde aus der alten Fried-
berger Stadtbibliothek ein neues
Bibliothekszentrum mit Media-
thek
. Das alte Gebäude wurde aufgegeben, da zog die Deutsch-
Irische Verständigung e.V. hinein und errichtete zuallererst
dort, wo vormals die Buchausleihe gewesen war, einen Tresen
mit Zapfanlage. Einige Wochen stand ein Großteil der Bellet-
ristik und Philosophie und Soziologie etc. zum Verschenken
auf Tischen, man konnte mitnehmen, was man wollte.
Nach dem Umzug ging es im neu geschafenen Bibliotheks-
zentrum eher darum, dass man da Videoflme ausleihen konn-
te, oder Beratungsliteratur,
1000 ganz legale Steuertricks
. Mein so
geschätztes Labyrinth der daheim in meiner Elternbibliothek
nie vorhandenen weltweiten Literatur von Plautus über Poe und
Dostojewski bis hin zu Max Frisch oder Dürrenmatt existierte
nicht mehr und interessierte ofenbar auch niemanden mehr.
Dass alle früheren Mitarbeiter der Friedberger Stadtbibliothek
beim Bibliothekszentrum alsbald nicht mehr mitmachten und
den Laden verließen, gefel mir. Heute ist diese Stadtbiblio-
thek für mich völlig überfüssig, aber ich bin ja inzwischen,
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