Seite 50-51 - DNB_Leseraum_FINAL

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WELT-BIBLIOTHEKS-
ZIMMER-UNIVERSUM
Das Stichwort „Bibliothek 3000“ und die Bitte um eine Kurzgeschichte.
Diesmal beschreibt der Schriftsteller Andreas Maier, dass keine
Bibliothek die gleiche Strahlkraft ausübte wie das Bücherzimmer in
seinem Elternhaus mit Golo Mann und dem Meyer-Lexikon.
ILLUSTRATION: ANDREA RUHLAND
Das leere Haus. Meistens war ich allein. Ich war inzwischen
zwölf oder dreizehn Jahre alt. Es begann meist mit einem ein-
zigen Wort, das ich nachschlug, in einem schlechten, alten
dunkelblauen Lingen-Lexikon. Mein Bruder hatte von jeher
zu Science-Fiction geneigt und war damals ein Perry-Rhodan-
Leser. Er neigte zum Prinzip Vollständigkeit. Zu der Zeit war
Perry Rhodan vielleicht bei Heft 1.000.
Mein erstes Lexikon war vielleicht ein Perry-Rhodan-Lexikon
gewesen, aus dem Regal meines Bruders im Hobbyraum im
Keller. Ich erinnere mich an Begrife wie
Transformer
oder
Anti-
grav
. Das fand sich alles nicht im Lingen-Lexikon. Im Rhodan-
Lexikon waren Zeichnungen abgebildet, viel Technik, Aufrisse,
Querschnitte. Es war ein Universum für sich, nur dass es nicht
existierte. Deshalb war es ja als Universum so gut überschaubar.
Im Lingen-Lexikon fand ich immerhin Begrife wie Transfor-
mation oder Gravitation, und im Fremdwörterbuch fand ich
Einträge zu Präfxen wie
anti
. Das Antigravitationsfeld. Es exis-
tierte zwar nicht, das heißt, nur in den Heften meines Bruders,
aber ich las über Schwerkraft, Erdanziehung, Fallgeschwindig-
keit, Newton, und von Newton kam ich wie von selbst zu
Begrifen wie Mathematik, Physik, Philosophie.
Es waren die ersten Schritte in einem Universum, das existierte,
und die Ausmaße der Bibliothek in unserem Haus gaben mir
eine Ahnung von den Ausmaßen dieses Universums. Es war
immerhin so groß wie ein Zimmer.
Philosophie war zuerst nur ein Lexikoneintrag. Bis heute lese
ich gern Lexikonartikel zum Begrif Philosophie, denn sie erin-
nern mich immer an damals. In den Artikeln über Philosophie
kamen immer nur ganz allgemeine Worte vor, mit denen ich
kaum Vorstellungen verband, eben weil sie so allgemein waren.
Sein. Welt. Wahrnehmung. Nichts. Daneben lateinische oder
griechische Worte, die ich nicht verstand.
Bis heute zeigen mir sämtliche Lexikonartikel über Philoso-
phie, wie ambivalent Lexikoneinträge sind. Denn einerseits
trift immer irgendwie zu, was da steht – das kann man aber
erst
post festum
sagen, wenn man selbst einen Begrif von Phi-
losophie gewonnen hat. Und zum anderen,
ante festum
, wenn
man noch gar nichts weiß, gewinnt man aus ihnen allerhöchs-
tens eine Ahnung, aber eben keinerlei Vorstellung.
Zweitausenddreihundert Jahre europäische Philosophie in ei-
nem Artikel von (je nach Lexikonausgabe) ein paar Zeilen,
einer Spalte oder einer Seite. Philosophie war für mich anfäng-
lich nicht umfangreicher als ein spaltenlanger Lexikonartikel.
Ich ging auf Entdeckungsreise durch die Bibliothek in unse-
rem Haus. Sie war lose nach Themengruppen geordnet. In
einem Regal stand ein Lexikon der Philosophie. Also wieder
ein Nachschlagewerk, aber diesmal kein allgemeines, sondern
ein Fachlexikon.
Sein, Verstand, Vernunft. Logik. Ich. Diesmal waren die Worte
nicht wie an einer Kette in einem Artikel aufgereiht (wie in
g
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