Seite 22-23 - DNB_Leseraum_FINAL

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früher Comics ist dadurch in seiner originalen Publikationsform
dem Untergang preisgegeben oder darf bereits als untergegangen
gelten. Zum Glück gibt es einzelne Initiativen privater wie öf-
fentlicher Art zur Konservierung von alten Zeitungen, aber sie
ist teuer, und die ganze Breite des Pressespektrums ist unmög-
lich zu bewahren. Also bleiben für solche Comics nur Nach-
drucke, und die wiederum haben mit denselben Problemen
zu kämpfen wie die Sammler. Nur ein Beispiel dafür: Für die
seit einigen Jahren erscheinende Gesamtausgabe der „Peanuts“,
der erfolgreichsten Comicserie aller Zeiten, mussten vereinzelte
Bilder aus der Fantasie nach-
gezeichnet werden, weil es
bislang nicht gelang, trotz
der Vielzahl von amerika-
nischen Zeitungen, die in
den frühen Fünfzigerjahren
die „Peanuts“ abgedruckt
haben, auch nur ein einziges
heute noch erhaltenes Ex-
emplar zu fnden. Und bei
Comic-Heften sieht es nicht
viel besser aus: Von der rund
einen Million Exemplare, die
1938 von „Action Comics“ Nr.1 verkauft wurden, jenem Heft,
in dem sich die erste Superman-Geschichte fand, gelten heute
nur noch etwa hundert als bekannt. Das ist zwar mit größter
Wahrscheinlichkeit eine handelsübliche Untertreibung, um die
Preise hochzutreiben – und angesichts von Auktionserlösen
für diese Ausgabe, die mittlerweile mehrfach die Summe von
einer Million Dollar überstiegen haben, darf man wohl sagen,
dass es gelungen ist –, aber viele Hefte können tatsächlich nicht
überlebt haben, sonst kämen sie sofort auf den Markt.
Wobei man einschränken muss, dass nur wirklich gut erhaltene
Ausgaben von „Action Comics“ Nr.1 (oder als einziges ähnlich
hoch bewertetes Heft der ersten Batman-Ausgabe, „Detective
Comics“ Nr. 27 aus dem Jahr 1939) solche exorbitanten Preise
erzielen. Das mag die immense Sorge von Comicsammlern um
ihre Schätze erklären, die zu einer bereits angedeuteten Perversi-
on des Sammelns geführt hat. Denn der erste optische Eindruck
vom Erhaltungszustand eines alten Comic-Heftes ist längst um
möglichst objektive Kriterien ergänzt worden, die Kategorien
wie den OWL („Original whiteness level“, ein Maßstab für die
Bestimmung von Vergilbung bei Comicpapier) hervorgebracht
haben, der ebenso auf einer Skala von eins bis zehn ausgedrückt
wird wie die Bewertungen der vor einigen Jahren gegründeten
kommerziellen Certifed Guaranty Company (CGC), die einge-
reichte Comics gegen Gebühr auf ihren Zustand überprüft und
diesen am Ende der Untersuchung zertifziert. Allein mit einer
entsprechend hohen CGC-Bewertung können derzeit auf den
amerikanischen Versteigerungen Rekordsummen für Comics
erzielt werden.
Um aber auch für den Käufer zu gewährleisten, dass seit der
Begutachtung kein Qualitätsverlust des Heftes eingetreten sein
kann, werden die Comics von der CGC in eigens dafür ge-
schafene Hartplastikboxen eingeschweißt und diese versiegelt.
Nur eine ungeöfnete Verpackung dieser Art garantiert die Be-
wertung. Das heißt, dass die Hefte mit großer Wahrscheinlich-
keit aus Angst vor Wertverlust nie mehr gelesen werden – eine
Schreckensvorstellung für einen Bibliophilen, ein Wunschtraum
für jeden Spekulanten.
Comics aus solchen Preisregionen hat die Nationalbibliothek
nicht aufzuweisen, weil sie deutschsprachige Publikationen
(sowie fremdsprachige Publika-
tionen über Deutschland) sam-
melt, während sich die hohen
Zuschlagssummen auf ameri-
kanische und mit Abstrichen
noch französische sowie japa-
nische Ausgaben beschränken.
Die teuersten deutschen Comics
bewegen sich aber mittlerweile
im fünfstelligen Bereich; wer
sie gratis, wenn auch mutmaß-
lich nicht in Spitzenerhaltung
lesen will, kann es in Leipzig
und Frankfurt am Main tun. Der Verfasser hat seinen teuersten
Comic-Einkauf übrigens vor etwa zehn Jahren getätigt, als er auf
einer Auktion eine Ausgabe von „Onkel Dagobert und die Zau-
berpfeife“ für etwa dreihundert Euro erwarb. Diese Geschichte
ist deshalb so rar, weil sie den regulären „Micky Maus“-Heften
in faltbaren Loseblatt-Fortsetzungen beigefügt war. Deshalb
dürfte sie in den Heft-Exemplaren der Nationalbibliothek nicht
zu fnden sein, und man kann sich vorstellen, wie rar vollständi-
ge Geschichten sind – geschweige denn in guter Erhaltung. Das
Exemplar des Verfassers ist in nahezu druckfrischem Zustand
und verfügte auch über ein Bewertungszertifkat. Doch sofort
bei der Rückkehr nach Hause wurde das Siegel erbrochen und
die Geschichte gelesen. Der Verfasser hat keine Ahnung, was
sie heute kosten würde, und er hat auch kein Interesse daran,
es zu wissen.
Und wie ging es mit dem „Wüstenwastel“ und der Deutschen
Nationalbibliothek weiter? Mangels weiterer Ausgaben wurde
die freundliche Auforderung zur Pfichtabgabe ignoriert. Im
Bestandskatalog der Nationalbibliothek aber ist das einzelne
Heft vom Dezember 1994 zuverlässig erfasst. Die Sammlung
dieser Serie war kurz und schmerzlos komplettiert.
Eine Schreckens-
vorstellung für einen
Bibliophilen,
ein Wunschtraum für
jeden Spekulanten.
ANDREAS PLATTHAUS
Der Journalist, Comics-Experte und Autor arbeitet als
Redakteur und als stellvertretender Feuilleton-Chef bei
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zudem ist er Ehren-
mitglied der Comics-Insider-Vereinigung
D.O.N.A.L.D.
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