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RECHTE ZUM LESEN,
WISSEN UND DENKEN
Wie empfängt eine Bibliothek ihre Nutzer, was ermöglicht sie ihnen?
In seiner Reise durch Einrichtungen in aller Welt entziffert der Wissen-
schaftler B. Venkat Mani Bibliotheken als sozialpolitische und kulturelle
Räume – und als Orte kollektiver Selbstdarstellung.
Was konstituiert einen Denkraum: die Gedanken, die in dem
Raum entstehen, oder die Denkerinnen und Denker selbst? Was
gibt einem Denkraum seinen einzigartigen Charakter: Lediglich
die Architektur, die Ausstattung und die Lesematerialien? Oder
auch die Angestellten, die den Nutzern Denkmaterial zur Ver-
fügung stellen? Vielleicht sogar die Pförtner am Empfang, die
die Nutzer täglich willkommen heißen? Diese Fragen sind mir
als Nutzer der Deutschen Nationalbibliothek, der seit mehreren
Monaten in Leipzig an einem Buch über Weltliteratur und Bib-
liotheken schreibt, besonders wichtig.
Am 16. Mai 2012 beschäftigte ich mich in dem historischen Le-
sesaal mit Dokumenten zur Gründung der Deutschen Büche-
rei. Nach einigem Blättern stieß ich auf einen Vortrag von Prof.
Dr. Hans Paalzow, 1913 Abteilungsdirektor an der Königlichen
Bibliothek in Berlin. Hierin heißt es: „Von dem ursprüngli-
chen Gedanken, die Deutsche Bücherei als Verleih- und Ver-
sendungsbibliothek zu konstruieren, ist man zurückgekommen
und will jetzt an dem Präsenzprinzip festhalten. Die Benutzung
soll jedermann freistehen und unentgeltlich sein.“ Als ich das
Zitat abschrieb, bemerkte ich eine Notiz: „Vortrag gehalten auf
dem Deutschen Bibliothekartage in Mainz am 16. Mai 1913“
– also auf den Tag genau vor 99 Jahren. Es war mir einerlei,
ob ich seinerzeit als Teil der angestrebten Nutzer galt. Wich-
tig schien mir, dass ich quasi 100 Jahre später weit weg von
meiner Geburtsheimat Indien und Wahlheimat USA Teil einer
Lesegemeinschaft in Leipzig war. Ich hatte Benutzungsrechte in
dieser Bibliothek, Rechte zum Lesen, Wissen und Denken. Mit
zahlreichen anderen war ich Teil eines Denkraums.
Meine frühesten Erinnerungen an eine Bibliothek führen mich
in ein Frauen-College in einer Kleinstadt in Indien, wo meine
Tante Literatur unterrichtete. Das Gebäude lag mitten in der
Stadt am Ufer des Ganges, die Bibliothek bestand gerade einmal
aus einem 50 Quadratmeter großen Saal. An drei Wänden ver-
liefen Regale mit Glastüren, die nur für die Bücherentnahme ge-
öfnet wurden, an der vierten gab es Fenster, durch die man den
Ganges sehen konnte. Mitten in der Bibliothek stand ein langer
Tisch, an dem sich Studentinnen und Professorinnen mit ihren
Materialien und Notizbüchern drängelten. In dieser Bibliothek
hatte ich zwar keine „Benutzungsrechte“, aber meine Liebe für
Bücher und Bibliotheken begann hier, wo sich der Geruch von
dem Teakholz der Bücherregale und Möbel mit dem von in Al-
lahabad, Delhi und Lucknow veröfentlichten wertvollsten Erst-
ausgaben der wichtigsten Werke in Hindi-Literatur vermischte.
35 Jahren später befand ich mich wieder in einer Bibliothek
am Wasser. Die Amsterdamer Stadtbibliothek (Openbare Biblio-
theek) befndet sich in einem von dem Stararchitekten Joe Coe-
nen entworfenen Gebäude, verfügt über 1.200 Sitzplätze und
einen großen Freihandmedienbereich. Regale über Regale vol-
ler Bücher, Zeitschriften, CDs und DVDs, außerdem Internet-
Terminals und viele Freiräume, in denen sich neben einzelnen
Nutzern Familien mit Kindern, junge Pärchen auf Dates, in
manchen Ecken auch schlafende Amsterdamer und Touristen
aufhielten. Diese ofene Bibliothek heißt alle willkommen und
ist entsprechend eingerichtet.
Zwischen diesen zwei Bibliotheken am Wasser lagen viele an-
dere. Mein Studium brachte mich nach Neu-Delhi, wo ich in
dem Fachbereich für europäische Literatur in der zehnstöckigen
Bibliothek am Zentrum der Jawaharlal Nehru Universität zu
Hause war. Von 1990 bis 1995 besuchte ich die Bibliothek der
Sahitya Akademi, wo man von Büchern in über 25 Sprachen
Indiens umgeben war, ein unglaublicher Überblick über die
sprachliche Vielfalt des Landes. Oder ich machte mich auf den
Weg nach Kasturba Gandhi Marg, um die nach dem berühmten
Indologen benannte Max Müller Bhavan Bibliothek im Hinter-
hof einer altkolonialen Villa aufzusuchen, in der ausschließlich
westdeutsche Ausgaben zu fnden waren. Oder mich reizten
die Penguin Classics in dem von Charles Correa entworfenen
modernen Bibliotheksgebäude des British Councils. Schließlich
schmökerte ich in der American Center Library in den „Modern
Library“-Ausgaben. Nach diesen „Pilgerfahrten“ in Neu-Delhi
hatte ich das Privileg, viele weitere Bibliotheken der Welt zu
besuchen. Von der Green Library an der Stanford University in
Kalifornien, wo ich promovierte, zu der Memorial Library der
University of Wisconsin in Madison; von der Bibliothek der
Bogaziçi Universitesi in Istanbul, wo ich Türkisch lernte, zu der
„Stabi“ in Berlin, wo ich für mein erstes Buch über Deutsch-
Türken recherchierte; von der altprächtigen Library of Congress
in Washington D.C., von der man die US-amerikanische Fahne
auf dem Capitol Hill sieht, bis zu dem hochmodernen Lesesaal
des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig, durch
dessen Fenster man den goldenen Turm der russischen Gedächt-
niskirche erblickt; von der Nationalbibliothek in Seoul, wo mir
mein Analphabetentum im Koreanischen bewusst wurde, bis
zur Strahov Bibliothek in Prag, wo ich die wertvollen Altbestän-
de nur aus großem Abstand bewundern konnte. Ich habe viel
von der Welt gesehen, eine Bibliothek nach der anderen.
Wie die Welt sind auch Bibliotheken keine neutralen Orte. Sie
sind, politisch bedingt und kulturhistorisch bestimmt, wichtige
Teile des gesellschaftlichen und sozialpolitischen Gefüges. Pri-
vatbibliotheken sind als Ausdruck persönlicher Leidenschaften,
Bücherfreude und Bücherliebe bekannt. Aber öfentliche Biblio-
theken, vor allem aufgrund ihres gemeinschaftlichen Charakters,
sind Orte der Politik der Alphabetisierung – und der Sanktionie-
rung von Analphabetismus. Oft sind es historische Zufälle, die
jeder Bibliothek ihre Form von Anhäufung und Klassifzierung,
Verbreitung und Verteilung, Unterstützung und Zugänglichkeit
verschafen. Die moderne Bibliothek als Institution hat sich als
Raum für das kollektive Gedächtnis etabliert. Zusammen mit
Museen dienen sie der kollektiven Selbstdarstellung. Sie sind
eine Art Bildersaal der jeweiligen Zeit – abhängig von den in-
tellektuellen Leistungen und Errungenschaften in einem be-
stimmten historischen Moment an einem bestimmten Ort in
der Welt. Jede Bibliothek hat ihre eigene Persönlichkeit, ihre
eigenen Lesekreise und Nutzer, ihren eigenen Zweck und ihre
eigene Kulturpolitik, also auch ihren eigenen Platz in der jeweili-
gen Kulturlandschaft. Bibliotheken, kurz gefasst, sind Fiktionen,
die auf der Faktizität der Bücher basieren.
Eines der klaustrophobischsten Bilder einer Bibliothek in euro-
päischen Romanen des 20. Jahrhunderts hat der Nobelpreisträ-
ger Elias Canetti entworfen. In „Die Blendung“ von 1935 führt
er seine Leser auf eine Reise durch die Bibliothek des Protagonis-
ten Peter Kien, dem „größten lebenden Sinologen“, im Wiener
Fin de Siècle. Die Bibliothek nimmt vier Zimmer in Kiens geräu-
miger Wohnung ein. Kien ist gleichzeitig Kurator, Organisator,
aber auch einziger Nutzer, mit exklusivem Zugang zu seinen
über 25.000 Bänden. Seine persönliche Einkapselung spiegelt
sich in der architektonischen Isolierung. In allen Zimmern sind
die Seitenfenster zugemauert, nur in der Decke sind Fenster
eingelassen. Das Arrangement schützt vor der „Versuchung, das
Treiben auf der Straße zu beobachten“, was er für eine „zeitrau-
bende Unsitte“ hält. In dieser zu allen Seiten hin abgeschotteten
Bibliothek ist „kein überfüssiges Möbelstück, kein überfüssiger
Mensch“, die ihn von seiner Ernsthaftigkeit ablenken könnten.
Kiens Privatbibliothek steht in scharfem Kontrast zu der literari-
schen Darstellung einer Bibliothek in Frankfurt am Main, wie sie
in Orhan Pamuks Roman „Schnee“ von 2004 geschildert wird.
Die Architektur der Stadtbücherei wird als spärlich beschrieben,
ein „modernes, gesichtsloses Gebäude“. Statt auf die Zahl der
Bände, die Methode des Katalogisierens oder das Ordnungssys-
tem einzugehen, widmet der Erzähler seine Aufmerksamkeit den
vielen seltsamen Körpern der Nutzer: „Drinnen waren es die
typischen Besucher solcher Bibliotheken: Hausfrauen, Rentner,
die die Zeit totschlugen, Arbeitslose, ein, zwei Araber und Tür-
ken, kichernde Schüler, die ihre Hausaufgaben erledigten, und
das unvermeidliche Stammpublikum solcher Orte, extrem Fett-
leibige, Behinderte, Verrückte und geistig Zurückgebliebene“.
Jene, die Kien für einfallslos, überfüssig und ablenkend hält,
sind in der Frankfurter Stadtbücherei als wesentlicher Bestand-
teil anwesend. Für den Protagonisten Ka wird sie ein sicheres
Exil, eine Flucht von der Isolierung, die er in seiner kleinen
Wohnung in Frankfurt erlebt. Dieses öfentliche Gebäude ist
auch die letzte Zufucht von Ka, bevor er gleich um die Ecke
auf der Straße ermordet wird.
Zwischen den beiden Bibliotheken ofenbaren sich sprachliche,
nationale und kulturelle Unterschiede – Diferenzen der unter-
schiedlichen Welten und Denkräume: Hier ein abgeschotteter,
allein auf die Werke und Gedanken fokussierter Raum, dort ein
soziales Leben inmitten von Büchern, eine Nutzergemeinschaft,
die aus Migranten besteht. Was sich an dieser Gegenüberstellung
ablesen lässt, semiotisch und symbolisch, ist sowohl das Haus
der Bücher – die Bibliothek – als auch der virtuell bibliograf-
sche Raum, der sich durch Bücher [vivlios] schreiben [graph]
lässt. Von einer Kleinstadt in Indien bis zu der Deutschen Na-
tionalbibliothek in Leipzig sind meine Benutzungsrechte nicht
nur durch Bücherausleihen bestimmt. Wie für zahlreiche ande-
re Nutzer sind meine Ausleihungen genauso fktional wie die
Denkräume selbst.
B. VENKAT MANI
Associate Professor am Department of German der Uni-
versity of Wisconsin/Madison. Als Stipendiat der Alexander
von Humboldt-Stiftung absolviert er ein Forschungsjahr am
Fachbereich Buchwissenschaften der Universität Leipzig,
wo er unter anderem an dem buchwissenschaftlichen Pro-
jekt „Borrowing Privileges: Bibliomigrancy and the making
of World Literature in Germany” arbeitet.
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