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DER 12. MANN ZÄHLT
Wenn eine Zahlenmanie auf eine ebenso
ausgeprägte Fußballleidenschaft stößt,
ist die Grenze zwischen Wissenschaft
und Wahnsinn fießend. Doch Wissen-
schaft ist das allemal, was der Deutsche
Sportclub für Fußballstatistiken in der
Deutschen Nationalbibliothek betreibt.
Aber für Außenstehende mag es eben
vielleicht auch ein klein wenig wahnsin-
nig erscheinen.
Denn diese Hobbystatistiker geben sich
bei Weitem nicht mit der Auswertung
der Bundesliga zufrieden. Vielmehr
werten sie alle Ligen aus, bis runter auf
die Kreisebene. Doch damit nicht ge-
nug: Schließlich wird schon eine gan-
ze Weile das Runde ins Eckige gekickt
und ebenso lang wird das gezählt und
aufgeschrieben. Deshalb ist die Süd-
deutsche Sportzeitung aus dem Jahre
1913 für manch einen Fußballstatistiker
sehr viel spannender als der Kicker von
heute. Auf Basis dieser Quellen werden
Abschlusstabellen erstellt, Mannschafts-
aufstellungen dokumentiert, Torquotien-
ten ermittelt und vieles mehr. Und was
kommt am Ende heraus? Natürlich ein
Buch. Jedes Jahr erscheint der Fußball-
Almanach mit den neuesten Zahlen. Der
steht dann selbstverständlich auch in der
Deutschen Nationalbibliothek.
STADT, LAND, FLUSS
Landkarten sind ein anschauliches Mit-
tel, um politische Ziele, Vorstellungen
und Ansprüche darzustellen. Zum Bei-
spiel im Kaiserreich bezüglich der Ko-
lonialgebiete. Oder nach dem Zweiten
Weltkrieg im Hinblick auf die deutsch-
polnische Grenze. Während die DDR
bereits 1950 die Oder-Neiße-Grenze
anerkannte, vollzog die Bundesregie-
rung diesen Schritt ofziell erst 1970
mit dem Warschauer Vertrag. All diese
territorialen „Interpretationen“ lassen
sich wunderbar auf den Schulwandkar-
ten nachvollziehen. Und diese gibt es
vollzählig natürlich nur in der Leipzi-
ger Kartensammlung der Deutschen
Nationalbibliothek mit ihren mehr als
220.000 Karten und Atlanten.
Doch nicht nur Wissenschaftler, die
sich mit solchen Fragen beschäftigen,
werden hier fündig. Viele Anfragen
kommen auch von älteren Herrschaf-
ten, die eine Karte aus ihrem Geburts-
ort einsehen möchten, weil sie einen
Besuch in der Heimat planen. Und da
nutzt ihnen eine aktuelle Karte herzlich
wenig, sondern sie brauchen eine Karte
von damals, auf der noch alles so ver-
zeichnet ist, wie sie es in Erinnerung ha-
ben. Grundlagenforschung, ganz privat.
GUTER RAT GRATIS
Beziehungs-, Karriere- oder allgemeine
Lebenshilfe-Ratgeber sind unglaublich
beliebt, nicht umsonst führen sie häufg
die Bestsellerlisten an. In der Deutschen
Nationalbibliothek gehören solche Bü-
cher dagegen eher zu den Ladenhütern.
Tipps dieser Art lässt man sich wohl
doch nicht so gerne in einem Lesesaal
geben. Das bedeutet jedoch keineswegs,
dass sich überhaupt niemand dafür inte-
ressieren würde. Denn natürlich ist Rat-
geberliteratur ein dankbares Forschungs-
feld. So zum Beispiel für Dr. Jana Gärtner,
die sich mit dem Thema „Elternratgeber
im Wandel der Zeit“ auseinandersetzte.
Dafür verbrachte sie sehr, sehr viel Zeit
in der Bibliothek, rund 200 Bücher hat
sie dort für ihre Dissertation akribisch
durchgearbeitet.
Bereits das Studium nur der Titel zeigt,
dass sich in den vergangenen hundert
Jahren allerhand verändert hat. Interes-
sierten sich die Menschen 1913 noch
für den Ratgeber „Wie können christ-
liche Eltern und Erzieher die ihnen an-
vertrauten Kinder vor der Unkeuschheit
bewahren und ihnen helfen?“, greifen die
Eltern von heute eher zu „Was Ihre Kin-
der über Sex wissen sollten“. Das ist eben
der Wandel der Zeit – konserviert in den
Magazinen der Nationalbibliothek.
SELBSTVERLEGTES
Das Alleinstellungsmerkmal der Deut-
schen Nationalbibliothek gegenüber
allen anderen hiesigen Bibliotheken ist
der Vollständigkeitsanspruch. Hier gibt
es so ziemlich alles, was in Deutschland
in den vergangenen hundert Jahren pu-
bliziert wurde. Die eine oder andere Lü-
cke im Regal gibt es aber selbst hier, so
zum Beispiel bei der Samisdat-Literatur
aus der DDR-Zeit. Das ist nicht weiter
verwunderlich, handelt es sich dabei
doch um alternative, nicht systemkon-
forme Literatur, die „ohne Druckge-
nehmigung“ veröfentlicht wurde. Die
Texte wurden meist mit der Schreibma-
schine getippt, dann per Kohlepapier,
Matrizen oder Kopierer vervielfältigt
und unter der Hand verteilt. Anfang
der 1980er-Jahre entstanden mit den in
Fortsetzung erscheinenden Zeitschrif-
ten immer umfangreichere Periodika,
die eine wichtige Rolle in der ostdeut-
schen Oppositionsbewegung spielten.
Heute können Wissenschaftler eine be-
trächtliche Anzahl von Samisdat-Wer-
ken in Leipzig einsehen, da die Deut-
sche Nationalbibliothek in den letzten
Jahren eine Fülle dieser Veröfentli-
chungen und damit einen beispielhaf-
ten Querschnitt durch diese Literatur
erworben hat.
ZEHNPFENNIG-BIBLIOTHEK
Heftromanserien wie die „Backfschstrei-
che“ oder die „Prinzess-Romane“ waren
in Kaiserreich und Weimarer Republik
äußerst populär. Gleichzeitig wurde von
bildungsbürgerlicher Seite ein erbitter-
ter Kampf gegen solchen „Schmutz
und Schund“ geführt. Das änderte aber
nichts daran, dass die Deutsche Na-
tionalbibliothek seit jeher auch diese
Kioskliteratur mit akribischer, fast lie-
bevoller Detailversessenheit gesammelt,
katalogisiert und archiviert hat, wie die
Göttinger DFG-Forschergruppe zur
„Ästhetik und Praxis populärer Seria-
lität“ in einer Untersuchung zum The-
ma „Sammeln populärer Heftserien in
der Nationalbibliothek“ nachwies. So
wurden zum Beispiel häufg Pseudony-
me aufwendig aufgelöst, die in dieser
Literaturgruppe sehr verbreitet waren.
Angesichts solcher bibliothekarischen
Genauigkeit stellte ein Zeitgenosse in
einem Gutachten über die Deutsche
Bücherei bereits 1916 verwundert fest,
welche „übergroße Mühe geradezu wis-
senschaftlich angewandt wird, um den
Vornamen eines obskuren Schriftstellers
zu erreichen“. Es geht eben nichts über
die bibliografsche Genauigkeit.
VON NAMEN UND ZAHLEN
Alte Telefon- oder auch Adressbücher
sind in der Deutschen Nationalbiblio-
thek extrem beliebt. Und das sieht man
den Werken oft an. Durch die häufge
Benutzung, aber auch, weil sie in der Re-
gel aus minderwertigem Papier hergestellt
wurden, sind sie teilweise in einem recht
erbärmlichen Zustand und müssen auf-
wendig restauriert werden. Einzelne Wer-
ke wie ein Breslauer Adressbuch aus der
Vorkriegszeit sind gar so „zerlesen“, dass
sie überhaupt nicht mehr genutzt werden
können. Aus genau diesem Grund sind
zum Beispiel die Leipziger Adressbücher
frühzeitig auf Mikroflm gezogen wor-
den. Andere, nämlich die Telefonbücher
einiger deutscher Großstädte der Jahr-
gänge 1915 bis 1981, wurden komplett
digitalisiert und sind heute auch über das
Internet verfügbar (www.ancestry.de).
Stellt sich die Frage, warum solche
Medien so begehrt sind: Warum bitte
schön sollte man denn ein altes Adress-
oder Telefonbuch lesen? Die Antwort:
Forschung. Genauer: Ahnenforschung.
Nicht nur professionelle Genealogen,
sondern Herr und Frau Jedermann fn-
den in der Deutschen Nationalbibliothek
ihre Quellen, um die Familiengeschichte
zu durchleuchten und den Stammbaum
entsprechend zu ergänzen.
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