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Alle sammelwürdigen digitalen Veröfentlichungen zu erfassen,
erschließen und auf Dauer zu archivieren – das scheint schon
auf den ersten Blick kompliziert zu sein. Im Zuge des Gesprächs
mit Stefan Hein, der als Programmierer für die Langzeitarchi-
vierung von Netzpublikationen zuständig ist, wird deutlich: Es
ist sogar noch viel komplizierter als zunächst vermutet. Man
könnte von einer Herkulesaufgabe sprechen. Hein nennt es
eine „spannende Herausforderung“. Vor zwei Jahren ist der
31-Jährige mit seinem frisch erworbenen Informatik-Diplom
von Berlin nach Frankfurt in die Deutsche Nationalbibliothek
gewechselt. Da es in seiner Abschlussarbeit um das Thema
Langzeitarchivierung ging, war er geradezu prädestiniert für die
Stelle. Denn seit 2006 gehören auch die Sammlung von Netz-
publikationen und ihre dauerhafte Speicherung zum Auftrag
der Einrichtung. Medien wie elektronische Hochschulschriften
und Zeitschriften, E-Books und Digitalisate sind so zu sichern,
dass sie auch in Zukunft noch nutzbar sind. Das Problem an
der Zukunft: Keiner kennt sie. Wer etwa könnte sagen, ob es
das Datei-Format PDF in 30 Jahren noch geben wird?
Hein erklärt die zwei Möglichkeiten, Daten „zukunftsfest“ zu
machen: bei der Format-Migration werden archivierte Objekte
jeweils auf den neusten Stand umformatiert; bei der Emulation
sorgt eine Software dafür, dass neuere Rechner- und Programm-
Generationen veraltete Versionen „verstehen“. Die Nationalbi-
bliothek plant mit beiden Strategien. Momentan ist sie aber
mit der Grundlagenarbeit davor beschäftigt – zum Beispiel den
„Geschäftsgang für Netzpublikationen“ optimal zu gestalten.
Ziel ist, für elektronische Medien so zuverlässige Erwerbs-,
Erschließungs- und Archivierungsprozesse zu etablieren, wie
sie bei körperlichen Medien üblich sind. Die Abläufe sind im
Prinzip sehr ähnlich – mit einem Unterschied: Anders als bei
Büchern, die von Menschenhand ausgepackt, geprüft, verzeich-
net und ins Regal gestellt werden, sollen sie bei Netzpublika-
tionen von Computerprogrammen geleistet werden. Aufgrund
der vorhersehbaren Menge an Objekten ist das nötig, aufgrund
ihrer „elektronischen Natur“ aber auch möglich. In enger Ab-
sprache mit den jeweiligen Fachabteilungen defnieren Hein
und seine IT-Kolleginnen und -Kollegen die Anforderungen.
Dann wird programmiert und die Software in den Workfow
implementiert. Dieser beginnt bei der Anlieferung. Spezielle
Schnittstellen sorgen dafür, dass Ablieferer wie Verlage ihre Da-
tenpakete an die Bibliothek senden können bzw. diese sich
die Objekte holt. Im nächsten Schritt, dem „Importservice“,
werden die Dateien vom System verarbeitet. Es prüft auf As-
pekte wie Vollständigkeit und Formatvalidität, erstellt Metada-
ten, gleicht URNs ab bzw. vergibt sie, erkennt Dubletten und
vieles mehr. Schließlich landen die Objekte im Datenspeicher
der Bibliothek, dem „Repository“. Um die Sicherheit zu erhö-
hen, werden sie zusätzlich auf ein zweites Speichersystem, das
eigentliche Langzeitarchiv, transferiert, das sich in Göttingen
befndet – all das geschieht vollautomatisch. Heins spezielle
Aufgabe besteht darin, Schritte zu integrieren, die einer Lang-
zeitarchivierung förderlich sind. So hat er jüngst ein Modul
programmiert, das an jedes Objekt Informationen anhängt, die
für eine etwaige Format-Migration hilfreich sind. „Langzeitar-
chivierung ist kein einmaliger Akt. Die Daten müssen nicht nur
aufbewahrt, sondern gepfegt werden.“
Ohnehin scheint jede Lösung von begrenzter Haltbarkeit zu
sein. Immer mehr zu archivierende Objekte, neue Geräte, ver-
schiedene Betriebssysteme, bislang unbekannte Formate – der
Berg der Herausforderungen wird nicht geringer. Das sieht
auch Hein so: „Letztlich werden wir der technischen Entwick-
lung immer hinterherhecheln.“ Herkulesaufgabe? Vielleicht
passt doch eher das Bild von Sisyphos.
ZWISCHEN HERKULES
UND SISYPHOS
Gesichter der Nationalbibliothek, Frankfurt am Main:
Die Nationalbibliothek sammelt auch Netzpublikationen und
muss dafür sorgen, dass diese in Zukunft noch nutzbar sind.
Hierfür braucht sie Programmierer wie Stefan Hein.
PORTRÄT: CHRISTIAN SÄLZER FOTO: STEPHAN JOCKEL

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