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Vor fast 100 Jahren hatten die Baumeister in Leipzig
noch gehoft, mit zwei Erweiterungen über die kom-
menden 200 Jahre zu kommen. Schon heute ist abseh-
bar, dass die Kapazität der Magazine Ihrer noch recht
jungen Bauten irgendwann wieder ausgereizt ist.
GLÖCKLER
— Da solche Bauwerke eine enorme Vorlaufzeit ha-
ben, wird man sich in Leipzig wahrscheinlich schon bald wie-
der mit den Planungen für einen fünften Erweiterungsbau
beschäftigen müssen.
KAISER
— In Frankfurt besteht ja durch die Tiefgarage noch
ein Pufer von etwa 10.000 Quadratmetern. Und dann hat
man sich damals beim Neubau eine Option auf die Fläche
gegenüber an der Adickesallee gesichert, wo sich heute eine
Tankstelle befndet.
Bei Verbrechern sagt man, sie kehren immer an den
Tatort zurück. Wie ist das bei Architekten?
GLÖCKLER
— Wenn der Bau fertig ist, muss man ihn dem
Nutzer übergeben und loslassen. Natürlich hat man bei be-
stimmten Dingen noch ein Mitspracherecht, aber ich fnde,
das muss man auch nicht übertreiben. Im Übrigen glaube
ich, dass meine Nutzer sensibel genug sind, um keine gra-
vierenden Eingrife vorzunehmen. Insofern habe ich kein
übersteigertes Bedürfnis, meine Bauwerke regelmäßig in Au-
genschein zu nehmen.
KAISER
— Ich sehe das auch so. Allerdings kümmert sich ein
ehemaliger Mitarbeiter unseres damaligen Büros Arat-Kaiser-
Kaiser weiterhin um alle relevanten baulichen Probleme –
aktuell beispielsweise um Erweiterungsmöglichkeiten des
Ausstellungsbereichs. Der Kontakt besteht also auch nach
16 Jahren noch.
Und wie wird sich aus Ihrer Sicht die Architektur in
den nächsten Jahren entwickeln?
KAISER
— Im Gegensatz zur Nachkriegszeit, in der es haupt-
sächlich darum ging, sich von der Naziarchitektur abzusetzen,
ist die Welt heute wesentlich vielschichtiger. Doch es gibt der-
zeit eine deutliche Rückbesinnung auf die Städte. Die Mittel-
punkte sind uns verlorengegangen und die Wunden durch die
Verkehrsschneisen liegen ofen. Aber es hat ein Umdenken
stattgefunden. Urbanes Leben vor dem Hintergrund des demo-
grafschen Wandels und knapper Energieressourcen wird aus
meiner Sicht das Thema der nächsten Jahre sein.
PROF. HANS-DIETER KAISER
Geboren 1940, seit 1970 Bürogemeinschaft mit Gisela Kaiser: Kaiser+Kaiser Freie
Architekten+Stadtplaner BDA, 1985-1997 Bürogemeinschaft Arat-Kaiser-Kaiser,
1984-2004 Professor an der Hochschule für Technik Stuttgart. Zahlreiche Aus-
zeichnungen wie der Deutsche Architekturpreis und der Deutsche Bauherrenpreis.
GABRIELE GLÖCKLER
Geboren 1960, Dipl.-Ing. Architektur, Freie Architektin BDA im eigenen Atelier mit
Schwerpunkt Öffentliche Gebäude, 2001 bis 2007 Lehrtätigkeit an der Universität
Stuttgart, 2011 Deutscher Beitrag auf der 9. Architektur-Biennale São Paulo.
herstellen. Fachkreise haben darauf teilweise kritisch
reagiert, weil die Rezeptionen zu naheliegend seien.
GLÖCKLER
— Fachkreise reagieren immer kritisch, mir ist das
einhellige Lob der bedeutenden Architekturkritiker wichtiger.
Aber so wie Sie es beschreiben, könnte man meinen, dass
sich der Entwurf nah am Kitsch bewegt. In Wirklichkeit ist
der Bezug gar nicht so konkret und ich spreche an der Stelle
lieber von Ornamenten. Aber klar ist, dass hier sowohl Rati-
onalität als auch Emotion angesprochen werden.
Besonders gelobt wurden die ineinanderfießenden Innen-
räume. Es war von räumlicher Komplexität ohne Efekt-
hascherei die Rede.
GLÖCKLER
— Ja, nach innen wird das Gebäude weicher. Ein
Ort des Archivierens und Bereitstellens stellt spezielle funkti-
onale Anforderungen an ein Gebäude. Verkörpert dieser Ort
das Gedächtnis einer Nation, ist die Architektur auf beson-
dere Art gefordert. Das war mein Anliegen.
Im Vergleich zum älteren Bau in Frankfurt stand in
Leipzig Energieefzienz und Nachhaltigkeit stärker im
Fokus. Wie konnten Sie der Erwartung eines wohltempe-
rierten Gebäudes auf höchstem technischen Standard bei
gleichzeitig minimiertem Energieeinsatz gerecht werden?
GLÖCKLER
— Umschlag und Hülle sind Bestandteil des energeti-
schen Konzepts. Die Hinterlüftung der gedämmten, zweischa-
ligen Gebäudehülle lässt sich mithilfe von Klappen regeln. So
wird im Sommer die Wärme der Sonneneinstrahlung abtrans-
portiert, im Winter dient die stehende Luft durch Schließen
der Klappen als Dämmung gegen Kälte. Die hohen klima-
technischen Ansprüche einer konstanten Luftfeuchte von 50
Prozent bei 18 Grad Celsius in den Magazinen werden mit
einem neuen Konzept zur Geothermienutzung verbunden.
Für die Versorgung großer Bereiche des Gebäudes mit Heiz-
und Kühlwasser wird Erdwärme genutzt. 48 Erdwärmesonden
reichen mit insgesamt fast 6.000 Metern Bohrlänge 124 Meter
in die Erde am Deutschen Platz. Mit diesem Konzept konnten
wir eine Reduzierung der Energiekosten gegenüber konventio-
nellen Methoden um rund 50 Prozent bewirken.
KAISER
— Apropos Temperatur und Luftfeuchtigkeit in den
Magazinen. Wir haben damals fast ein Jahr damit experimen-
tiert, Bücher in Stickstof zu lagern, um die Lebensdauer der
Papiere zu verlängern. Allerdings musste man dann feststel-
len, dass die Bücher beim Ausleihen, also der Berührung mit
normaler Luft, umso schneller zerstört würden.
GLÖCKLER
— Das ist interessant, wir haben nämlich mit einer
sauerstofreduzierten Lagerung das gleiche Ziel verfolgt. Das
hat sich aber auch nicht bewährt. Außerdem hätten die Men-
schen, die dort arbeiten, eine Umgebung vorgefunden, die
der auf dem Mount Everest gleichkommt.
Vor welche speziellen Herausforderungen wurden Sie
während der Bauarbeiten gestellt?
KAISER
— Unser größtes Problem war das Grundwasser, das
dort bis vier Meter unter die Geländeoberkante heranreicht.
Wir haben das in den Grif bekommen, indem wir zwei Wan-
nen mit innenliegender Belüftung verbaut und damit die
Magazine vor Feuchtigkeit abgeschottet haben. Das brachte
übrigens den Vorteil mit sich, dass die unterirdischen Bestän-
de nur geringfügigen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwan-
kungen ausgesetzt sind und sich dadurch Betriebskosten für
die Klimatisierung einsparen lassen.
GLÖCKLER
— Wir mussten, um die Bausubstanz der beiden beste-
henden Gebäude zu sichern, die Fundamente durch ein Hoch-
druckinjektionsverfahren mit Beton stabilisieren. Außerdem
wurden die einzelnen vertikalen Segmente des Bücherturms
mit Stahlbändern verbunden, damit er nicht in Schiefage ge-
rät. Erst dann konnte die 190 Zentimeter starke Bodenplatte
verlegt werden. Sie war notwendig, um den 17,5 Kilonewton
pro Quadratmeter standzuhalten.
KAISER
— Es ist ja eigentlich eine Binsenweisheit, aber Bücher
bzw. Papier gehören zu den schwersten Materialien überhaupt.
Trotz dieser Widrigkeiten wurden beide Bauwerke fast
pünktlich und nur wenig teurer als veranschlagt fertig.
KAISER
— Kaum zu glauben – wir sind sogar noch unterhalb
der kalkulierten Kosten geblieben. Da zeigt sich eben doch,
dass es von Vorteil sein kann, schwäbische Architekten zu
beauftragen.
Rechts:
1997 wurde in Frankfurt am Main das
neue Gebäude der Deutschen Nationalbibliothek mit
47.000 qm Hauptnutzfäche eingeweiht. Die darin
enthaltenen 30.000 qm Magazinfäche können optio-
nal noch um 10.000 qm Fläche der Tiefgarage er-
weitert werden. Zwei Drittel der Gesamtfäche liegen
unter der Erde. Die Baukosten betrugen 250 Millio-
nen D-Mark. Der Architekturwettbewerb fand 1982
statt und der Bau der Architektengemeinschaft Mete
Arat, Hans-Dieter Kaiser und Gisela Kaiser entstand
zwischen 1992 und 1997.
Links:
Am Standort Leipzig wurde 2011 der vierte
Erweiterungsbau mit 14.000 Quadratmetern Haupt-
nutzfäche fertiggestellt. Darin enthalten sind
10.000 qm Magazinfäche. Die Baukosten betrugen
59 Millionen Euro. Der Architekturwettbewerb fand
2002 statt und der Bau von Gabriele Glöckler wurde
von der Architektin in einer Arbeitsgemeinschaft mit
ZSP-Architekten zwischen 2007 und 2011 realisiert.
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