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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 12, 2000

Eine bibliographische Wunderwaffe?

Anmerkungen zu www.infoball.de

Rainer Pörzgen

 

Von einem Studenten bin ich darauf angesprochen worden: Es gebe eine Art Suchmaschine, über die man sich zu jedem beliebigen Thema umfassende Literaturlisten zusammenstellen lassen könne, die Bücher wie Zeitschriftenaufsätze nachwiesen. Allerdings war ihm die WWW-Adresse entfallen und er hoffte, sie von mir, dem Auskunftsbibliothekar, genannt zu bekommen. Aber ich konnte ihm leider nicht helfen. Zu seinem Erstaunen hatte ich noch nie von einer solchen Wundermaschine gehört – und nicht nur das: ich äußerte sogar Zweifel an ihrer Existenz. Diesen widersprach der Student. Und er gab an, den Hinweis darauf in dem kostenlos verteilten Hochschulmagazin Unicum gefunden zu haben. Meine Neugier war geweckt. Sollte es diese sagenhafte Maschine geben, musste ich sie selbstverständlich kennen lernen und prüfen, ob und inwieweit sie für meine Informationstätigkeit nutzbar sein könnte. Also suchte ich mir aus den Papierbergen unserer Universitätsflure die Zeitschrift heraus und fand tatsächlich im August-Heft eine kurze Notiz mit der Überschrift "Recherche light!" (S. 30), bei der bedauerlicherweise unklar bleibt, ob es sich um einen redaktionellen Beitrag oder um einen Werbetext handelt.

"Schluss mit Uni-Frust" wird versprochen – und tatsächlich: "Sortiert nach verschiedenen Fachbereichen bekommt der wissensdurstige Akademiker zu beliebigen Themen, Schlagwörtern und Autoren umfangreiche und detaillierte Listen mit Literatur und Fachinformationsangeboten individuell zusammengestellt. Diese reichen von Büchern, Zeitschriften und Fachaufsätzen bis hin zu Multimedia-Dokumenten": mit www.infoball.de greife man auf über 600 Kataloge der größten Bibliotheken und eine Vielzahl von Spezialdatenbanken zu. Das klingt in der Tat nach einem tollen Angebot! Ich habe es umgehend ausprobiert.

Nach Aufruf der Seite "infoball – Fachliteratur-Recherche in den größten Bibliotheken der Welt!" habe ich, um mir eine erste Übersicht zu verschaffen, die Datenbank-Liste angesehen. 612 Datenbanken werden angeboten (diese wie auch alle folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf eine Testrecherche am 25. Oktober 2000). Die alphabetische Liste der Datenbanken beginnt mit Acadia University, A-G Canada Ltd. (2x), AGCI Elements of Change, Alaska Geospatial Data Clearinghouse usw. - Hochschulen und Unternehmen vor allem in Kanada und den Vereinigten Staaten. An 25. Stelle folgt die erste deutsche Quelle, der Bayerische Bibliotheksverbund (BVB). Um festzustellen, welche weiteren deutschen Quellen ausgewertet werden, habe ich über die Länderliste Deutschland aufgerufen. Sechs Datenbanken wurden aufgelistet: der Bayerische Bibliotheksverbund, der Gemeinsame Bibliotheksverbund, die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die amerikanische medizinische Datenbank MEDLINE, die Öffentlichen Bibliotheken Berlins und die Technische Universität Braunschweig; die Datenbank MEDLINE ist wohl deshalb als deutsche Quelle aufgeführt, weil hier nicht auf den direkten Zugang im WWW, sondern auf den über den deutschen Host DIMDI hingeführt wird. Die übrigen Verbünde sowie Bibliothekskataloge fehlen ebenso wie der KVK. Über eine Datenbankliste bzw. dem sogenannten Filter ist es möglich, einzelne Datenbanken abzufragen; die Abfrage einer Auswahl von fünfzehn Datenbanken aus verschiedenen Sachgebieten, die im WWW jedermann zur freien Verfügung stehen, führte allerdings in keinem einzigen Fall zu einem Treffer.

Um eine Literaturrecherche zu starten, wählte ich den Themenbereich Wirtschaft aus. Bei der Formulierung von Suchanfragen war nur die Kombination von Verfasserangabe mit Titel/Titelstichwort oder Schlagwort möglich; weitere Verknüpfungen (z. B. über Sprache oder Erscheinungszeitraum) sind nicht vorgesehen. Die Eingabe des Namens kahle und des Titelstichwort produktion ergab sieben Treffer:

  1. "Die frachtkostenmäßige Lage der schleswig-holsteinischen Land- und Ernährungswirtschaft im übergebietlichen Versand ihrer Produktionsüberschüsse" von Olga Kahle, 1955.
  2. "Produktion" von Egbert Kahle, 2. Aufl. 1986
  3. "Produktion" von Egbert Kahle, 1980.
  4. (wie 1.)
  5. "Produktion" von Egbert Kahle, 3. Aufl. 1991.
  6. (wie 1.)
  7. "Produktion" von Egbert Kahle, 4. Aufl. 1996.

Für alle Treffer ist als Standort in Deutschland lediglich der BVB angegeben. Das überrascht dann doch sehr, denn die beiden Titel sind mehrfach in dem ebenfalls in der Datenbankliste aufgeführten GBV nachgewiesen. Da stellt sich doch die Frage, welchen Vorteil einem Literatursuchenden z. B. in Norddeutschland www.infoball.de über die Hilfsmittel seiner Bibliothek hinaus bietet, wenn er diese dann anschließend doch benutzen muss, um einen nähergelegenen Standort zu ermitteln. Eine parallele Abfrage im KVK mit den gleichen Suchbegriffen weist übrigens 28 auf das gesamte Bundesgebiet verteilte Standorte für den Titel "Produktion" von Egbert Kahle nach - Olga Kahles Buch wird allerdings damit nicht erfasst, da der KVK keine automatische Trunkierung vornimmt. Die unbefriedigenden Nachweise im Bereich der Bibliotheken gehen einher mit Hinweisen auf Buchhandel und Antiquariat: bei der Nr. 7, der lieferbaren Auflage des Titels von Egbert Kahle, wird ein Link zu Libri, bei den übrigen sechs Treffern, den nicht mehr lieferbaren Titeln, einer zu einem sog. Buchdetektiv angeboten ("Innerhalb weniger Tage erhalten Sie von uns ein unverbindliches Angebot per e-mail."). Vielleicht sollten deshalb die Hinweise auf die Verfügbarkeit in Bibliotheken auch gar nicht besser sein.

Noch deutlicher wurden die Defizite dieser vermeintlichen Wundermaschine bei einer thematischen Suche. Die Eingabe des Suchbegriffes call center als Titelstichwort bzw. -wörter ergab 193 Treffer. Es war nicht möglich, den Suchbegriff call center als Phrase zu kennzeichnen, so dass die gefundenen Titel den Suchbegriff deshalb teilweise als zwei voneinander unabhängige Wörter bzw., wegen der automatischen Trunkierung, sogar nur als zwei Wortbestandteile enthielten, also nicht brauchbar waren – zur Illustration mag dieses Beispiel dienen: King Faisal Center for Research and Islamic Studies: Arabic Calligraphy in Manuscripts! Stichproben aus den gefundenen 193 Titeln ergaben, dass es sich dabei ausschließlich um Bücher und Zeitschriften, diese ebenfalls mit "Publikationstyp: Buch (Monographie)" gekennzeichnet, handelte; entgegen allen Ankündigungen war kein einziger aktueller Aufsatz zum Thema darunter. Es wurden wieder keine Standorte in Deutschland außerhalb des BVB angegeben. Lieferbare Bücher waren i.d.R. mit Libri verlinkt, was bei Preisen bis 180,- DM allerdings keine Alternative zu flächendeckenderen Bibliotheksnachweisen ist.

"Während Abfragen der lokalen Rechner der Universitäten, Fachhochschulen und öffentlichen Bibliotheken oft nur auf wenige Datenbanken zurückgreifen, bietet www.infoball.de einfach mehr", stand in Unicum zu lesen. Ob das tatsächlich so ist, wollte ich an meinem Arbeitsplatz, der UB Lüneburg, einer kleinen Universitätsbibliothek überprüfen. Die Eingabe von call center? als Titelstichwörter im OPAC ergab tatsächlich nur fünf Titel, aber die anschließende Suche im Verbundkatalog des GBV erbrachte 74 Treffer, alle versehen mit Nachweisen erreichbarer Standorte (viele im nicht weit entfernten Hamburg, einige sogar in einer der Fachhochschulbibliotheken am Ort – die übrigen per online-Fernleihe zu bestellen). Eine Abfrage in der im GBV online angebotenen interdisziplinären Aufsatzdatenbank OLC verwies auf 832 zum Teil brandaktuelle Aufsätze. Eine weitere in der Fachdatenbank WISO I auf CD-ROM erbrachte sogar 915 Titel, hier jedoch nicht nur unselbständige Literatur, sondern auch selbständige. Abschließend bleibt also aufgrund der Stichproben festzustellen, dass www.infoball.de bei der thematischen Suche mit call center keinen einzigen Aufsatz aufgezeigt hat sowie keine Monographie, die nicht auch über die Verbundkataloge zu ermitteln gewesen wäre. Da nach einer Recherche dort diese Kataloge ohnehin zur Feststellung von Bibliotheksnachweisen benutzt werden müssen, stellt eine Recherche über www.infoball.de folglich nur einen unnötigen Umweg dar.

Die Frage drängt sich auf, warum ein solches Angebot entwickelt und angeboten wird, wenn es doch bereits bessere Recherchemöglichkeiten gibt. Eine Antwort könnte die Rubrik "Wer sind wir?" auf der Infoball-Homepage liefern: ein Doktorand in Münster war Anfang der 90er Jahre unzufrieden mit den Möglichkeiten seiner Universitätsbibliothek und entwickelte deshalb ein Computerprogramm für Literaturrecherche und –verwaltung, das ihm und seinem Kommilitonen und heutigen Geschäftspartner sehr hilfreich war. Sicher ist www.infoball.de mehr, als die meisten Bibliotheken vor etwa zehn Jahren zu bieten hatten. Aber es ist offensichtlich völlig losgelöst von dem, was sich seitdem in den Bibliotheken vollzogen hat, weiterentwickelt worden. Deshalb fällt es heute dahinter zurück. Nicht mehr wird geboten, wie vollmundig formuliert wird, sondern leider deutlich weniger – eben, wenn auch in einem anderen Sinne: "Recherche light"!.


Stand: 15.12.2000
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