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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 12, 98

DDB und DDC - Die Deutsche Bibliothek und die Dewey-Dezimalklassifikation


Perspektiven, Befürchtungen, Hoffnungen

Magda Heiner-Freiling

1. Klassifikation in Der Deutschen Bibliothek - in der Deutschen Nationalbibliographie, in der Schlagwortnormdatei und in der internen Organisation

Zur Zeit werden in Der Deutschen Bibliothek für Sacherschließungszwecke drei verschiedene Klassifikationen nebeneinander angewendet, die jeweils unterschiedliche Aufgaben erfüllen sollen. Diese Uneinheitlichkeit ist für die Benutzer der Bibliothek und für die Bezieher von bibliographischen Dienstleistungen schwer zu durchschauen und macht die Verwendung dieser Klassifikationen, die jede für sich genommen durchaus sinnvoll sein mag, durch Außenstehende nicht leichter.

Das Wöchentliche Verzeichnis der Deutschen Nationalbibliographie teilt die laufenden Neuerscheinungen in 65 Sachgruppen ein, die mit einigen kleinen Abweichungen der Reihenfolge in der Universalen Dezimalklassifikation (UDK) entsprechen, allerdings je nach Literaturaufkommen manchmal auch eigene Sachgruppen an Stellen aufweisen, wo die UDK bereits drei- oder sogar fünfstellige Notationen verwendet (so entspricht der Sachgruppe 49 Theater, Film die UDK-Notation 792 für Theater und 791.43 für Film). Neben der Eingruppierung im Wöchentlichen Verzeichnis kann diese Klassifikation als zusätzliches Selektionsinstrument bei der Sachrecherche mit RSWK-Schlagwörtern verwendet werden, wenn ein Schlagwort genauer eingegrenzt werden soll, weil es in verschiedenen Fachgebieten vorkommen kann, was leider wenige Benutzer des OPACs Der Deutschen Bibliothek oder der CD-ROM der Nationalbibliographie wissen und anwenden können. Für die Organisation des Geschäftsgangs dient diese Grobklassifikation in 65 Sachgruppen als schnell und einfach zu handhabendes Hilfsmittel für die Zuordnung der Neuerscheinungen zu den jeweiligen Fachreferaten.

Die Klassifikation der RSWK-Schlagwortketten bei der Erschließung von Dokumenten folgt denselben Regeln wie die Klassifikation der Deskriptoren in der Schlagwortnormdatei SWD. Es handelt sich dabei um eine "hausgemachte" Klassifikation, für die sich inzwischen der Name SWD-Systematik eingebürgert hat, obwohl sie ursprünglich zur systematischen Einteilung der in den Halb- und Fünfjahresverzeichnissen der Deutschen Bibliographie verwendeten Schlagwörter entwickelt wurde (die sogenannten "gelben Seiten"). Diese Klassifikation umfaßt 36 Sachgruppen, deren Reihenfolge sich völlig von der im Wöchentlichen Verzeichnis verwendeten unterscheidet und auch nicht dem Aufbau einer der beiden Dezimalklassifikationen entspricht. Innerhalb der einzelnen Sachgruppen gibt es recht unterschiedliche Differenzierungen in engere Fachgebiete; einige Sachgruppen verzichten ganz auf eine Untergliederung, andere, wie etwa Wirtschaft, Recht, Medizin oder Technik, verwenden bis zu drei verschiedene hierarchische Ebenen und umfassen 47 (Wirtschaft), 37 (Recht) oder 32 (Medizin) Untergruppen. Insgesamt bringt es die SWD-Systematik auf etwa 320 Systemstellen, wobei die Notationen für Personen oder geographische Schlagwörter noch nicht mitgerechnet sind. Für einen relativ breit angelegten Zugriff auf die Deskriptoren eines Fachgebietes in der SWD hat diese Klassifikation durchaus Vorteile und erleichtert damit auch die Organisation der Arbeit an der SWD. Obwohl es nicht ganz einfach war, die Bibliotheksverbünde davon zu überzeugen, werden die entsprechenden Notationen inzwischen von allen SWD-Partnern für neue Deskriptoren vergeben und ermöglichen es so, neue Schlagwörter oder Korrekturen und Mailbox-Nachrichten an bestehenden Datensätzen den jeweils zuständigen Fachreferenten zuzuordnen und auf diese Weise die ständige fachliche Kontrolle der SWD zu organisieren. In kleineren oder relativ fein untergliederten Fachgebieten können damit alle Deskriptoren zu einem Thema aus der ja immerhin mehrere hunderttausend Schlagwörter umfassenden SWD selektiert werden, wie es beispielsweise für die Arbeit an dem multilingualen Thesaurusprojekt MUSE (MUltilingual Subject Entry)1) von vier europäischen Nationalbibliotheken in den Sachbereichen Theater und Sport notwendig war. Ob die Klassifizierung von Schlagwortketten zu einzelnen Dokumenten mit Hilfe der SWD-Systematik über das Jahr 1998 hinaus beibehalten werden soll, ist zur Zeit noch nicht ausdiskutiert. Für ein Aufgeben spricht die Tatsache, daß sie weder von den Nutzern des OPAC noch von den Fachleuten der Sacherschließung selbst genutzt wird, auch wenn sie, insbesondere in der Verbindung mit dem Ländercode, durchaus sinnvolle Suchstrategien auf der CD-ROM der Nationalbibliographie ermöglicht.

Last not least: Die Anwendung der Basisklassifikation (BK) für die Aufstellung von circa 100.000 Titeln im Hauptlesesaal des Neubaus Der Deutschen Bibliothek und von etwa 1.000 Zeitschriften für den Zeitschriftenlesesaal führte im letzten Jahr zu Erwartungen in der bibliothekarischen Öffentlichkeit, die auf eine Vergabe von BK-Notationen auch für die bibliographischen Dienstleistungen hoffte. Die Basisklassifikation ist (bei allen Zuordnungsschwierigkeiten im Detail, wie sie jede Klassifikation in der Praxis mit sich bringt) einfach zu lernen und rasch zu notieren. Doch der Grad an Spezifizität, den ein System mit nur vier Ziffern pro Notation bieten kann, scheint für die Zwecke der bibliographischen Erschließung einer Nationalbibliographie als doch nicht ganz ausreichend, auch wenn man in Rechnung stellt, daß eine Klassifikation nur als ergänzendes und damit weniger spezifisches Erschließungsinstrument neben der engen und präzisen Beschlagwortung nach RSWK steht. So sind zum Beispiel drei Fachgebiete, die für Bestände einer Nationalbibliothek, aber auch für den Export bibliographischer Dienstleistungen von erheblicher Bedeutung und hohem Literaturaufkommen sind, mit nur jeweils einer Notationstelle ausgestattet: die deutsche Sprache, die deutsche Literatur und die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Selbst in einer relativ kleinen Sammlung wie der Reference Library im Lesesaal der Deutschen Bibliothek führt dies zu einer sehr unbefriedigenden Aufstellungssituation. Nichtsdestoweniger hätte die Basisklassifikation den großen Vorteil, ohne erheblichen Aufwand im personellen Bereich und bei der fachlichen Einarbeitung eine zusätzliche klassifikatorische Dienstleistung anbieten zu können, die zumindest die Bedürfnisse des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes, der ihre deutsche Version entwickelt hat, befriedigen würde. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß die Niederlande die Basisklassifikation mit geringfügigen Änderungen ebenfalls anwenden, fehlt ihr allerdings wohl doch der Grad an Internationalität, der für eine Nationalbibliographie wünschenswert wäre, um den Datenaustausch mit anderen Nationalbibliotheken und die Schaffung einheitlicher internationaler Zugriffsmöglichkeiten zu fördern.

2. Möglichkeiten für die zukünftige Anwendung einer Dezimalklassifikation in Der Deutschen Bibliothek

Kontakte innerhalb der Sektion für Klassifikation und Indexierung der IFLA vermittelten den Eindruck, daß entweder die Dewey-Dezimalklassifikation (DDC) oder die Universale Dezimalklassifikation am ehesten in der Läge wären, die Wünsche der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach einer international verbreiteten, theoretisch ausgearbeiteten und zuverlässig gepflegten Klassifikation zu erfüllen. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß im Fall der DDC eine Übersetzung ins Deutsche und Expansionen oder Anpassungen an die spezifischen Bedürfnisse der deutschsprachigen Länder notwendig wären, im Fall der UDK eine vollständig überarbeitete Neuausgabe. Darüber hinaus muß die gewählte Klassifikation in elektronischer Form zugänglich sein, die sowohl für die mit der Vergabe von Notationen Beschäftigten als auch für die Benutzer eines OPAC leicht zu handhaben ist. Dewey for Windows bietet die Vorteile einer CD-ROM-basierten Zugriffsmöglichkeit auf die DDC seit 1995, für die UDK liegt inzwischen ebenfalls ein Master Reference File vor.

Da meine praktischen Erfahrungen auf die verbale Sacherschließung begrenzt sind, erscheint hier eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Klassifikationstheorie und den möglichen Argumenten der Befürworter der einen oder anderen Variante der Dezimalklassifikation nicht am Platz. Es kann als gesichert angenommen werden, daß Überarbeitungen in der DDC zügig vorangetrieben werden, aber auch in der UDK im Gange sind. In beiden Systemen bemüht man sich so, den Anschluß an den wissenschaftlichen Fortschritt zu finden und neuen Wissenschaftsgebieten ausreichend zu berücksichtigen, selbst wenn dies nur über die Vergabe relativ langer Notationsstellen auf tieferen Hierarchieebenen möglich ist. Der Wunsch der europäischen Länder nach einer mehr europäisch orientierten Klassifikation wie der UDK hat insofern an Relevanz eingebüßt, als die DDC ihre Zentrierung auf die anglo-amerikanische Welt allmählich aufgibt - bei den Übersetzungen und Expansionen für die lateinamerikanischen Länder, Afrika oder den islamischen Raum hat die DDC ihre Offenheit für andere Kulturen, Religionen und Gesellschaftsstrukturen unter Beweis gestellt. Die kürzlich abgeschlossene Übersetzung ins Französische ist ein weiterer Meilenstein in dieser Entwicklung. Ein Überblick über die Nationalbibliographien, die die DDC zur Klassifikation verwenden,2) zeigt sehr deutlich ihre Dominanz in den englischsprachigen Ländern und in solchen, in denen Englisch mehr oder weniger zur Zweitsprache geworden ist, während im romanischen Sprachraum, aber auch in Ost- und Südosteuropa die UDK immer noch ihre traditionell starke Rolle behaupten kann. Sicherlich ist eine Klassifikation, die den Zugriff auf fast alle englischsprachigen Veröffentlichungen ermöglicht, in Deutschland, wo Englisch in vielen Fächern schon fast selbstverständlich für die wissenschaftliche Kommunikation und Veröffentlichungspraxis verwendet wird, das attraktivere Angebot, allerdings sollte sich eine Entscheidung nicht nur an statistischen Daten orientieren.

Für die Dienstleistungen Der Deutschen Bibliothek hätte eine Befürwortung der DDC seitens der wissenschaftlichen Bibliotheken in den deutschsprachigen Ländern zunächst keine spektakulären Konsequenzen, könnte die Qualität ihrer Dienstleistungen langfristig allerdings erheblich verändern und verbessern. Die Aufteilung des Wöchentlichen Verzeichnisses in 65 Sachgruppen würde zunächst wohl beibehalten, die zusätzliche Vergabe einer DDC-Notation für die angezeigten Titel käme aber sicherlich den Wünschen vieler Nutzer der bibliographischen Dienste in Bibliotheken und Buchhandel entgegen und könnte auch bei der OPAC-Recherche sehr hilfreich sein.

Die systematische Gliederung der SWD mit ihren fast 400.000 Deskriptoren kann sicherlich nicht kurzfristig in eine anderes Klassifikationssystem, das wesentlich spezifischer als das jetzige ist, konvertiert werden, weder automatisch noch manuell bzw. intellektuell. Aber es ist natürlich möglich, die Notationen der gewählten Klassifikation nach und nach bei der ständigen Arbeit mit der SWD zu ergänzen - in Verbindung mit der Entwicklung eines Netzwerks aus der SWD, den Library of Congress Subject Headings und der französischen Schlagwort-Normdatei RAMEAU erscheint das sehr sinnvoll und soll im Rahmen des derzeit laufenden multilingualen Thesaurusprojektes MUSE der Schweizerischen Landesbibliothek, der Bibliothèque nationale de France, der British Library und Der Deutschen Bibliothek getestet werden. Auf der Grundlage einer statistischen Analyse der am meisten verwendeten Deskriptoren in den Normdateien könnte man die Notationen der DDC beispielsweise nach und nach zumindest für die am häufigsten benötigten Schlagwörter ergänzen und dies im Lauf der Zeit auf alle noch aktuellen (d. h. laufend verwendeten) Deskriptoren ausweiten.

Internationaler Datenaustausch - das ist sicherlich das stärkste Argument für den Gebrauch einer Dezimalklassifikation, und für die DDC im besonderen. Selbst wenn es gelingt, die Verbindung zwischen den Deskriptoren der verschiedensprachigen Normdateien herzustellen, wird es wahrscheinlich immer sehr viel schwieriger sein, zwischen Schlagwörtern in unterschiedlichen Sprachen zu navigieren als eine international verbreitete Klassifikation mit Übersetzungen in verschiedene Sprachen zu benutzen. Der Zugriff auf mit DDC-Notationen versehene bibliographische Daten für fast alle englischsprachigen Publikationen in Kombination mit einer auf Deutsch zugänglichen DDC-Ausgabe, das ist eines der vielversprechenden Angebote, die die DDC zu machen hat. Ergänzt würde es durch die DDC-basierte Erschließung sämtlicher in den deutschsprachigen Ländern erschienener Dokumente, was ihre weltweite Zugänglichkeit erheblich verbessern würde.

3. Die Dewey-Dezimalklassifikation - eine Klassifikation für elektronische Publikationen?

Die Produktion von Metadaten für elektronische Publikationen war in der bibliothekarischen Diskussion der letzten Monate und Jahre ein häufig behandeltes Thema. Aufgrund der vorherrschenden Stellung von formalen Daten im Dublin Core haben verbale und klassifikatorische Erschließung dabei nur eine untergeordnete Rolle gespielt, obwohl allgemeine Übereinstimmung darüber besteht, daß die Sachrecherche in elektronischen Katalogen und im Internet an Bedeutung gewinnt. Nachdem die ersten deutschen Universitäten Dissertationen auch in elektronischer Form akzeptieren, hat Die Deutsche Bibliothek mit einem Test zur Erschließung solcher Publikationen mit SWD-Schlagwörtern begonnen, doch natürlich ist es sehr viel schwieriger, einen raschen und doch erschöpfenden Überblick über den Inhalt eines elektronischen Dokumentes zu bekommen, als das bei einer in gedruckter Form vorliegenden Publikation der Fall wäre. Genau das benötigt man aber für eine verbale Erschließung - vielleicht ist die Vergabe einer Notation auch aufgrund einer weniger detaillierten Analyse möglich, aber nichtsdestoweniger werden Bibliothekare niemals in der Lage sein, alle elektronischen Publikationen, die interessante und relevante Informationen enthalten, inhaltlich zu erschließen. So muß es den Autoren überlassen werden, ihren Veröffentlichungen einen gewissen Grad von bibliographischer Korrektheit und Zugänglichkeit zu geben, indem sie allgemein anerkannte klassifikatorische oder verbale Erschließungsinstrumente verwenden. Selbst wenn die Schlagwortnormdatei über das Internet für jeden zugänglich ist (was zur Zeit diskutiert wird), zeigt die Erfahrung, daß Wissenschaftler wahrscheinlich klassifikatorische Verfahren vorziehen werden. In den Naturwissenschaften werden Fachklassifikationen seit vielen Jahren angewendet, und selbst wenn Physiker oder Mathematiker ihre eigenen Klassifikationen nicht zugunsten einer universalen Klassifikation aufgeben wollen (hier können Konkordanzen Abhilfe schaffen), so gibt es doch viele Fachgebiete, in denen keine allgemein akzeptierte Fachsystematik existiert, aber ein universal einsetzbares Verfahren sehr wünschenswert wäre. Besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit ihrer ausgeprägten Tendenz zur interdisziplinären Forschung haben Fachklassifikationen niemals eine so wichtige Rolle wie in Naturwissenschaften und Technik gespielt. Hier könnte die DDC ein attraktives Angebot sein, wenn

Zwei mögliche Einwände sollten allerdings von Anfang an berücksichtigt werden: Vor allem die Wissenschaftsbereiche, die bei der Internet-Nutzung besonders fortgeschritten sind, werden an einer universalen Klassifikation wahrscheinlich nicht besonders interessiert sein und ihre Mängel (z. B. im Hinblick auf mangelnde Aktualität) besonders kritisch sehen. Die Fachgesellschaften für Mathematik oder Physik etwa werden immer ihre eigenen Fachklassifikationen vorziehen. Gerade sie spielen aber eine wichtige Rolle in allen Diskussionen über Metadaten, zum Beispiel auch in Global Info Projekten - also dort, wo Förderungsmittel am ehesten zur Verfügung stehen. Außerdem ist Englisch in diesen Fächern das gemeinsame Kommunikationsmedium, und selbst wenn man einräumt, daß eine universale Klassifikation Vorteile haben könnte, erscheint eine Übersetzung ins Deutsche für die Anwendung in den entsprechenden Bereichen nicht unbedingt notwendig. Es wird sehr viel schwieriger sein, eine allgemeine Nachfrage und Aktivitäten für die Beschaffung finanzieller Mittel bei den wissenschaftlichen Interessenvertretern in den Fächern zu organisieren, die überwiegend in Deutsch publizieren und einen Bedarf an einer allgemein anerkannten fachübergreifenden Klassifikation anzumelden hätten. Ausgerechnet in diesen Wissenschaftsbereichen, also den Geistes- und teilweise auch den Sozialwissenschaften, ist die DDC wiederum auf den ersten Blick nicht unbedingt ein überzeugendes Angebot, weil sie hier besonders der Überarbeitung während des Übersetzungsprozesses bedarf, um die spezifischen Bedürfnisse der deutschen bzw. europäischen Rechts-, Verwaltungs- und Bildungssysteme, die historischen und kulturellen Besonderheiten ausreichend zu berücksichtigen. Trotzdem sollte man bei allen möglichen Bedenken nicht aus dem Auge verlieren, daß die DDC die im Internet am häufigsten verwendete Universalklassifikation ist.3)

4. Wie kann Die Deutsche Bibliothek bei der Übersetzung und der Anpassung der Dewey-Dezimalklassifikation im deutschen Sprachraum mitarbeiten?

Die Deutsche Bibliothek hat sich immer in der Rolle eines Partners bei gemeinsamen Bemühungen zur Entwicklung nationaler Standards gesehen; das war im Bereich der alphabetischen Katalogisierung nicht anders als bei der verbalen Sacherschließung mit der Arbeit an den RSWK und der SWD. Dies bedeutet: weder die Schaffung eines neuen Regelwerks (oder, bezogen auf die DDC: der Übersetzungsvorgang) noch die spätere Anwendung der entsprechenden Regeln kann auf Die Deutsche Bibliothek beschränkt sein. Ein erfolgreiches Unternehmen muß auf der Zusammenarbeit von Partnern beruhen, die überzeugt sind, daß die Entwicklung und Anwendung eines solchen neuen Regelwerkes sinnvoll ist. Die Übersetzung der DDC, ihre Anpassung an die Bedürfnisse der deutschsprachigen Länder (Österreich und die Schweiz sollten hier von Anfang an einbezogen sein) und Expansionen in den Bereichen, die für unsere kulturellen, sozialen und historischen Traditionen und Strukturen von besonderer Bedeutung sind - das muß eine Herausforderung für das gesamte wissenschaftliche Bibliothekswesen sein. Die Übersetzungen der DDC ins Französische4) und ins Spanische5) in einer relativ kurzen Zeit zeigen, daß eine solche Kraftanstrengung möglich ist, wenn eine effektive, finanziell ausreichend ausgestattete Organisation dahinter steht, die in beiden Fällen nicht auf einer nationalen Basis, sondern auf den gemeinsamen Sprachraum bezogen gearbeitet hat, im ersten Fall als französisch-kanadisches Kooperationsprojekt, bei der spanischen Übersetzung als lateinamerikanische Initiative. Des weiteren bedarf es hochqualifizierter und engagierter Mitarbeiter, die möglichst aus verschiedenen Institutionen kommen sollten, soweit sie nicht speziell für dieses Projekt eingestellt werden. Auch die Mitarbeit und Unterstützung durch die Arbeitsgemeinschaften der Spezialbibliotheken und die Fachgesellschaften wäre eine große Hilfe und könnte ein Übersetzungs- und Bearbeitungsunternehmen auf eine breitere fachliche Basis stellen. Darüber hinaus ist dann eine größere Akzeptanz des späteren Produktes zu erwarten - und hier können Kontakte genutzt werden, die für das multilinguale Thesaurusprojekt ebenfalls von Nutzen wären oder dafür bereits geknüpft wurden. Die Deutsche Bibliothek könnte dabei die Funktion einer organisatorischen Zentrale oder Clearingstelle übernehmen und die verschiedenen Aktivitäten bündeln. Aber selbst wenn man ihre mögliche Rolle dabei mit der der Library of Congress oder anderer Nationalbibliotheken vergleicht, so läßt sich doch feststellen, daß die Entwicklung und Pflege einer Klassifikation wie der DDC nicht im Aufgabenbereich einer solchen Bibliothek angesiedelt ist. Ein Unternehmen wie die Übersetzung der DDC sollte eine gemeinsame Aufgabe für die Bibliotheksverbünde der deutschsprachigen Länder sein.

5. Kann Die Deutsche Bibliothek es schaffen, die Dewey-Dezimalklassifikation anzuwenden? Bedenken und Hoffnungen

Die derzeitige Situation Der Deutschen Bibliothek ist durch einen kontinuierlichen Stellenabbau gekennzeichnet; in der Sacherschließungsabteilung kommt darüber hinaus eine ständig wachsende Zahl von Aufgaben und Verantwortlichkeiten hinzu. So schließen sich zur Zeit zwei neue Partner, die deutschsprachige Schweiz, vertreten durch die Schweizerische Landesbibliothek, und der Bibliotheksverbund Berlin-Brandenburg an das SWD-Netz an. Dies führt zu einem Anwachsen der Zahl neuer Schlagwörter, Korrekturen und Mailbox-Kontakte. Darüber hinaus können noch immer nicht alle Publikationen in den Reihen B und H der Deutschen Nationalbibliographie inhaltlich erschlossen werden, obwohl dies seit Jahren von den Bibliotheksverbünden angemahnt wird. Es erscheint geradezu vermessen, unter solchen Bedingungen zusätzliche Dienstleistungen in der Größenordnung einer so aufwendigen Notationsvergabe, wie sie die DDC-Anwendung bedeutet, auch nur in Erwägung zu ziehen, zumal mit der Beschlagwortung nach RSWK bereits ein Sacherschließungsangebot vorliegt. Wie die Expertengruppe Online-Kataloge 1994 festgestellt hat, erscheint die Verwendung einer relativ weiten Klassifikation wie der Basisklassifikation als ausreichend, wenn sie nur als Ergänzung einer so spezifischen verbalen Erschließung wie den RSWK angesehen wird.6) Für den internationalen Datenaustausch im Bereich der Inhaltserschließung könnte eine Vernetzung der nationalen Schlagwortnormdateien, wie sie im MUSE-Projekt erprobt wird, ein befriedigendes Angebot sein. Es wird deshalb außerordentlich schwierig sein, Unterhaltsträger, Bibliotheksdirektoren und nicht zuletzt diejenigen, die die Arbeit tun müssen, davon zu überzeugen, daß ein zusätzliches Klassifikationsprojekt sinnvoll ist. Selbst wenn die Expertengruppe Klassifikation in ihrem Gutachten feststellt, daß Die Deutsche Bibliothek als nationales bibliographisches Zentrum eine international anerkannte Klassifikation zusätzlich zur verbalen Sacherschließung anwenden sollte7), bedeutet das keineswegs, daß jemand bereit ist, dies auch zu bezahlen.

Selbst wenn die Übersetzung der DDC durch Projektmittel gesichert wäre und die personellen Ressourcen zur Verfügung ständen, ist damit keine dauerhafte Verpflichtung für die Pflege der deutschen DDC-Version verbunden, die aber unbedingt gesichert sein muß und einer personellen, finanziellen und organisatorischen Basis bedarf. Dabei sind ähnliche Strukturen wie bei der Pflege der SWD denkbar und würden zu einer Schlüsselstellung Der Deutschen Bibliothek führen - mit einem wichtigen Unterschied: Die DDC ist nicht unser eigenes System, an dem Partner in allen deutschsprachigen Ländern beteiligt sind, aber keine Grundsatzentscheidungen außerhalb dieses Verbundes getroffen werden. Die DDC ist ein internationales System mit einer mit gewichtigen Befugnissen ausgestatteten Zentrale in USA. Aus den Erfahrungen der British Library läßt sich lernen, was das bedeutet, denn seit die British Library die Library of Congress Subject Headings verwendet, ist sie ein solcher Juniorpartner geworden.8) Es ist keineswegs einfach, an der Schnittstelle zwischen den Bedürfnissen und Interessen der lokalen Bibliotheken und regionalen Verbünde auf der einen Seite und einer vielsprachigen weltweiten Gemeinschaft mit einer mit zahlreichen Befugnissen ausgestatteten Zentrale auf der anderen Seite zu stehen. Trotzdem ist dies eine außerordentliche Herausforderung, die mit den Aufgaben bei der Entwicklung eines multilingualen Thesaurus viele Berührungspunkte hat. In beiden Fällen bedarf es hochqualifizierter und -motivierter Mitarbeiter, einer effektiven Datentechnik und ausreichender Mittel für Reisekosten, Fortbildung, Kommunikation und publizistische Aktivitäten.

Die Weiterbildung des Personals, das in den Sacherschließungsabteilungen der Deutschen Bibliothek Frankfurt und der Deutschen Bücherei Leipzig für die DDC-Vergabe zuständig sein würde, ist ein weiterer wichtiger Punkt. Die DDC ist nicht einfach zu erlernen und anzuwenden; Erfahrungen im Klassifizieren sind bisher kaum vorhanden. Es wird ein schwieriger und langwieriger Lernprozess sein, bis Qualität und Quantität der Klassifizierungsleistungen sich mit den in anglo-amerikanischen Bibliotheken erzielten Ergebnissen vergleichen lassen. Die Bemerkungen Ingo Nöthers zu fehlerhaften DDC-Notationen in der British National Bibliography können einen Eindruck von den Anforderungen vermitteln, die bei nationalbibliographischen Dienstleistungen an die Notationsvergabe gestellt werden.9) Die DDC verfügt für die Aus- und Weiterbildung über eine Reihe von Hilfsmitteln, die aber alle, wie das Regelwerk selbst, bisher nur auf Englisch vorliegen. Hier sind Übersetzungen und Bearbeitungen für deutschsprachige Indexierer notwendig, denn es kann nicht davon ausgegangen werden, daß ausschließlich englischsprachige Nachschlagewerke auf die Dauer für eine ständige, rasche und effektive Information ausreichen. Wie ist all dies in kurzer Zeit zu verwirklichen?

Ein Blick auf die französischen Erfahrungen bei der Übersetzung der DDC ist sehr hilfreich, sowohl was die Schwierigkeiten bei der Übertragung der DDC in eine westeuropäische Umgebung angeht, als auch in organisatorischer Hinsicht. Ein Workshop anläßlich des diesjährigen IFLA-Kongresses in Amsterdam ermöglichte einen interessanten Einblick in die Vorgehensweise bei diesem von den Nationalbibliotheken in Frankreich, Kanada und Quebec gemeinsam mit der ASTED, der entsprechenden Bibliotheksorganisation, gemeinsam getragenen Unternehmen.10) Die Berichte vermitteln einen lebhaften Eindruck von den Problemen, mit denen man konfrontiert ist, wenn man mit einer Klassifikation arbeitet, die ganz und gar nicht auf europäische Bedürfnissen in Bereichen wie Verwaltung, Recht, Bildungswesen, Religion und Geschichte zugeschnitten ist. Das französische Herausgeberteam entschied sich dafür, keine weitergehenden Veränderungen (Adaptationen - Besetzung identischer Notationsstellen mit unterschiedlichen Sachverhalten) zuzulassen, da sie im internationalen Datenaustausch äußerst nachteilige Folgen hätten. Statt dessen verwendet man Expansionen und eine Menge von Hinweisen auf die jeweils richtige Notationstelle, um spezifische französische Sachverhalte zu verankern und das Vokabular den Bedürfnissen französischer Benutzer anzupassen. Sollte man sich zu einer Übersetzung der DDC ins Deutsche entschließen, so kann eine sorgfältige Prüfung der französischen Ausgabe von großem Nutzen sein, um sicherzustellen, daß Lösungen für gesamteuropäische Probleme nach Möglichkeit übereinstimmen. Für die Organisation des Vorgehens beim Übersetzungsprozeß läßt sich ebenfalls einiges lernen, wenn man auch in Rechnung stellen muß, daß die französisch-kanadische Kooperation auf die Nationalbibliotheken beschränkt war, ein Modell, das auf das Bibliothekswesen der deutschsprachigen Länder nicht unbedingt übertragen werden sollte. Trotz der transatlantischen Kommunikationsprobleme dauerten die eigentliche Übersetzung und der komplizierte Vorgang des Korrekturlesens nur knapp achtzehn Monate. Eine größere Anzahl von Partnern macht ein solches Projekt vielleicht zeitaufwendiger, hat aber den Vorteil, breiter angelegte Erfahrungen und Fachkenntnisse einbringen zu können und damit auch die spätere Akzeptanz zu erhöhen.

Kommt man auf die Rolle Der Deutschen Bibliothek zurück, so läßt sich mit Sicherheit sagen, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Beschäftigung mit der DDC mehr als gewagt erscheint. Alle Bibliotheken sind mit erheblichen Einschnitten in der Finanzierung und im Personalbestand konfrontiert, und Die Deutsche Bibliothek macht hier keine Ausnahme. Wie können wir uns auf ein so gewaltiges Unternehmen, wie es die französische Herausgeberin der DDC nennt,11) überhaupt ernsthaft einlassen? Die Mitarbeit an der Übersetzung, die spätere Anwendung der DDC für die Erschließung in der Nationalbibliographie und vielleicht auch noch die Funktion einer nationalen Anlaufstelle für die Pflege und Weiterentwicklung der deutschen DDC-Ausgabe scheint die personellen Kapazitäten Der Deutschen Bibliothek weit zu übersteigen. Andererseits ergibt sich durch die in den kürzlich veröffentlichten Empfehlungen "Klassifikationen für wissenschaftliche Bibliotheken" und durch die Diskussionen über Sacherschließungsmethoden für elektronische Publikationen eine einmalige Gelegenheit, um die Notwendigkeit eines solchen Engagements zu begründen und Unterhaltsträger und Förderungsgremien vom Sinn eines solchen Vorhabens zu überzeugen. Diese Chance sollte man nicht verpassen und angesichts der bekannten Sachzwänge resignieren, denn sie wird sich so bald kein zweites Mal bieten, aber natürlich gehört dazu ein breite Diskussion der Vor- und Nachteile der DDC, bevor man sich zu einer Übersetzung entschließt. Eine Veranstaltung beim Bibliothekartag 1999 in Freiburg soll dazu auch einer breiteren bibliothekarischen Öffentlichkeit Gelegenheit bieten.

1) Kunz, Martin : Mehrsprachigkeit in der Sacherschließung. In: Dialog mit Bibliotheken, 10 (1998), 2, S.35-36.

2) Bell, Barbara L. : The Dewey decimal classification system in national bibliographies. In : Dewey decimal classification, edition 21 and international perspectives / ed. by Lois Mai Chan and Joan S. Mitchell. Albany, New York, 1997. p. 56

3) Koch, Traugott : Nutzung von Klassifikationssystemen zur verbesserten Beschreibung, Organisation und Suche von Internetressourcen. In : Buch und Bibliothek, Jg. 50, 1998. S. 326-335

4) La classification décimale Dewey (CDD), un outil pour le 21e siècle / IFLA, atelier de la Section de classification, Amsterdam, 20 août 1998.

5) Rojas L., Octavio G. : Translating the DDC, the experience of the Spanish version. In : Dewey decimal Dewey decimal classification, edition 21 ... p. 77-83

6) Sacherschließung in Online-Katalogen / Kommission des Deutschen Bibliotheksinstituts für Erschließung und Katalogmanagement, Expertengruppe Online-Kataloge / Berlin : Deutsches Bibliotheksinstitut, 1994. S. 37 ff.

7) Klassifikationen für wissenschaftliche Bibliotheken / Berlin : Deutsches Bibliotheksinstitut, 1998. S. 93 ff.

8) MacEwan, Andrew : Working with LCSH, the cost of cooperation and the achievement of access. IFLA Amsterdam, 1998, Booklet 4. p. 30-35

9) Nöther, Ingo : Zurück zur Klassifikation. In : Klassifikationen für wissenschaftliche Bibliotheken / Berlin : Deutsches Bibliotheksinstitut, 1998. S. 249 ff.

10) Die Beiträge des Workshops über die DDC-Übersetzung ins Französische (IFLA, atelier de la section de classification ...) werden in nächster Zeit in englischer Sprache bei OCLC Forest Press erscheinen.

11) Couture-Lafleur, Raymonde : Réflexions sur la mise en oeuvre de la traduction de la CDD. In : IFLA, atelier de la Section de classification ... S. 1


Stand: 09.12.98
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