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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 12, 98

4. Symposium der Arbeitsgemeinschaft Bibliotheca Baltica in Stockholm


General conference1)

Jörg Fligge

Die Rolle der Gastgeberin für das 4. Symposiums der AG BIBLIOTHECA BALTICA vom 17. - 20. September 1998 hatte in diesem Jahr die Kgl. Bibliothek Stockholm, deren Direktor Dr. Tomas Lidman zugleich der Präsident der Arbeitsgemeinschaft ist, übernommen. Der allgemeine Teil war mit einer Spezialkonferenz kombiniert, die sich dem Thema Regionalbibliographie widmete. 80 Teilnehmer aus allen Ländern des Ostseeraums (mit Ausnahme Norwegens) bewiesen ihr Interesse an Vorträgen, Gesprächen und attraktiven Bibliotheksbesichtigungen (Kgl. Bibliothek, UB Stockholm und Public Library von Stockholm sowie der Bernadotte Bibliothek im Kgl. Schloß). Besonders zu erwähnen ist, daß auch die Kaliningrader Regionalbibliothek (Oblastnaja biblioteka) mit einem Vortrag ihrer Direktorin Nina Aleksandrovna Ruzova2) vertreten war.

Zur Eröffnung sprachen der Gastgeber und Prof. Inge Jonsson von der Kgl. Schwedischen Akademie für Literatur, Geschichte und Altertumswissenschaften. Diese Akademie wurde 1753 begründet und hat ihren Ursprung in einem eher privaten Literaturzirkel der Königin. 1773 organisierte sich die Akademie in zwei Abteilungen (u.a. Sciences) und ist heute mit etwa 200 Mitgliedern international präsent. Die Akademie stand immer der Kgl. Bibliothek nahe, obgleich sie über eine eigene Bibliothek verfügt. Die Akademie, die dieses Symposium wesentlich gesponsert hat, widmet sich nicht nur der Wissenschaft, der Förderung großer Editionen (Carl-Michael-Bellmann; Königin-Christina-Gesamtausgabe), sondern kümmert sich auch um Projekte wie die Leseförderung in den Schulen. Im Rahmen des Kulturjahres 1998 (Stockholm ist Kulturhauptstadt Europas) erhält und bespricht jeder Schüler Stockholms ein Werk der gehobenen Schönen Literatur. Der Referent führte weiter aus, daß zu den internationalen Kontakten, die gepflegt würden - etwa zur European Science Foundation - auch die Baltischen Akademien zählten. Prof. Jonsson schlug vor, seltene Bücher aus dem Besitz der Schwedischen Akademiebibliothek über das Internet zugänglich zu machen. Der Beruf des Bibliothekars werde, so der abschließende Hinweis, auch in Zukunft seine Aufgabenstellung haben, da das Buch in Kultur und Wissenschaft weiterhin seine grundlegende Bedeutung beibehalten werde.

Tomas Lidmann griff diesen Gedanken auf: Heute gäbe es große Veränderungen, die denen der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Gutenberg - und dem weitgehenden Zurücklassen der Scriptorien - entsprächen. Die Bibliotheken würden immer mehr zu Information-Providern und repräsentierten eine lieblose Computerwelt, das vertraute Milieu der alten Bibliothek verflüchtige sich - so die Klage von Beate Sydhoff, die maßgeblich am Projekt Kulturhauptstadt 1998 mitgewirkt habe. Dazu sei zu bemerken: Warum Ängste vor einer gravierend neuen Entwicklung, wie sie auch zu Gutenbergs Zeit stattfand? Wesentlich sei andererseits: Nach wie vor stehe die Bibliothek in der Tradition der Aufklärung, der Wahrheitssuche, des Wissens und der demokratischen Werte. Der Bildungsbedarf habe sich ausgeweitet: In den letzten Jahren seien in Schweden etwa 50.000 neue Studienplätze geschaffen worden. Die große Nachfrage der Studenten sowohl nach Büchern wie auch nach technisch gestützten Bibliotheksarbeitsplätzen könne nur durch enge Kooperation mit den Public Libraries bewältigt werden, was in Schweden darüber hinaus aufgrund eines Bibliotheksgesetzes von 1997 angestrebt wird. Die Bibliothekare müßten den Bedarf ihrer Nutzer ganz in den Vordergrund rücken, aber auch die geeignete Atmosphäre schaffen, in der sich die Benutzer wohl fühlten. Die Wissensgesellschaft böte den Bibliotheken neue Chancen.

Die Stockholmer Realitäten belegen dieses Szenario: Obgleich die moderne UB über die beachtliche Zahl von ca. 1.600 Bibliotheksarbeitsplätzen verfügt, sind diese tagsüber sehr schnell ausgebucht. Die Stadtbibliothek hat daher innerhalb ihrer Leserschaft ca. 70% Studenten im weiteren Sinne, davon etwa 55% von der Universität. Jan Boman von der Stockholm City Library (500.000 ME) nannte in seinem Referat "Investigation on the Needs and Attidudes of Library Users" diese Zahlen. Das größte städtische Bibliothekssystem mit 38 Zweigstellen wird allein von der Stadt unterhalten. Der historisch beachtenswerte Bau der ZB entstand 1928 (Architekt: Gunnar Asplund, 1924-27 errichtet) und enthält in der Mitte eine Rotunde mit drei Buchstellebenen sowie in den Seitenflügeln mehrere größere und kleinere Lesesäle, die einzelnen Wissenschaftsgebieten gewidmet sind. Man registriert täglich 3.000 Besucher (ca. 1 Mio/Jahr), 1.035 Mio Ausleihen. In der dunklen Jahreszeit ist sonntags ebenfalls geöffnet, sodaß sich die Öffnungsstunden pro Woche auf 58 belaufen. 60% der Leser sind auch Lesesaalbenutzer. Vor Freizeitbedarf (22%) rangieren Studienhilfen (83%), Informationsbeschaffung (83%), Hilfe zur Forschung (80%), Kommunikation (77%). Zum Aufgabenspektrum gehören ferner landesweite Leihverkehrsaufgaben für Öffentliche Bibliotheken. Der Durchschnittsbesucher ist 29 Jahre alt, was sich aus dem bereits genannten Studentenanteil herleitet. 52% der Benutzer sind Frauen, 48% Männer. Die Erwerbungspolitik wird aber keineswegs einseitig auf die Studenten ausgerichtet, wenn auch die Ausleihe zu ca. 34% Lehrbücher beinhaltet, sondern eher auf den allgemeinen Bedarf. Viele Studenten benutzen die Stadtbibliothek wegen ihrer günstigeren zentralen Stadtlage.

Gunnar Sahlin, Direktor der UB (2,5 Mio. ME), bezweifelte Bomanns hohe Zahlen ein wenig, doch gäbe es da keinen Wettstreit, sondern die kooperative Lastenteilung. Die UB unterstütze auch die Forschung und habe viele Institute, Firmen, Organisationen als Kunden. Aufgrund des im Web zugänglichen Kataloges kämen viele Außenbenutzer hinzu. Mit 72 Öffnungsstunden stehe auch die UB mit täglichem Service zur Verfügung. Während früher die Public Libraries stark auf die Schöne Literatur ausgerichtet gewesen seien, gäbe es heute eine breite Überlappung auf dem Feld der Fachliteratur. Kooperative Absprachen seien sinnvoll, um den riesigen Literaturbedarf der in Ausbildung Befindlichen gemeinsam sicherzustellen. Bei der Diskussion unterstrich auch Erland Kolding Nielsen von der Kgl. Bibliothek Kopenhagen, die zugleich UB-Funktionen wahrnimmt, daß die Studenten im weitesten Sinne bei allen Bibliotheken die überwältigende Benutzergruppe darstellen. Die Kgl. Bibliothek selbst ziele aber auf das Universitätsniveau ab. In der Stockholmer Kgl. Bibliothek dürfen die Studenten keine eigenen Lehrbücher mitbringen, um sie in den Lesesälen zu nutzen (im Sinne eines angenehmen Arbeitsplatzes), sondern sie sollen mit dem Fundus der Bibliothek arbeiten. Dennoch stellen sie 50% der Benutzerschaft.

Lita Hofmane, NB of Latvia, Riga, verwies in ihrem Beitrag auf die starke Nutzung der Zeitschriftenabteilung durch die Studenten (ca. 85%). Es würden aber auch viele Oberschüler registriert. Hauptsächlich nachgefragte Fachbereiche seien Naturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und Kulturwissenschaften sowie Landeskunde östlicher Länder. Die Bibliothek stütze sich ebenfalls auf Befragungen (allgemeiner Service, Lesesaalnutzung, nationale Dienste). Studienhilfen, Information und Forschung liegen mit etwa 80% an der Spitze des Bedarfs.

Kristiina Hildén, UB u. NB Helsinki, wandte sich dem Thema "Leistungsmessung in Bibliotheken" zu, zu dem es inzwischen zahlreiche Beiträge gibt. Voran stehe die Tätigkeitsstrategie oder -politik. Man müsse sich Ziele setzen und deren Realisierung überwachen und untersuchen. Welche Erfolge wurden erzielt, wie wurden die Mittel eingesetzt? Die Kosten-Nutzenrechnung müsse die Ebenen Bibliotheksleitung (Direktion, Management), Vorgesetzte (Abteilungen) und die Mitarbeiter (Produkte) einbeziehen. Ziele und Kostenziele gingen Hand in Hand. Eine Dienstleistung kann/sollte hinterfragt werden (Lohnt es sich, diese selber anzubieten?). Bei der Kostenstruktur gliedert man in Helsinki in Kernfunktionen, interne technische Dienste, zu kaufende Dienste, Entwicklungsprojekte und "restliche Projekte". Dabei hätten viele Entwicklungsprojekte fast Kernfunktionen. Für die "restlichen Projekte" würde das Geld knapper, ergo dürften sich nicht zu viele Restarbeiten von Vorgängeraktivitäten ansammeln. Zwei Kernaufgaben hätten derzeit besondere Priorität: 1. die Bestandserhaltung im Sinne einer Vorbeugung von weiteren Schäden (u.a. 100%ige Zeitungsverfilmung) und 2. die Kundenorientierung: Stärkung der Abteilungen, die mit den Kunden zu tun haben. Die Kosten gliederten sich grob in Löhne und Gehälter (50%), Betriebsausgaben (20%) und Gebäudeerhaltung/Räumlichkeiten (30%). Bei der Personalorganisation ist auf ein Höchstmaß an Flexibilität Wert zu legen. Zu starke Einengungen auf ein zu spezielles Arbeitsfeld sind zu vermeiden. Strukturen sollten der Strategie folgen oder sinngemäß angepaßt werden können. - Auf Nachfrage ergab sich, daß keine spezielle Software eingesetzt werde (Excel, Personalverwaltungssoftware der Universität).

Esko Häkli, der frühere Präsident der Arbeitsgemeinschaft und Direktor der UB und NB Helsinki, übernahm das Thema "Leistungsmessung in Bibliotheken", für Roswitha Poll, ULB Münster, die nicht kommen konnte. Ihre Publikation "Leistungsmessung in wissenschaftlichen Bibliotheken" (München 1998), vgl. die Zusammenfassung in ZfBB 39.1992, S. 95-109, sowie einschlägige Normen (ISO/DIS 11620) bildeten den Hintergrund für nachfolgende Ausführungen. Häkli betonte, daß die Leistungsmessung zunächst die eigene, individuelle Bibliothek durchleuchten soll. Die Kosten spielten eine zentrale Rolle. Der Erfassungaufwand sei nach wie vor groß. Man müsse deutlich strategische Ziele und operative (eher interne) unterscheiden. Die Geldgeber hätten ihre eigenen Bewertungen, z.B. Kosten pro Student. Das Generalziel von Bibliotheken könne nicht sein, Kosten zu sparen, sondern die gewünschten Dienstleistungen optimal und günstig zu erbringen. Die Leistungsmessung sei zunächst für die operative Unternehmensführung geeignet. Kennzahlen seien wichtig. Schematische Betrachtung führe jedoch leicht in die Irre: Wenn es beispielsweise um die Bereitstellung neuer Publikationen, so sei zunächst wesentlich, daß die nachgefragten Publikationen schnell verfügbar seien. So sei es kein Unglück, wenn z. B. eine aktuell gewünschte, bereits vor fünf Jahren erschienene Publikation bislang nicht beschafft worden war, da auch keine Nachfrage bestanden hatte. "Nicht die Geschwindigkeit nach Erscheinen, sondern das Bereitstellen bei Bedarf ist entscheidend." Häkli wandte sich gegen Schematisierungen. Letztlich würden auch nicht penible Messungen (eher der bisherigen bibliothekarischen Mentalität zuzuordnen) zum Erfolg der Bibliotheken (d. h. zu erfolgreichen Managemententscheidungen) führen, sondern nach wie vor die bibliothekarische Tradition/Überblick/Weitblick, das Herausstellen bzw. Erkennen von Wesentlichem, wie etwa der Notwendigkeit, sich für die Erhaltung unverzichtbarer Forschungsbestände stark zu machen. Dennoch käme keine Bibliothek um Methoden moderner Betriebsüberwachung herum. Dabei müßten die Kosten in jedem Fall - auch bei internationalen Vergleichen - einbezogen werden. Immer wichtiger werde der flexible Einsatz von Mitarbeitern ("keine unveränderlichen Aufgaben" zuweisen).

Arts Klints, IT Alise (= Advanced Library Information Service), Riga, sprach als "Quality manager" über "Process Reengineering in Libraries". Hinter diesem "dynamischen" Vokabular verbirgt sich nichts anderes als Reform. Installierte Verfahren sollen durch "rethinking" bzw. radikales "redesign" effektiver, serviceorientierter werden, neue Wege sollen gefunden werden. Es sind immer die gleichen Vokabeln, die auftauchen: Kundenorientierung, Innovation, Effektivität, neue Technologien, neue Dienstleistungen. Fragt sich nur, wie man mit reduzierten Mitteln und auch personellen Ressourcen all diese Wunder vollbringen soll. Kritisiert wurde ferner der Begriff "customer". Der Begriff "user" beinhaltet doch mehr, schließlich die Werte und Erwartungen, auf die Tomas Lidman in seiner Eingangsrede hinwies: die Bibliotheken als Ort der Aufklärung, des Wissens in einer demokratischen Gesellschaft mündiger Bürger. Bibliotheken "verkaufen" nicht nur etwas.

Audrone Glosiene, Fakultät für Kommunikation, Univ. Vilnius, behandelte das Thema "Library Policy. European Projects and Lithuanian Perspektives". Ein Bibliotheksgesetz von 1995 hat Ziele für die Erneuerung des litauischen Bibliothekswesens gesetzt, insbesondere den freien Zugang zu allen Informationen für jeden Bürger. Insofern spielt auch ein Programm zur Erneuerung der Public Libraries eine Rolle. Zur Umsetzung solcher Ziele, natürlich auch bei der Informationstechnologie, ist die Teilnahme an EU-Programmen von Bedeutung. Obgleich nicht EU-Mitglied, nimmt Litauen an diversen Programmen für CEE-Länder (= Central and Eastern European Countries) teil. Dabei geht es nicht zuletzt um die Einbindung des litauischen Bibliothekswesens in das europäische Netz auf demokratischer Grundlage. Eine europäische Bibliothekspolitik gäbe es jedoch nicht - so Esko Häkli in der anschließenden Diskussion - diese sei Angelegenheit der einzelnen Länder.

Jörg Fligge zog in seinem Beitrag "International Access to Library Holdings" ein Resumee seit der ersten Bibliotheca Baltica-Konferenz in Lübeck 1992. Damals gab es neue Informationen über den Verbleib ehemals deutscher Sammlungen in Polen, z. B. aus den Adelshäusern Dohna (Galinden) und Lehndorff (Steinort) und von Gymnasialbibliotheken. Weitere Gesichtspunkte wurden in Tartu 1994 und in Riga 1996 hinzugefügt. Was hat sich seitdem bewegt? Der Hinweis auf die deutsch-russischen Restitutionsverhandlungen ist wenig ermutigend. Von großem Interesse ist jedoch auch die internationale Diskussion bei Symposien und in den Artikeln der Dokumentation "Spoils of War", die unter hppt://www.dhh-3.de/looted/ im Internet gelesen werden kann. Danach hält Rußland Bestände ganz verschiedener europäischer Länder zurück, selbst ehemaliger Hitlergegner, Alliierter oder sogar aus jüdischem Besitz. Die internationalen Verträge, Statements der UNESCO, aber auch die russische Verfassung Artikel 415 Absatz 43) sprechen gegen dieses Verhalten. Im Gegenzug wurden die Rückgabeaktionen aus Georgien und Armenien sowie vergleichbare Vorgänge dargestellt und auf das bisher wirkungslose "Memorandum" der deutsch-russischen Expertenkommission vom 11.6.1996 hingewiesen (= Bibliotheksdienst 30.1996. S. 1475-1481). Aufgrund dieses Szenariums und vieler bekannter Details kann man leider noch nicht davon sprechen, daß der internationale Zugang zu allen für den Ostseeraum relevanten Sammlungen schon eine Tatsache wäre.

Viesturs Zanders von der Baltischen Zentralbibliothek Riga sprach über "Die Beziehungen zwischen Bibliotheken Lettlands und der nordischen Länder". Aus der 1524 gegründeten Stadtbibliothek Riga ging die heutige Akademie-Bibliothek hervor. Die Bibliothek des Herzogs von Kurland in Goldingen/Mitau wurde nach St. Petersburg überführt und befindet sich heute teilweise in der dortigen Akademie-Bibliothek, kam aber in Teilen nach Turku - damals Russisches Reich - als Ausgleich für einen Bibliotheksbrand (1827). Bestände aus dem Rigaer Jesuitenkolleg wanderten wiederum nach Uppsala, Schweden. König Gustav II. Adolf war auf diesem Felde sehr aktiv. Aufgrund dieser und ähnlicher Vorgänge sind Forschungen zu lettischen Drucken in den großen Bibliotheken des Ostseeraums sehr wichtig, um damalige Sammlungen und die nationale (= dortige) Buchproduktion rekonstruieren zu können. Es ist nicht möglich, in diesem Rahmen die verschiedenen Details zu benennen. Ein Beispiel noch: 1828 wurde in der UB Helsinki aufgrund von Zensurbestimmungen eine bedeutende lettische Druckschriftensammlung gebildet. Buchkundliche Forschungen im Ausland und ebenso der Schriftentausch spielen daher bis heute eine große Rolle und setzen gute kooperative Beziehungen voraus, die bedingt durch die wiederbelebten demokratischen Traditionen noch intensiviert werden konnten.

Ein ähnliches Thema bearbeitete Tomasz Szubiakiewicz vom Bibliographical Institute, Department of Foreign polonica: "Polonica in the Baltic Countries after Political Transformation in Poland in 1989." Sein Referat untersuchte die Länder Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, die DDR/Deutschland, Rußland und Schweden. Die Tabelle gibt die publizierten Polonica in den angegebenen Jahren wieder. Grundsätzlich werden aber ebenso wie in Lettland Lettica auch Polonica retrospektiv gesucht, da Polen zeitweilig als Staat ausgelöscht war und es keine bibliographische Verzeichnung gab. Insofern spielt auch hier die Kooperation im Ostseeraum eine besondere Rolle.

Country197919801981198919901991
Denmark282124366453
Estonia404523
Finland1886622
Latvia545352
Lithuania635750547279
GDR243210168130------
Germany388386339381521466
Russia188144166122111105
Sweden535041445857

Axel Walter von der Forschungsstelle Literatur der frühen Neuzeit, Universität Osnabrück, berichtete von seinen zahlreichen Forschungsreisen zu osteuropäischen Bibliotheken, die über reiche Schätze verfügten. So habe er in St. Petersburg viele unbekannte Drucke aus Königsberg gefunden. Die Katalogisierung hinke der Materialfülle hinterher und die technische Ausstattung sei unzureichend. Es gelte, Berührungsängste abzubauen und die Bestände bekannt zu machen. Der Referent wies auf einen noch nicht geöffneten Eisenbahnwagon (!) mit Königsberg-Material hin. Während für ihn die Verzeichnung Vorrang habe, wies Dr. Fligge gemäß seinen Ausführungen auf die Bestrebungen hin, lokales, regionales und nationales Material, das identitätsstiftenden Charakter habe, gemäß den internationalen Abmachungen den Ursprungsbibliotheken wiederzugeben. Walter deutete darauf hin, daß die gesamte Literatur zum Fürstbistum Lübeck in der NB St. Petersburg gelagert werde. An diesem Punkt wurden in der anschließenden Diskussion beide Positionen deutlich: die des Wissenschaftlers, der sich freut, etwas entdeckt zu haben, - und die einer Bibliothek, die viele stadthistorisch arbeitende Benutzer hat und auf ihre Kriegs- bzw. Verlagerungsverluste verweisen muß und zu einem bestimmten Themenkomplex ihrer Geschichte nichts oder kaum noch etwas zu bieten hat.

Natalia Kolpakova von der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, widmete sich dem Thema "'Collection Transfer' - Mutual Assistance in Collection Building." Ihre Bibliothek habe sich seit langem den Themen des Ostseeraums oder Baltikums gewidmet. Sie zeichnete die Bibliotheksentwicklung seit dem 16., 17. Jh. nach, das Anwachsen der Sammlungen bis hin zur Oktoberrevolution, in deren Folge ca. 400.000 Bände zusätzlich in die Bibliothek gelangten. Hinsichtlich der neueren Entwicklungen betonte N. Kolpakova, daß die Akademiebibliothek über keine "captured" collections verfüge, daß sie keine "classified" collection habe. Etwa 300.000 Titel seien außerhalb Rußlands publiziert worden und zur Sowjetzeit größtenteils nicht zugänglich gewesen. 1988 fielen fast 300.000 Bände einem Brand zum Opfer. Durch intensive Auslandsbeziehungen, besonders zu den Ländern des Ostseeraums, nicht zuletzt zu Deutschland generell, konnte wissenschaftliche Literatur des Auslands erworben werden. Auf diese Weise sind Sammlungsbestände aufgebaut worden, - ganz anders als aufgrund der normalen Erwerbung Stück für Stück. Die internationale Kooperation (durch Bibliotheken und Institutionen, u.a. mit den Universitäts- u. Staatsbibliotheken in Göttingen, Tübingen, München, Erfurt sowie der DFG) hat den Aufbau von thematischen Sammlungen stark gefördert. Die Tradition des Buchaustauschs hat lange Tradition. Mangelnder Postetat behindert die Lieferung von Gegengaben. Dadurch seien Tauschprogramme auf Gegenseitigkeit gefährdet, doch bestehe der feste Wille, Verpflichtungen einzuhalten. Man versucht auch, das Internet einzusetzen und Texte bis zu 100 Seiten zu scannen und so bereitzustellen. Verfügbare Akademiepublikationen werden den Tauschpartnern über das Internet aktuell angezeigt. Auf diese Weise werde Offenheit praktiziert. Daneben gehören elektronisch bereitgestellte Titelblattkopien in dieses Verfahren. Umgekehrt suche man Zugang zu den elektronischen Katalogen der Partner, um ggf. aktuelle Artikel aus dem laufenden Zeitschriftenbestand zu bestellen. Ein elektronischer Katalog der ausländischen Literatur wird angestrebt, auch zur Information der Partnerbibliotheken. Das Forum Bibliotheca Baltica sei geeignet, neue Wege zu diskutieren.

Asko Tamme, "Consortium of Estonian Libraries Network", lieferte mit seinem Beitrag "The Transfer of Information Technology", eine Grundsatzdiskussion über die gesellschaftlichen und bibliothekarischen Veränderungen. Publizieren, Vermarkten, Erwerben, Katalogisieren, Verleihen sind Prozesse, über die ein Text den Benutzer erreicht. Immer werden Texte in einen gewissen Rahmen gebracht, der erst die Zugänglichkeit für den Benutzer ermöglicht. Vom Nichtsein zum Sein, egal, ob im Internet oder in den Bücherregalen einer Bibliothek. Die neue Netzwerktechnologie und Vernetzung hat zu neuen Fragen geführt: Autorschaft, Authentizität der Information und (geistiges) Eigentum sind zu sichern. Die Bibliotheken sind in diesen rasanten Prozeß einbezogen. Die Erfindung des Buches (des Kodex) hat sich seit über 500 Jahren bewährt und Stabilität geboten. Bei den neuen Technologien ist noch vieles offen, permanent gleitend.

Mihkel Reial, National Library of Estonia, Tallin, ging in seinem Korreferat noch auf die Gesichtspunkte Datenkonversion und elektronische Dokumentenlieferung ein. Aufgrund all dieser Prozesse verändere sich auch die Bibliotheksstruktur und das Berufsbild "Bibliothekar" ganz erheblich.

Im Rahmen der Generalversammlung wurden die Vorstandsmitglieder Erland Kolding Nielsen, Kgl. Bibliothek Kopenhagen, und Andris Vilks, NB Lettlands, Riga, mit Dank aus ihren Funktionen verabschiedet. Für sie kommen Tiiu Valm, NB Estlands, Tallin, und Aleksandra Solarska, Ksiaznica Pomorska (= Pommersche Bibliothek) im. Stanislawa Staszica, Szczecin (Stettin) in den Vorstand. Als nächste Tagungsorte wurden beschlossen: Stettin (im Jahr 2000), Kopenhagen (2002) und Greifswald (2004). Für das Tagungsprogramm liegen bereits erste, allerdings noch zu vertiefende Anregungen vor. Sekretär, Dr. Schweitzer und Schatzmeister (der Verf.) wurden vom Vorstand in ihren Funktionen bestätigt.

Der noch nicht verfügbare Tagungsband der Konferenz in Riga (1996) soll trotz einiger Probleme noch erscheinen; die Kgl. Bibliothek Kopenhagen hat den Druck übernommen. Der nächste Tagungsband (1998) wird von der Kgl. Bibliothek Stockholm gedruckt werden, doch muß zuvor das Manuskript aufbereitet werden.

Der Kgl. Bibliothek, Stockholm, und speziell Tomas Lidman, gilt der Dank aller Teilnehmer für die reibungslose Organisation und engagierte Betreuung während des Symposiums. Insbesondere die Integration von Besuchen der vier wichtigsten bzw. interessantesten Bibliotheken Stockholms in den Abendstunden bzw. am Sonntag in das ansonsten volle Tagungsprogramm war geschickt arrangiert und brachte allen Gästen noch weitere vielfältige fachliche Anregungen.

1) Über die "Special Conference" (Regionalbibliographie) wird Robert Schweitzer berichten.

2) Nina Aleksandrovna Ruzova sprach im Rahmen der Spezialkonferenz.

3) "Die allgemeinen anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation sind Bestandteil dieses Rechtssystems. Wenn durch einen internationalen Vertrag der Russischen Föderation andere Regelungen als die vom Gesetz vorgesehenen getroffen sind, werden die Regelungen des internationalen Vertrages angewendet."


Stand: 09.12.98
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