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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 10, 98

Die aktive Fachinformation als Herausforderung und Chance für den Wissenschaftlichen Bibliothekar

Modell einer Benutzerschulung an der Fakultät Chemie der Universität Stuttgart

Helmut Oehling

Das Problem, oder: Wer kennt schon den Fachreferenten?

Nach der Münsteraner Umfrage zur Benutzerzufriedenheit1) ist der Fachreferent2) mit seinem Aufgabenspektrum bei 84 % aller Benutzer unbekannt. In etwa gleicher Größenordnung liegt der 'Unbekanntheitsgrad' der Informationsvermittlungsstelle. Es ist zu befürchten, daß diese Umfrageergebnisse nicht eine singuläre Situation in Münster reflektieren, sondern symptomatisch sind für die Präsenz des Wissenschaftlichen Bibliothekars und seines Dienstleistungsangebots im unmittelbaren Berufsumfeld.

Dieses Ergebnis ist auch eine Konsequenz der zunehmenden Binnenorientierung der Bibliotheken infolge einer immer stärkeren Bindung personeller Ressourcen in innerbetrieblichen Umstrukturierungsprozessen (EDV-Organisation, neue Geschäftsgänge, neue Medien usw.). Die Gefahr besteht, daß hierbei der nach außen gerichtete, eigentliche Dienstleistungsauftrag, nämlich die Bereitstellung und aktive Vermittlung wissenschaftlicher Fachinformation ins Hintertreffen gerät. Wieder mehr Außenorientierung tut not, gerade für den Wissenschaftlichen Bibliothekar als Schnittstelle zu Wissenschaft und Forschung.

Die neuen Medien (CD-ROM, elektronische Zeitschriften, Online-Datenbanken) und Kommunikationstechniken (Internet, E-Mail, Mailing-Listen, Telefax) haben nur scheinbar zu einer größeren Präsenz des Wissenschaftlichen Bibliothekars in seinem beruflichen Umfeld geführt. Tatsächlich findet durch diese (hilfreichen und unentbehrlichen) technischen Möglichkeiten aber auch eine wachsende Anonymisierung der Tätigkeiten und der Person des Wissenschaftlichen Bibliothekars statt, da dieser sich, ohne persönlich präsent sein zu müssen, hinter seinen elektronischen Angeboten 'verstecken' kann (er hat ja schließlich seine Homepage, in der alles drin steht, und damit seine Schuldigkeit getan). Von daher verwundert es nicht, daß trotz der heute möglichen ubiquitären Präsenz des Fachreferenten im Netz Umfrageergebnisse der geschilderten Art herauskommen. Virtuelle Präsenz ersetzt eben noch lange nicht die persönliche, physische Präsenz!

Doch genug der Theorie! Mit diesem Beitrag soll nicht die (notwendige) Theoriediskussion der letzten Monate3) zum Fachreferenten 2000 fortgeführt werden, es geht vielmehr darum, aus der Praxis zu berichten in der Hoffnung, daß auch andere Kollegen sich ermuntert fühlen, von ihren diesbezüglichen Aktivitäten zu erzählen, und ein reger Erfahrungsaustausch stattfinden kann.

Die Ausgangssituation in Stuttgart

In der Fakultät Chemie der Universität Stuttgart finden seit 1994 Schulungskurse zur Chemie-Information statt, an denen von Seiten der Universitätsbibliothek (UB) auch der Autor als zuständiger Fachreferent mitwirkt. Einige Erläuterungen zur wissenschaftlichen und bibliothekarischen Infrastruktur dieses Fachs an der Universität Stuttgart: Die Chemie-Fakultät (mit einigen Instituten der Fakultät Verfahrenstechnik) zählt insgesamt 16 Institute, in denen fast alle Teildisziplinen der Chemie vertreten sind, darüber hinaus auch die Chemische Technologie mit den Schwerpunkten Kunststofftechnologie, Bioverfahrenstechnik und Werkstoffwissenschaften. Das Bibliothekssystem an der Universität Stuttgart ist generell zweischichtig, wobei es im Falle der Chemie (neben Physik, Mathematik und Literaturwissenschaften) gelang, die Zeitschriftenbestände von UB und Instituten in jeweils einer Bereichsbibliothek zu integrieren. Der Fachreferent der UB ist stimmberechtigtes Mitglied der Bibliothekskommission der Fakultät Chemie. Durch umfangreiche Verpflichtungen in der internen Bibliotheksverwaltung (Leitung der Erwerbungsabteilung) ist der Autor auch als Fachreferent räumlich an die Zentralbibliothek in der Stadtmitte als Arbeitsplatz gebunden, während die Chemie-Institute sich in ca. 10 km Entfernung im Stadtteil Vaihingen befinden. Dies hat häufige, zeitraubende Dienstfahrten zur Folge.

Als Anfang der 80er Jahre die ersten Online-Datenbanken über Hosts zur Verfügung standen, wurde die Aufgabe des Recherchierens an der UB Stuttgart nicht einem hauptamtlichen Searcher übertragen, der Anfragen aus allen Fachgebieten hätte bearbeiten müssen (wer kann dies angesichts der heutigen Spezialisierung wirklich noch leisten und dabei als kompetenter Partner von den Wissenschaftlern akzeptiert werden?), sondern als originäre Aufgabe den zuständigen Fachreferenten übertragen. Dies war gleichzeitig eine Chance für intensive persönliche Kontakte zur Klientel der Wissenschaftler und Studenten mit einem idealen Feedback für die Erwerbungspolitik bis hin zu Benutzungsfragen.

Mitte 1994 startete das von der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GdCh) initiierte und vom BMBF finanzierte Projekt "Endnutzerförderung Chemiedatenbanken", das eine Einführung vor allem von Diplomanden und Doktoranden in die Nutzung elektronischer Fachinformationen zum Ziel hatte. Die Laufzeit betrug drei Jahre. Auch die Fakultät Chemie der Universität Stuttgart beteiligte sich daran. Das Projekt sah vor, daß zunächst mit externem Schulungspersonal nach dem Multiplikatorensystem Assistenten der Fakultät geschult wurden, die anschließend ihr erlerntes Wissen weitervermitteln sollten.

Als ich von diesen Plänen erfuhr, ergab sich die Chance, bei dieser Gelegenheit auch die Ressourcen der UB mit ins Spiel zu bringen und intervenierte beim Dekan. Es gelang, ihn davon zu überzeugen, daß es sinnvoll sei, das gesamte Spektrum der Fachinformation zu schulen, unabhängig vom Medium, also auch die vorhandenen Print-Werke, die Datenbanken des CD-ROM-Netzes der UB und schließlich die vom Projekt vorgesehenen Online-Datenbanken externer Hosts (STN). Diese Staffelung des Informationsangebots unter Ausnutzung aller Ressourcen der UB im Sinne einer integrierten Fachinformation war mir ein wichtiges Anliegen.

Folgende Medien und Inhalte werden seitdem in den Schulungskursen behandelt:

  • allg. Einführung in Aufbau und Retrieval von Online-Datenbanken
  • Suchsprache Messenger (STN)
  • Print-Medien
  • CD-ROM-Datenbanken der UB (Campusnetz)
  • Online-Datenbanken (STN)
  • Inhouse-Datenbank Dieses Pensum verteilt sich auf insgesamt sechs Mitarbeiter. Von Seiten der Fakultät sind dies in der Regel Akademische Räte bzw. Assistenten. Als Fachreferent der UB übernahm ich die Teile "Chemical Abstracts" (Print, CD-ROM und Online), sowie den kompletten Teil der CD-ROM-Schulungen. Die Kurse sind so strukturiert, daß nach einer theoretischen Einführung praktische Übungen mit vorformulierten Aufgabenstellungen folgen. Zur Verfügung steht ein CIP-Pool-Raum mit neun PC, an denen simultan recherchiert werden kann. Die durchschnittliche Gruppengröße liegt bei 14 Teilnehmern. Ein Kurs geht über 3-4 Wochen in jeweils einem Frühjahrs- und Herbstblock. Am Ende wird ein Teilnahmeschein ausgehändigt.

    Diese Schulungen werden auch seit Ablauf des BMBF-Projekts Mitte 1997 weiter durchgeführt. Das Interesse ist nach wie vor ungebrochen. Bis heute wurden auf diese Weise über 170 Diplomanden und Doktoranden geschult. Inzwischen fanden auch die ersten Studentenkurse statt. Für die Zukunft ist geplant, über die Studienkommission der Fakultät eine Verankerung dieser Schulungen in den Studienplänen zu erreichen. Dieses Projekt an der Universität Stuttgart erhielt großes Lob von Seiten des Projektträgers (GdCh), nach dessen Urteil "die Organisation, Durchführung und inhaltliche Gestaltung der Schulungen als beispielhaft in der Bundesrepublik gelten können."

    Fazit

    Nicht überall wird man vielleicht eine so günstige Konstellation an persönlicher Bereitschaft und organisatorischem Engagement seitens einer Fakultät antreffen, aber es ist einen Versuch wert, auch unter ungünstigeren Bedingungen aktiv auf seine Klientel zuzugehen. Zumindest wissen in der Fakultät Chemie der hiesigen Universität jetzt etwa 200 Studenten, Diplomanden, Doktoranden und Professoren, daß es an der Zentralbibliothek einen Fachreferenten für Chemie gibt und daß es diesen Berufsstand als solchen überhaupt gibt. Diese Aktivitäten ziehen inzwischen größere Kreise. Nachdem der Leistungskurs Chemie eines Sindelfinger Gymnasiums von diesen Schulungen erfuhr, wurde ich von der zuständigen Lehrerin nach der Möglichkeit einer zweitägigen Schulung gefragt. Diese wurde zum Ende dieses Schuljahres durchgeführt und stieß auf große Renonanz. (Sogar dort weiß man jetzt, daß es an Universitätsbibliotheken Fachreferenten gibt.) Diese Fachreferatstätigkeit ist, wie die Erfahrung zeigt, durchaus vereinbar auch mit der Wahrnehmung umfangreicher Verwaltungstätigkeit, wenn diese nicht bis in extenso betrieben und als internes Profilierungsfeld mißbraucht wird. Insofern stellt sich dann die immer wieder aufkommende Frage, ob Fachreferat o d e r Management gar nicht. Warum nicht beides bei vernünftiger Delegation von Routine-Verwaltungstätigkeiten und wieder stärkerer Rückbesinnung auf eine langjährige wissenschaftliche Ausbildung?

    Was wünscht sich ein Fachreferent an Unterstützung bei dieser wichtigen Tätigkeit? Da ist zunächst vielleicht wieder etwas mehr an Aufmerksamkeit und Wertschätzung seitens der Vorgesetzten für das Fachreferat und entsprechende Engagements. Dazu könnte gerade die Freistellung von der einen oder anderen Verwaltungstätigkeit und deren Delegation an geeignete Mitarbeiter des Gehobenen Dienstes gehören, um notwendige freie Kapazitäten zu schaffen. Auch die Ausbildungsstätten sind gefordert, sich auf solche Aufgaben des Wissenschaftlichen Bibliothekars einzustellen und ihm das notwendige Rüstzeug zu liefern. Hierzu gehören Lerninhalte wie die Didaktik der Benutzerschulung und der Einsatz multimedialer Unterrichtstechniken.

    Wo könnten darüberhinaus weitere wissenschaftliche Aufgabenfelder für den Wissenschaftlichen Bibliothekar liegen, die ihn in schwierigen Zeiten zusätzlich legitimieren? Ein Stichwort macht im Wissenschaftsbetrieb der letzten Jahre immer häufiger die Runde: die Evaluierung von Forschung, die Bemessung von Forschungsleistungen im Zusammenhang mit Berufungen oder der Einrichtung/Schließung von Forschungsstätten. In der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) werden in immer stärkerem Maße scientometrische Kriterien z. B. in Form von Zitierungsanalysen (Science Citation Index) herangezogen4). Auch an den Universitäten finden ähnliche Prozesse statt. Könnten hier nicht die Wissenschaftlichen Bibliothekare mit ihrem Potential als wissenschaftliche Informationsspezialisten und Datenbankrechercheure solche Aufgaben übernehmen, - und sie wären damit ganz nah bei der Universitätsleitung angesiedelt und könnten sich dort ins Bewußtsein bringen?

    Man wird "verstärkt Öffentlichkeitsarbeit betreiben" müssen - wie man das in Münster aufgrund der dort vorgefundenen Umfrageergebnisse vorhat -, um den Fachreferenten stärker ins Bewußtsein wenigstens seiner unmittelbaren Klientel zu bringen. Die beste Öffentlichkeitsarbeit dürfte darin bestehen, daß der Fachreferent seine Dienste aktiv und persönlich anbietet und der Fachreferatstätigkeit wieder mehr Aufmerksamkeit und Arbeitszeit gewidmet wird.

    Anmerkungen

    1) Harald Buch: Benutzerzufriedenheitsstudie 1996 der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, in BIBLIOTHEKSDIENST 31 (1997), S. 23-31

    2) Begriffe wie 'Bibliothekar' oder 'Fachreferent' werden in diesem Artikel als generische Berufsbezeichnungen verwendet, um eine akzeptable Lesbarkeit zu ermöglichen. Somit sind auch alle Bibliothekarinnen und Fachreferentinnen eingeschlossen.

    3) Uwe Jochum: Die Situation des höheren Dienstes, in BIBLIOTHEKSDIENST 32 (19989), S. 241-247

    Helmut Oehling: Wissenschaftlicher Bibliothekar 2000 - quo vadis?, in BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 247-254

    Peter te Boekhorst, Harald Buch, Klaus Ceynowa: Wissenschaftlicher Bibliothekar 2000 - Hic Rhodus, hic salta!, in BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 686-693

    Uwe Jochum, Helmut Oehling: Die das falsche Steckenpferd reiten, in BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 857-865

    4) Werner Marx, Hermann Schier, Michael Wanitschek: Kann man Forschungsqualität messen?, in MPG-Spiegel , Heft 3 (1998)


    Stand: 07.10.98
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