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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 98

Was ist eine Sekte oder: Über ungebetene Geschenke

DBI-Fortbildungsveranstaltung

Birgit Spazier

Im Oktober 1997 führte das DBI eine Fortbildungsveranstaltung zum Thema "Sekten in Bestandsaufbau und Benutzung in Öffentlichen Bibliotheken" durch. Die 25 teilnehmenden BibliothekarInnen kamen vorrangig aus den neuen Bundesländern und Berlin.

Immer wieder besteht in Bibliotheken die Unsicherheit, wie mit unverlangt und kostenlos zugesandten Schriften von Sekten, totalitären Bewegungen und Sondergruppen zu verfahren ist. Dazu gab es während der Veranstaltung jede Menge Anregungen, wertvolle Hinweise, eine Fülle von Hintergrundwissen und die Möglichkeit zu erfahren, wie andere Bibliotheken mit diesem Problem umgehen.

Eingeleitet wurde das Thema durch das Referat des Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Thomas Gandow. Sein Beitrag "Sekten in Deutschland - Überblick über Arbeitsweise und Literatur" legte wichtige Grundlagen für die Diskussion. Nach kurzen einführenden Worten und Begriffsklärungen gab er eine interessante Übersicht über die multireligiöse Szene. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Sektenbegriff. Unter anderem führte er dazu aus: "Sekte ist eigentlich immer bezogen auf Kirche, ist bewußter Gegensatz zur Kirche, so daß man sagen kann: Ohne Kirche keine Sekte."

"Sekte ist also ein Beziehungsbegriff ...; in unserem Kontext ist normalerweise eine christliche Sekte gemeint. Mit dem Wort 'Sekte' wird heute in Konfessionskunde und Religionswissenschaft manchmal auch ... eine zu einer bestimmten Religion gehörende Nebengruppe bezeichnet. So ist dann die Rede z. B. auch von buddhistischen und islamischen Sekten. Diese Analogie ist allerdings nicht von vornherein sinnvoll und stimmig ..."

Bei nichtchristlichen totalitären Gruppen des 20. Jahrhunderts sollte man statt von "Sekten" besser von "totalitären Gruppen und Bewegungen" sprechen.

Interessant und wissenswert gestaltete Herr Gandow die Darstellungen zu einzelnen Sekten, totalitären Gruppen und Bewegungen. Daran gekoppelt war jeweils eine umfangreiche Präsentation von Büchern, verbunden mit viel Hintergrundwissen zu Inhalt und Autoren. So hat der eine oder andere sicher feststellen müssen, daß sich neben der Fülle an informativen Darstellungen auch mancher, von Gandow als "unseriös" bezeichneter Titel in den Bestand eingeschlichen hat.

Hier sind die Bibliothekare auf das Wissen der Experten angewiesen. Buchhinweise sind unter anderem regelmäßig in den Zeitschriften "Berliner Dialog" und "Skeptiker" zu finden (beides spezielle Fachzeitschriften zum Thema Sekten und religiöse Bewegungen) sowie unter den Internet-Adressen:
http://www.thur.de/religio/religio.html
oder http://www.ekibb.com/seels/sekten/index.htm

In der anschließenden Diskussion vertrat Herr Gandow die Meinung, daß es Bibliotheken nicht grundsätzlich ablehnen sollten, Primärliteratur von Sekten, totalitären Gruppen und Bewegungen in den Bestand einzustellen. Dabei verwies er aber auf die tatsächliche Primärliteratur, die vom Bibliothekar sicher nicht in jedem Fall von einer reinen "Propagandaschrift" zu unterscheiden ist. Die Bücher sollten dann aber auch unbedingt als dementsprechende Geschenke gekennzeichnet sein.

Leider fiel die Diskussion über die teilweise sehr konkreten Fragen aus Zeitmangel recht knapp aus und ließ noch manches Problem ungelöst.

Gelungen war auch der Beitrag von Regina Elias vom DBI über das Thema "Rechtliche Aspekte bei der Erwerbung und Benutzung von 'Sektenliteratur'. Umgang mit Buchgeschenken". Vorrangig wurden Probleme beim Umgang mit Büchern der Scientology Church erläutert, aber auch allgemeine Hinweise zum Umgang mit Geschenken gegeben.

Grundsätzlich liegt es im Ermessen jeder einzelnen Bibliothek, wie sie mit Geschenken verfährt, ob sie ein Geschenk annimmt oder die Annahme des Geschenkes verweigert. Wie Frau Elias in ihrem Vortrag feststellte, liegt "laut Auskunft der Bundesprüfstelle für jugendgefährdendes Schrifttum ... bis jetzt noch kein Antrag auf Indizierung einer Schrift der Scientology-Church vor". Wichtig ist und bleibt die Feststellung, daß die Bibliothek weder zur Annahme noch zur Rücksendung der Geschenke verpflichtet ist.

Großes Interesse fand auch der Beitrag von Veronika Geng aus der Stadtbücherei Stuttgart, die den Sonderbereich "Sekten/Kulte/Neureligiöse Bewegungen" als Teil des Stuttgarter Projektes "Sophie" vorstellte. Der Vortrag enthielt viele praktische und nachahmenswerte Anregungen für die eigene Arbeit und zeigte eine interessante Möglichkeit, in diesem Bereich als Bibliothek wirksam zu werden (Kurzfassung im Anschluß an diesen Bericht). Eine gute Arbeitshilfe ist das allen Teilnehmern zur Verfügung gestellte Literaturauswahlverzeichnis.

Die abschließenden Diskussionsbeiträge aus den Öffentlichen Bibliotheken informierten die Teilnehmer über die Verfahrensweise mit Buchgeschenken von Sekten, totalitären Gruppen und Sondergemeinschaften in einigen Bibliotheken. Große Übereinstimmung gab es zwischen der Stadtbücherei Stuttgart und den Leipziger Städtischen Bibliotheken: Beide Bibliotheken entschieden sich gegen das Einstellen von Primärliteratur von sektiererischen Gruppen unter Berufung auf den Informationsauftrag einer Öffentlichen Bibliothek. In beiden Städten wird der Sammelauftrag durch die großen wissenschaftlichen Bibliotheken am Ort erfüllt.

Viele weitere interessante Erfahrungen konnten die Bibliothekare an diesem Tag austauschen sowie eine Fülle an Materialien mit nach Hause nehmen.

Fazit: eine gelungene Veranstaltung zu einem sehr interessanten Thema, Wiederholung wünschenswert.

Anmerkung:
Interessenten können den Beitrag von Regina Elias "Rechtliche Aspekte bei der Erwerbung und Benutzung von 'Sektenliteratur', Umgang mit Buchgeschenken" sowie das Material von Thomas Gandow "Multireligiöse Szene" erhalten bei
Sybille Biedermann, Deutsches Bibliotheksinstitut, Luisenstr. 57, 10117 Berlin. Tel.: (0 30) 2 31 19-4 33, Fax: (0 30) 2 31 19-410; E-Mail: biedermann@dbi-berlin.de


Stand: 11.02.98
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