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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 1, 98

Universaldienste der Telekommunikation und der Informationsdienste

Eine Kritik der Politik der Europäischen Union

Wolfgang G. Stock

1. Universaldienste in der europäischen Telekommunikationspolitik

Mit dem Abschluß der Liberalisierung der Telekommunikation zum 1. Januar 1998 bewegen wir uns im Gesamtbereich der Telekommunikation, egal, ob Sprachtelefon, Datenübertragung oder Video-on-Demand, auf einem von Privatunternehmen bedienten Markt. Wo früher ein "natürliches Monopol" im öffentlichen Auftrag und mit öffentlichen Geldern flächendeckend für Basisdienste, vor allem das Sprachtelefon, sorgte, treten nunmehr in Wettbewerb stehende Unternehmen an, für die Netze und Dienste der Telekommunikation zu sorgen. Die Privatisierung und der Wettbewerb bringen sicherlich Vorteile mit sich, denken wir an Produktivitätssteigerungen oder auch an niedrigere Preise, sie haben aber auch bedenkenswerte Lücken gegenüber der alten Konzeption. Ein Beispiel ist die flächendeckende Versorgung aller Bürger und Unternehmen mit der Telekommunikationsinfrastruktur, früher selbstverständlich im staatlichen Auftrag des natürlichen Monopols enthalten. Man kann aber kein Privatunternehmen ohne Gegenleistung zwingen, eine solche Versorgung sicherzustellen, gibt es doch Regionen, deren Versorgung relativ zu den zu erwartenden Einnahmen zu teuer ist, und gibt es Nutzer oder sogar Nutzergruppen, deren Versorgung keinen Profit oder gar finanziellen Verlust bedeutet.

Hier gewinnen wir unseren Begriff: Dieses Problem wird unter dem Etikett Universaldienst besprochen. "Der universelle Dienst gewährleistet allen Benutzern den Zugang zu einem festlegten Minimaldienst mit einer spezifizierten Qualität zu einem erschwinglichen Preis, basierend auf den Grundsätzen der Allgemeinheit, Gleichheit und Kontinuität"1), definiert die Europäische Kommission. Alle telekommunikationspolitischen Programme der Industriestaaten enthalten ein solches Bekenntnis zum Universaldienst. In Deutschland beispielsweise ist der Universaldienst der Telekommunikationsinfrastruktur im "Telekommunikationsgesetz" von 1996 geregelt.

Der Universaldienst wird in der europäischen Telekommunikationspolitik als ausgesprochen wichtig eingestuft, gilt er doch als einer der "Grundpfeiler der globalen Informationsgesellschaft"2) . "Universaldienst" im Sinne der Europäischen Kommission ist ein Dienst für die Öffentlichkeit, der folgende Ziele verfolgt:

Das Konzept ist nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern ist offen für Variationen. Die Europäische Kommission denkt derzeit bei Weiterentwicklungen des Universaldienstes vor allem an den technischen Fortschritt. Demnach empfiehlt sie nicht nur das Sprachtelefon, sondern auch darüberhinaus "zusätzliche Elemente" wie Anrufweiterschaltung oder Rufnummeranzeigen, aber auch Angebote von ISDN sowie von paketvermittelten Datendiensten. Für alle diese Dienste wird ein einheitliches Abrechnungsverfahren ("Kiosk-Abrechnung") vorgeschlagen, Teile der Dienste sind "gebührenfreie Dienste über eine 'grüne Nummer'"6).

Gänzlich verfehlt und der Forderung nach einem Universaldienst geradezu Hohn sprechend, wäre die Ausrichtung der europäischen Politik an den Bedürfnissen der Hauptkunden der Telekommunikation, d. h. denjenigen (wenigen hundert) global agierenden transnationalen Unternehmen. Der erste Teil des Grünbuches über die Liberalisierung der Telekommunikationsinfrastruktur und der Kabelfernsehnetze fordert eine Telekommunikationsinfrastruktur "zu Preisen, die notwendig sind, um Forschung und Innovation seitens der führenden Kunden zu begünstigen"7) . Es ist zu hoffen, daß eine solche Politik als eine mißglückte Variante angesehen und nicht weiter verfolgt wird.

2. Informationsdienste als Universaldienste in der Sicht der Europäischen Kommission

Die über die minimale Versorgung mit Telekommunikationsinfrastruktur hinausgehenden Universaldienste werden von der Europäischen Kommission aus drei Gründen explizit ausgeschlossen.

  1. Benutzer zahlen eventuell für Dienste, die sie weder brauchen noch nutzen.
  2. Gewisse Unternehmen werden vom Markteintritt abgehalten. Es entsteht kein (nutzenbringender) Wettbewerb.
  3. Benutzer könnten die Dienste vielleicht im Rahmen normaler Geschäftsbeziehungen zahlen8) .
Mit dem Universaldienst der Telekommunikationsinfrastruktur sei es bereits jetzt möglich, "auf dem Internet oder in anderen Online-Diensten zu 'surfen'"9). Nun ist das Internet (in vielen Bereichen) derzeit kostenlos und das Problem eines Universaldienstes tritt überhaupt nicht auf. Bei Datenbanken, die von kommerziellen Hosts angeboten werden, ist dies völlig anders. Der Preis für eine Anschaltminute liegt bei rund vier bis fünf Mark; die Preise für einzelne Datensätze schwanken beträchtlich zwischen wenigen Mark (für einen bibliographischen Nachweis) und einigen zehn Mark. Diese Preise verhindern eine Nutzung durch breite Bevölkerungsschichten und wirken eindeutig prohibitiv für weit über 99% der Bevölkerung. Einer Spaltung in eine Informationselite und in Informationsarme wird hiermit Vorschub geleistet. Ein Online-Dienst ist demnach für die Kommission kein Universaldienst, wohl aber erstaunlicherweise (in Zukunft) der Zugang zu interaktiven Diensten wie z. B. Telebanking10) .

In dieser engen Fassung des Universaldienstes sehe ich große Probleme. Natürlich können die Nutzer von zuhause oder vom Arbeitsplatz aus Online-Dienste, rein technisch gesehen, bereits heute anwählen. Es gibt allerdings zwei Probleme. Problemfall A liegt vor, wenn Datenbankproduzenten ihre (vorhandenen) Datenbestände zu Marktpreisen auflegen. Diese Preise sind von der Mehrheit einer Bevölkerung nicht bezahlbar, die damit de facto von der Nutzung ausgeschlossen wird. Problemfall B liegt vor, wenn potentielle Datenbankproduzenten (etwa Bibliotheken) ihre Daten gar nicht (oder in suboptimaler Qualität) online anbieten, weil ihnen das Geld fehlt, eigentlich sinnvolle Online-Dienste überhaupt richtig aufzubauen. Beide Probleme würden beim Universaldienst verschwinden. Im Fall A würden die Produzenten aus dem Universaldienstfonds subventioniert, die Preise würden entsprechend niedrig. Im Fall B würde die Produktion der Online-Dienste mit den Geldern aus dem Fonds ermöglicht.

Alle drei von der Europäischen Kommission genannten Gegengründe treffen auf die von uns ins Auge gefaßten inhaltlichen Universaldienste nicht zu. Ad 1: Die Informationsgesellschaft ist eine Wissensgesellschaft. Per definitionem braucht jedes Gesellschaftsmitglied einen gewissen Grundbestand an Informationen. Ad 2: Bei bibliothekarischen oder wissenschaftlich-technisch-medizinischen dokumentarischen Diensten sind Konkurrenten kaum in Sicht. Außerdem werden diejenigen Institutionen, die Online-Dienste herstellen, ohnehin bereits mit öffentlichen Geldern subventioniert (nur leider zu wenig, um aus eigener Kraft flächendeckend ihre elektronischen Dienste anbieten zu können). Ad 3: Im Rahmen "normaler Geschäftsbeziehungen" sind die Dienste - wenn überhaupt vorhanden (Problemfall B) - prohibitiv überteuert (Problemfall A).

Letztlich dürften aber für die Kommission gar keine inhaltlichen Gründe gegen die Ausweitung des Universaldienst-Konzeptes sprechen, es geht offenbar vorrangig ums Geld. In einem Vorschlag zur Änderung des offenen Netzzugangs stellt die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten Modifikationen beim Umfang des Universaldienstes frei, beharrt aber für europäische Belange auf der alten Definition, da die Änderungen "die Kosten des Universaldienstes zu stark verteuern würden"11).

3. Universaldienste im Blick anderer europäischer Instanzen

Die Europäische Kommission sollte ihre recht eingeschränkte Definition des Universaldienstes überdenken, auch in Hinblick auf die Einschätzungen anderer europäischer Instanzen.

3.1 Europäischer Rat

Der Europäische Rat "erkennt an, daß das Konzept des Universaldienstes weiterentwickelt werden muß, um mit dem technologischen Fortschritt, den Marktentwicklungen und dem sich ändernden Bedarf der Benutzer Schritt zu halten"12). Der Europäische Rat verfolgt damit eine abwartende Haltung, die jedoch für Änderungen jederzeit offen ist.

3.2 Europäisches Parlament

Dem Europäischen Parlament ist die Konzeption eines Universaldienstes, ausschließlich bezogen auf das Sprachtelefon, viel zu eng, weil nicht zeitgemäß. Im Rahmen eines "diversifizierten multimedialen Dienstleistungsangebots" müsse der universelle Dienst über die aktuelle Vorstellung der Europäischen Kommission hinausgehen13). Das Europäische Parlament weitet den Anwendungsbereich des Universaldienstes nicht nur innerhalb der Telekommunikation aus, sondern bezieht auch weitere Bereiche ein. Es "fordert die weitere Entwicklung und Anwendung dieser Grundsätze sowie die Ausweitung der elementaren Grundsätze für die Bereitstellung des universellen Dienstes auf andere Sektoren wie Energie- und Wasserversorgung, Post, öffentliche Transportmittel sowie Infrastrukturen und Dienstleistungen im Bereich des Umweltschutzes"14). Bei dieser Konzeption des Universaldienstes liegt der Einbezug von Datenbanken quasi "in der Luft", obgleich er nicht explizit thematisiert wird.

Im Laufe der Diskussion des Berichtes von Eluned Morgan sieht das Europäische Parlament neue Aufgaben auf Europas Bibliotheken zukommen. Gefordert wird ein Grünbuch zur Rolle der Bibliotheken in der Informationsgesellschaft. Der Morgan-Bericht "vertritt die Auffassung, daß Bibliotheken eine entscheidende Funktion haben, wenn es darum geht, den Zugang der Öffentlichkeit auf kommunaler Ebene zu elektronisch verfügbaren Informationen ... zu erleichtern"15). Hier geht es um einen Universaldienst der Informationsvermittlung: Bürger, die zuhause keine Chance haben, Online-Datenbanken abzufragen, können dieses (preiswert oder umsonst) in der nächstgelegenen Bibliothek tun. Der Morgan-Bericht geht weiter und "fordert die Mitgliedstaaten auf, ihre nationalen Kultursammlungen in digitale Form zu bringen, um zum Aufbau eines europäischen Jahrtausendarchivs ... beizutragen"16). Dies ist ein Universaldienst im Rahmen der Informationsproduktion, der Erstellung hochwertiger Online-Datenbanken durch Archive, Bibliotheken, Dokumentationsstellen und anderen Einrichtungen zur (preiswerten oder kostenlosen) Verteilung in Telekommunikationsnetzen. Eine so weitgehende Sicht des Universaldienstes deckt sich im übrigen mit der Informationspolitik der Vereinigten Staaten.

3.3 Wirtschafts- und Sozialausschuß

Für den Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften ist der Universaldienst eine der tragenden Säulen der Informationsgesellschaft. "Der Ausschuß weist nachdrücklich auf diesen grundlegenden Aspekt hin und fordert, unbedingt den Begriff des Universaldienstes genau zu bestimmen und Mechanismen zu seiner Sicherung und zu seinem Ausbau im gesamten Unionsgebiet zu schaffen"17) . Dem Ausschuß ist die Konzeption der Europäischen Kommission in technischer Hinsicht zu eng. Sie ist der Ansicht, "daß eine Beschränkung auf den Sprachtelefondienst und eine schmalbandige Infrastruktur der zukünftigen Entwicklung nicht gerecht wird"18). Nötig sei eine Weiterentwicklung des Universaldienstes wegen Multimedia-Anwendungen zu einer breitbandigen Infrastruktur. Letztlich ist der Bürger mit seinen Wünschen und Vorstellungen der Fixpunkt der Änderungen. "Der Ausschuß ist der Auffassung, daß der Universaldienst in erster Linie die Beteiligung der Bürger am Gemeinschaftsleben begünstigen und somit den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt stärken muß. Aus diesem Grunde erwarten alle Bürger zu Recht einen umfassenden Universaldienst, der ihren Bedürfnissen entsprechend weiterentwickelt wird ..."19). Hier wird "dem Bürger" allerdings etwas in den Mund gelegt, was dieser womöglich gar nicht so recht weiß. Oder ist es in Europa Allgemeinwissen, was "Universaldienst" bedeutet? Festzuhalten bleibt die Auffassung des Wirtschafts- und Sozialausschusses, den Universaldienst sowohl in technischer Hinsicht als auch unter Berücksichtigung des Bedarfs der Nutzer weiterzuentwickeln.

3.4 Forum Informationsgesellschaft

Das Forum Informationsgesellschaft, eingesetzt von der Europäischen Kommission im Jahr 1995, legt mit der Arbeit "Netzwerke für Menschen und ihre Gemeinschaften" seinen ersten Arbeitsbericht im Juni 1996 vor. Fixpunkt der Informationsgesellschaft ist der Mensch. "Die Menschen müssen einbezogen, nicht ausgeschlossen werden. Es könnte dazu kommen, daß eine große Anzahl von Menschen am Rand der Informationsgesellschaft lebt, unfähig, ihren Platz zu finden, und aus vielen Gründen vom Zugang zu Informationen ausgesperrt - weil die Kosten für sie unerschwinglich sind, weil sie nicht mit den technischen Einrichtungen umgehen können, weil ihnen der Nutzen der angebotenen Geräte und Dienste nicht einleuchtet oder weil sie der neuen Technik ablehnend gegenüberstehen"20) . Das Kostenproblem ist lösbar durch Universaldienste. Das Forum sieht drei Wege, die sicherstellen, daß sich jeder in "Wissens- und Informationsnetze" einwählen kann: "(i) Eine Verpflichtung der Staaten, interaktive Basisdienste (öffentliches Informations-, Bildungs- und Gesundheitswesen) allen Bürgern unabhängig von der geographischen Lage und zu erschwinglichen Preisen verfügbar zu machen;... (ii) Die Einrichtung von lokalen Zugriffspunkten in öffentlichen Bibliotheken, Schulen und anderen öffentlichen Treffpunkten für all diejenigen, die über keinen solchen Zugang in ihrer Wohnung verfügen. ... (iii) Die Erweiterung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen öffentlicher Rundfunkanstalten um die Verpflichtung zur Bereitstellung elektronischer Informationsdienste und zur Sicherstellung der Informationsversorgung durch eine 'Ausstrahlungspflicht'"21) .

Der flächendeckende Zugang zu öffentlichen Online-Diensten und öffentlichen Informationen muß für jeden Bürger Europas selbstverständlich sein. "Das Forum hat keinen Zweifel daran, daß nicht nur ein flächendeckender Zugang zu öffentlichen Online-Diensten, sondern auch zu öffentlichen Online-Informationen gewährleistet sein muß. Die Behörden müssen solche Dienste allgemein verfügbar machen und sicherstellen, daß die Menschen die technischen Möglichkeiten zu Online-Abfragen haben"22). Im gesetzgeberischen Bereich "sollte vorrangig ein Rechtsrahmen entwickelt werden, der den Bürgern ein umfassendes Recht zum Zugang zu öffentlichen Informationen gewährt. Außerdem muß das Konzept der Universaldienste auch für den Inhalt allgemein zugänglicher Informationen ausgedehnt werden"23).

Was für das Forum Informationsgesellschaft konkret "öffentlich" heißt, bleibt m.E. offen. Sicher fallen unter diesen Begriff alle diejenigen Informationen, die in öffentlichen Einrichtungen geschaffen werden, also z. B. Gesetze und Erlasse oder Kataloge von Bibliotheken. Ob auch alle mit öffentlichen Mitteln geförderten Informationen, z. B. wissenschaftlich-technisch-medizinische Datenbanken, dazuzählen, ist mir nicht klar.

Ist die Versorgung aller Gesellschaftsmitglieder mit Informationen jeder Art sichergestellt, ist nach Ansicht des Forums die Basis für eine "blühende" neue Gesellschaft geschaffen. Während die Europäische Kommission das Aufkommen der Informationsgesellschaft mit der ersten industriellen Revolution vergleicht und damit eher technisch denkt24), bettet das Forum den bevorstehenden Übergang in den größeren Kontext von Wissen und Kultur schlechthin und spricht von einer neuen Renaissance. "Die Informationsgesellschaft könnte die Geburtsstätte einer Zweiten Renaissance werden, einer neuen Blütezeit von Kreativität, wissenschaftlichen Entdeckungen, kultureller Entwicklung und Weiterentwicklung des Gemeinwesens"25). Bekanntlich beendete die erste Renaissance das "dunkle" Mittelalter und führte die Gesellschaft unter Anschluß an die antike Klassik in die Neuzeit. Nunmehr beenden wir offenbar die dunkel gewordene Neuzeit mit einer Epoche der Informationskultur. "Wenn wir richtig vorgehen, wird die Informationsgesellschaft den Bürgern einen einfacheren und umfassenderen Zugang zu ihrer eigenen Kultur bieten, ob in Form von Kunstwerken in Museen und Gallerien oder ob in Filmen, Romanen, Theaterstücken oder Poesie. Es werden sich neue Kanäle zur Verbreitung von Minderheitskulturen öffnen, über die Einzelpersonen und Unternehmen zu geringen Kosten Informationen zusammenstellen und vertreiben können. Geographische Gemeinschaften werden eine wirksamere interne Kommunikation betreiben können, als sie seit den Bürgerversammlungen im alten Griechenland je möglich war ..."26) .

Das Forum Informationsgesellschaft warnt davor, den Aufbau der Informationsgesellschaft allein den Kräften des Marktes zu überlassen. Das Konzept inhaltlicher Universaldienste wäre ein Stück gesellschaftspolitischer Regulierung des Marktes in der Informationsgesellschaft.

3.5 Noch einmal: Europäische Kommission

Die Kommission scheint mit ihrer Ablehnung inhaltlicher Universaldienste mit eigenen programmatischen Äußerungen in Konflikt zu kommen. So lesen wir zum Beispiel im Grünbuch "Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft: Im Vordergrund der Mensch": Es ist sicherzustellen, "daß die Informationsgesellschaft zu einem Werkzeug wird, mit dem eine Gesellschaft geschaffen werden soll, in der niemand ausgegrenzt wird. In der Informationsgesellschaft sollte es um Menschen gehen, sie sollte für die Menschen und von den Menschen genutzt werden, um die der Information innewohnenden Kräfte freizusetzen, und nicht, um ein Ungleichgewicht zwischen den Informationsreichen und den Informationsarmen zu schaffen"27). Immerhin wird im gleichen Grünbuch bereits ein Universaldienst im Rahmen der "gesamten Skala der Dienste der Informationsgesellschaft"28) diskutiert.

Auch der Entwurf des Fünften Rahmenprogramms deutet in diese Richtung. "Die Technologien der Informationsgesellschaft müssen auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Nutzer und Verbraucher sowie an der Notwendigkeit ausgerichtet werden, ihnen einen möglichst kostengünstigen Zugang zu hochwertigen Diensten von allgemeinem Interesse zu ermöglichen"29).

Die Beschränkung des Universaldienstes allein aus Kostengründen (wie in KOM(97) 287) auf den Minimaldienst der (schmalbandigen) Telekommunikationsinfrastruktur ist schon recht peinlich, insbesondere wenn man gleichzeitig - zu Recht - die große Bedeutung der Informationsinhalte und der Breitbandnetze für die Informationsgesellschaft heraushebt. Da liegt fast die ketzerische Frage nahe: Können wir uns in Europa die Informationsgesellschaft überhaupt leisten?

Es deutet sich folgende Argumentationslinie an. Die restriktive Haltung der Kommission bzgl. der Universaldienste (wie z. B. in KOM(96) 73) bezieht sich ausschließlich auf Universaldienste der Telekommunikationsinfrastruktur. Hier haben Informationsinhalte in der Tat nichts zu suchen. Die inhaltlichen Universaldienste, wie sie vom Forum Informationsgesellschaft, im Morgan-Bericht oder in KOM(96) 389 angedacht werden, sind nunmehr in Angriff zu nehmen.

4. Gefordert: Inhaltliche Universaldienste

In der neuen Umgebung der Informationsgesellschaft hat die alte Definition von "Universaldienst" ihren Sinn verloren. In einer vor-informationellen Gesellschaft denkt man beim Universaldienst ans Telefonieren, an eine bequeme und möglichst billige Art der Übermittlung gesprochener Sprache. Ganz anders in der Informationsgesellschaft. Hier kommen alle Aspekte informationeller Grundversorgung als Kandidaten für Universaldienste infrage 30).

Die Informationsgesellschaft ist eine Wissensgesellschaft; d. h. das Wissen wird zu einer tragenden Ressource dieser neuen Gesellschaftsform. Prägnant formuliert dies William J. Martin, "In information society ... universal telephone service will be replaced by universal information services"31). Auch für Charles Goldfinger ist klar, "that universal service cannot be limited to vocal telephony alone. It must include access to information in all its various forms, notably that of databases"32) Betreiber von Universaldiensten sind demnach nicht nur die Telekommunikationsanbieter, sondern auch die Produzenten von Informationsinhalten, die Informationswirtschaft (Datenbankproduzenten, Datenbankanbieter usw.), Bibliotheken, die öffentliche Verwaltung, Verlage sowie die Film- und Fernsehunternehmen.

Klären müssen wir, welche Informationsdienste zur informationellen Grundversorgung gehören (und damit zu Universaldiensten werden) und welche nicht. Einen interessanten Abgrenzungsversuch schlägt Herbert Kubicek vor. Ausgang ist für ihn die Idee einer "dualen Informationsordnung", wie wir sie vom Rundfunk her kennen33). Es geht um das Nebeneinander von öffentlich bereitgestellten und kommerziell angebotenen Informationen. Im Rundfunk, Hörfunk wie Fernsehen, haben wir auf der einen Seite die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als Träger (auch) der informationellen Grundversorgung und auf der anderen Seite die privaten, kommerziellen Rundfunkanbieter. Die in diesem Bereich entwickelte Bezeichnung "duale Rundfunkordnung" kann man nach Kubiceks Meinung "übernehmen für die anzustrebende Gestaltung der elektronischen Informations- und Telekommunikationsdienstleistungen"34) .

Informationsdienste, die zur Deckung der informationellen Grundversorgung dienen, sind demnach Universaldienste; alle anderen Informationsdienste werden kommerziell vermarktet. (Hier sei am Rande auf eine Gefahr hingewiesen, die im Rundfunk bereits eingetreten ist: Die Vielzahl der Informationen auf diversen Kanälen führte nicht zu einem besseren Wissensstand bei den Rezipienten, sondern eher zu einer fortschreitenden De-Informierung. Bei konsumentennahen kommerziellen Online-Diensten oder auch im Intenet könnten durchaus ähnliche Effekte entstehen.)

Zur informationellen Grundversorgung rechnen wir gemäß den Definitionen von "Universaldienst" ausschließlich solche Dienste,

  1. die in Telekommunikationsnetzen verteilt werden,
  2. für die in der Informationsgesellschaft eine allgemeine Nachfrage bestehen wird,
  3. die wesentlich für Wissenschaft und Bildung, für die Gesundheit sowie für die allgemeine und individuelle Sicherheit und Daseinsvorsorge sind.
An Diensten der Informationswirtschaft fallen unter die Universaldienste u.a. die (massiv qualitativ verbesserten) Kataloge Öffentlicher Bibliotheken, die Kataloge der Wissenschaftlichen Bibliotheken bzw. ein jeweils aktueller Verbundkatalog, eine umfassende und vollständige Zeitschriftendatenbank, Datenbanken mit juristischen Informationen sowie Datenbanken mit wissenschaftlich-technisch-medizinischen Informationen.

Dienste informationeller Grundversorgung öffentlicher Verwaltungen sind alle Arten von Bürgerinformationen, angefangen bei Öffnungszeiten ihrer Einrichtungen, über Sitzungsinformationen politischer Gremien, Ratgeber (etwa bei Steuererklärungen) bis hin zu den Texten von Erlassen und Gesetzen.

Verlage können in der Grundversorgung tätig werden, indem sie von ihren Produkten (z. B. wissenschaftlichen Zeitschriften) Inhaltsverzeichnisse sowie Zusammenfassungen der Beiträge elektronisch verteilen. (Dies haben einige Verlage bereits erkannt und im Internet entsprechende Dienste eingerichtet.) Analoge Aktivitäten könnte die Film- und Fernsehbranche initiieren.

5. Fazit

1. Die Europäische Kommission definiert "Universaldienst" ausschließlich technisch, d. h. bezogen auf schmalbandige Telekommunikationsinfrastruktur. Letztlich reduziert sie den Universaldienst auf die flächendeckende und kostengünstige Versorgung der Unternehmen und Haushalte mit Telefonen.

2. Andere europäische Instanzen, so das Europäische Parlament oder das Forum Informationsgesellschaft, diskutieren "Universaldienst" breiter und kommen den inhaltlichen Universaldiensten nahe.

3. In der Informationsgesellschaft steigt die Bedeutung von Informationen rapide an. Ein Universaldienst der Informationsgesellschaft wird demnach die Informationsinhalte in den Mittelpunkt stellen. Es kommt darauf an, zu günstigen Preisen Informationsinhalte recherchieren zu können. Wissenschaftlich-technisch-medizinische Nachweisdatenbanken, elektronische Bibliothekskataloge, inhaltlich aufbereitete Kataloge von Film- und Fernsehproduktionen sowie alle Arten von Informationen der öffentlichen Verwaltung wären nach dieser Auffassung Universaldienste.

4. Es gibt zwei Spielarten inhaltlicher Universaldienste: a) Produktion von inhaltlichen Universaldiensten und b) Informationsvermittlung als Universaldienst.

4a. Die Produktion von inhaltlichen Universaldiensten meint die Sicherstellung der finanziellen Basis aller Aktivitäten des Aufbaus und Betriebs elektronischer Datenbanken der informationellen Grundversorgung.

4b. Informationsvermittlung als Universaldienst bedeutet den kostenlosen oder preisgünstigen Zugang zu elektronischen Diensten in Bibliotheken (oder anderen öffentlichen Einrichtungen) für diejenigen, die weder am Arbeitsplatz noch zuhause entsprechende Möglichkeiten haben.

1) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Grünbuch über die Liberalisierung der Telekommunikationsinfrastruktur und der Kabelfernsehnetze (Teil 2): Ein gemeinsames Konzept zur Bereitstellung einer Infrastruktur für Telekommunikation in der Europäischen Union. KOM(94) 682 endg. - Brüssel, 1995, 16.

2) vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Der Universaldienst in der Telekommunikation im Hinblick auf ein vollständig liberalisiertes Umfeld. Ein Grundpfeiler der Informationsgesellschaft. KOM(96) 73 endg. - Brüssel, 13. März 1996.

3) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Entwicklung eines universellen Dienstes in einem wettbewerbsorientierten Umfeld. KOM(93) 543 endg. - Brüssel, 15. November 1993, 20.

4) ebd., 21.

5) vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Bewertungskriterien für nationale Systeme der Kostenrechnung und Finanzierung im Universaldienst der Telekommunikation und Leitlinien für die Mitgliedstaaten für die Anwendung dieser Systeme. KOM(96) 608 endg. - Brüssel, 27. November 1996.

6) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Erklärung der Kommission bezüglich der Entschließung des Rates über den universellen Dienst im Bereich der Telekommunikation. - In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 48 vom 16. Februar 1994, 8-9, hier: 9.

7) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament. Grünbuch über die Liberalisierung der Telekommunikationsinfrastruktur und der Kabelfernsehnetze (Teil 1). KOM(94) 440 endg. - Brüssel, 25. Oktober 1994, 39; meine Hervorhebung.

8) vgl. KOM(96) 73, a.a.O. (Anm. 2), 9.

9) ebd., 17.

10) vgl. ebd., 17.

11) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einführung des offenen Netzzugangs (ONP) beim Sprachtelefondienst und den Universaldienst im Telekommunikationsbereich in einem wettbewerbsorientierten Umfeld. KOM(97) 287 endg. - Brüssel, 4. Juni 1997, 5.

12) Rat der Europäischen Union: Entschließung des Rates vom 7. Februar 1994 über die Grundsätze für den Universaldienst im Bereich der Telekommunikation. - In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 48 vom 16. Februar 1994, 1-2, hier: 2.

13) Europäisches Parlament: Entschließung zur Empfehlung an den Europäischen Rat "Europa und die globale Informationsgesellschaft" und zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, an das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen "Europas Weg in die Informationsgesellschaft: Ein Aktionsplan" vom 30. November 1994, Pkt. 11.

14) Europäisches Parlament: Entschließung zu der Mitteilung der Kommission und dem Vorschlag für eine Entschließung des Rates über Grundsätze für den universellen Dienst im Bereich der Telekommunikation. - In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 205 vom 25. Juli 1994, 551-552, hier: 552.

15) Morgan, E. (Berichterstatterin): Bericht über Informationsgesellschaft, Kultur und Bildung / Europäisches Parlament; Ausschuß für Kultur, Jugend, Bildung und Medien. A4-0325/96 vom 16. Oktober 1996. - URL: http://www.europarl.eu/int/gd1/a4-96/a4-325.htm, Pkt. 28.

16) ebd., Pkt. 29.

17) Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften: Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission [...]: Europas Weg in die Informationsgesellschaft. Ein Aktionsplan. - In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 110 vom 2. Mai 1995, 37-47, hier: 43.

18) Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften: Stellungnahme zum Thema "Grünbuch über die Liberalisierung der Telekommunikationsinfrastruktur und der Kabelfernsehnetze - Teil II". - In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 301 vom 13. November 1995, 24-28, hier: 26.

19) Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften: Stellungnahme zum "Universaldienst in der Telekommunikation in Hinblick auf ein vollständig liberalisiertes Umfeld". CES 1075/96. - Brüssel, 25.-26. September 1996, 5.

20) Forum Informationsgesellschaft: Netzwerke für Menschen und ihre Gemeinschaften. Die Umsetzung der Informationsgesellschaft in der Europäischen Union. Erster Jahresbericht des Forums Informationsgesellschaft an die Europäische Kommission. - Brüssel; Luxemburg: ECSC-EC-EAEC, 1996, 8.

21) ebd., 13 f.

22) ebd., 14.

23) ebd., 46.

24) vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert. Weißbuch. - Luxemburg, 1993. - (Bulletin der Europäischen Gemeinschaften; Beilage 6/93).

25) Forum Informationsgesellschaft, a.a.O. (Anm. 20), 19.

26) ebd., 19 f.

27) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Grünbuch "Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft: Im Vordergrund der Mensch". KOM(96) 389 endg. - Brüssel, 24. Juli 1996, 3.

28) ebd., 30.

29) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Fünftes Rahmenprogramm: Wissenschaftliche und technologische Ziele. KOM(97) 47 endg. - Brüssel, 12. Februar 1997, 15.

30) vgl. Stock, W.G.: Universaldienste. - Köln: Fachhochschule Köln. Fachbereich Bibliotheks- und Informationswesen, 1997. - (Kölner Arbeitspapiere zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft; 4); Stock, W.G.: Bibliothekarische Dienstleistungen als Universaldienste in der Informationsgesellschaft. - In: S.Wefers (Hrsg.): 7. Deutscher Bibliothekskongreß. Von Gutenberg zum Internet. - Frankfurt: Klostermann, 1997; Stock, W.G.: Informationsinhalte als Universaldienste. - In: nfd. Information - Wissenschaft und Praxis 48 (1997), 261-271.

31) Martin, W.J.: The Global Information Society. - Aldershot: Aslib Gower, 1995, 2.

32) Goldfinger, C.: The Right to Information. - In: Telecom Briefs, June 1996, 21-23, hier: 22.

33) vgl. Kubicek, H.: Duale Informationsordnung als Sicherung des öffentlichen Zugangs zu Informationen. - In: Computer und Recht (1995), 370-379.

34) Kubicek, H.: Informationelle Grundversorgung als intelligente Industriepolitik. - In: E.Bulmahn; Chr.Zöpel (Hrsg.): Multimedia für die Informationsgesellschaft? - Bonn; Berlin: Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie, 1995, 7-19, hier: 12.


Stand: 19.01.98
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