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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 12, 97

Kundenorientierung, Mitarbeiterbeteiligung und Nutzung neuer IuK-Technologien - Leitmotive der Informationsversorgung an einer Forschungsinstitution


Gerd Paul

Einführung

Die "Bibliothek und Dokumentation" des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) begann vor etwa zehn Jahren ein Modell der Betriebsorganisation zu entwickeln, das die konventionellen Pfade bibliothekarischer Arbeitsorganisation verließ. Diese Entwicklung entsprang dem Wunsch der Verantwortlichen, mehreren, z. T. neuen, z. T. gewandelten Anforderungen besser gerecht zu werden: Es galt - und gilt weiterhin,

Bei alldem war und ist ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, welche Synergieeffekte, aber auch welche Unvereinbarkeiten sich ergeben, war und ist zwischen Trägheiten des "Systems", Anforderungen von Nutzerseite und Bedürfnissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu moderieren.

Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Darstellung der wichtigsten Erfahrungen aus der Praxis der Informationseinrichtung "Bibliothek und Dokumentation" und zieht am Ende nur einige wenige empirische Vergleichsdaten einer breiteren Untersuchung des Autors für den Raum Berlin (erscheint 1998) heran.

Informationseinrichtung in einer sich wandelnden modernen Forschungsinstitution - Daten und Fakten

Forschungsinstitution Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
Unter dem Leitthema "Entwicklungstendenzen, Anpassungsprobleme und Innovationschancen moderner demokratischer Gesellschaften" wird am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), einer gemeinnützigen GmbH mit Bund und Land Berlin als Gesellschaftern, sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung in ausgewählten Politikfeldern durchgeführt.

Die WZB-Forschung organisiert sich in Schwerpunkten, Abteilungen, Forschungsgruppen und Arbeitsgruppen. Die Planstellenausstattung des Hauses umfaßt etwa 100 Positionen für z. T. fest, überwiegend jedoch befristet angestellte Forscherinnen und Forscher. Hinzu kommen über Drittmittelprojekte Beschäftigte, Gastwissenschaftler, wissenschaftliche Hilfskräfte und Promovierende (etwa 200 bis 300 Personen).

Die budgetäre Verwendung der Haushaltsmittel des Gesamt-WZB wird dezentral über 25 Kostenstellen gesteuert. Forschungs- und Serviceabteilungen des Hauses bewirtschaften die ihnen nach einem bestimmten Schlüssel zugeteilten jährlichen Sach- und Aushilfsmittel weitgehend eigenverantwortlich.

Informationseinrichtung "Bibliothek und Dokumentation"

Die "Bibliothek und Dokumentation" versteht sich als Informationseinrichtung für die fachliche Informationsversorgung der breitgefächerten empirischen und theoretischen sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung am WZB. Die von der Abteilung "Bibliothek und Dokumentation" zu betreuende feste Klientel umfaßt ständig etwa 300 bis 400 Personen, wobei eine hohe Fluktuation (etwa 30 % jährlich) zu verzeichnen ist. Die Abteilung betreut außerdem im Rahmen eines eingeschränkten Service (Lese-, Recherchier- und Kopiermöglichkeiten) Gäste, Studierende und "Laufkundschaft".

Die "Bibliothek und Dokumentation" verfügt über eine eigene Kostenstelle mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten. Das Budget für den Erwerb beläuft sich auf rund 400.000 DM pro Jahr. Der jährliche Zuwachs beträgt 3.500 Medieneinheiten; außerdem werden über einen privaten Ausleihservice (Inter library loan) weitere 5.000 Medieneinheiten aus Berliner Bibliotheken beschafft. Derzeitiger Medienbestand: mehr als 100.000 Bucheinheiten und 600 laufend gehaltene Fachzeitschriften. Diese sind in einer rund um die Uhr zugänglichen Freihandbibliothek aufgestellt. Die Ausleihe erfolgt im Zuge der Selbstbedienung.

Die Abteilung ist mit knapp sieben festen Planstellen ausgestattet. Diese verteilen sich auf 12 Teilzeitkräfte (9 Frauen, 3 Männer; Durchschnittsalter 38 Jahre). Jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin der Abteilung steht eine komplette PC-Ausstattung mit Internet-Zugang im Rahmen des WZB-EDV-Netzes zur Verfügung.

Der Leiter der "Bibliothek und Dokumentation" verfügt über umfassenden Spielraum beim Einsatz dieser Ressourcen. Sein Kompetenzbereich beinhaltet im einzelnen

Neue Formen der Arbeitsorganisation durch Kunden- und Mitarbeiterorientierung

Die Zuständigkeiten in der Abteilung "Bibliothek und Dokumentation" und die Formen der Aufgabenwahrnehmung der Abteilung und ihrer Mitarbeiter orientieren sich folgerichtig an mehreren Bezugsgrößen, die von der Nutzerseite vorgegeben werden:

Grundlage bibliothekarischer Werkbearbeitung und Dienstleistung gemäß solcher Kundenorientierung ist dabei nicht mehr die Fragmentierung des Werkstücks in einzelne Bearbeitungsschritte, die von spezialisierten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren als segmentierte Arbeitsgegenstände - losgelöst vom Gesamtvorgang - bearbeitet werden; die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung sind vielmehr sektoral für jeweilige Klientengruppen zuständig. Im Sinne "ganzheitlicher" bibliothekarischer Vollversorgung ist die jeweilige Bibliothekskraft Ansprechpartnerin für die Gesamtbearbeitung der Informationsbedürfnisse einer Klientengruppe.

Das Dienstleistungsverhältnis ist dabei gekennzeichnet durch

Bild 1 zeigt die Situation eines Benutzers bzw. einer Klientin, ratlos vor den für Außenstehende schwer durchschaubaren Zuständigkeiten, Spezialisierungen und internen Abläufen der Bibliothek.

Bild 2 verdeutlicht das hier vorgestellte Modell: ein Kunde/eine Kundin und eine Bezugsperson aus der Bibliothek, die für die Gesamtheit der Fragen, Anforderungen und Dienstleistungen zuständig ist.

Die Folgen dieser Kundenorientierung der Abteilung kommen nicht nur deren Nutzerinnen und Nutzern entgegen. Kundenorientierung und Mitarbeiterbedürfnisse bilden nicht die Gegensätze, die sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der "Bibliothek und Dokumentation" selbst - so ein Resümee aus nunmehr jahrelanger Praxis - profitieren: Ihr neues Aufgabenspektrum deckt sich weit stärker als bisher mit ihren Bedürfnissen nach

Nutzung neuer IuK-Technologien als materielle Voraussetzung moderner Informationstätigkeit

Effiziente Informationsversorgung bedingt heute ein hohes Maß an Technikeinsatz. Seit Anfang der achtziger Jahre verfügt die Abteilung "Bibliothek und Dokumentation" bereits über ein eigenes Datenbanksystem. Vor allem in den letzten fünf Jahren erfolgte eine nahezu explosionsartige Ausweitung der Technikanwendung bei der Informationsversorgung. Dies schlägt sich in mehrerlei Hinsicht nieder:

Derzeit bietet die "Bibliothek und Dokumentation" - neben "klassischen" bibliothekarischen - folgende elektronische Serviceleistungen: Mittlerweile beträgt der Anteil bildschirmgebundener und EDV-gestützter Tätigkeiten in der Bibliothek mehr als 80 % des gesamten Arbeitsvolumens. Für Internet-Recherchen werden zwischen 20 % und 40 % Anteil pro bibliothekarischem Arbeitsplatz eingesetzt.

Die kompetente Nutzung und breite Anwendung der neuen IuK-Technologien in der Informationstätigkeit setzte ein hohes Maß an Technikakzeptanz sowie Anwendungs- und Lernbereitschaft seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voraus. Interessante Ergebnisse aus der Praxis: Mit sich steigernder Technikanwendung nahm die Bereitschaft zu, eigene Kompetenzen zu entwickeln und weiterzuvermitteln, zeigten sich besondere Kreativität und Kompetenz bei der Konzipierung und Umsetzung neuer Dienstleistungen; überdies war ein generell hohes Verantwortungsgefühl für das optimale Funktionieren aller Systeme und deren Komponenten zu verzeichnen, stieg das Interesse an innovativen Produkten zur Verbesserung der Dienstleistungsangebote und zur Optimierung der Arbeit.

Hand in Hand damit ging die Bereitschaft aller Beschäftigten der Abteilung, Lösungskompetenz bei EDV-technischen Störungen zu entwickeln. Das Bewußtsein schließlich, Schritt halten zu können mit den gesellschaftlich so hochgeschätzten und für eine moderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaft als unverzichtbar erachteten Technologien trägt sicherlich dazu bei, die Motivation der Beschäftigten zu stärken und die gebotenen Möglichkeiten auch offensiv zu nutzen. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, daß Mitarbeiterinnen der Abteilung auf eigene Initiative bereits Einführungen in die Nutzung des Internet für Kolleginnen aus anderen Bibliotheken konzipierten und durchführten.

Die durch die bisherige Arbeitsorganisation und Tätigkeitsvielfalt erworbene Kompetenz und Vielseitigkeit der Mitarbeitenden, hohes Engagement und überdurchschnittliche Verantwortungsbereitschaft für die Bibliothek und die an sie gerichteten Anforderungen erleichterten die genannten Innovationen. Besonders die über viele Jahre eher lern-, kommunikations- und teilhabeorientierte Organisationsform der "Bibliothek und Dokumentation" mit einem von Vielfalt und breiter Verantwortung gekennzeichneten Arbeitsplatzzuschnitt hatte ein entsprechend aufgeschlossenes Betriebsklima hervorgebracht, das sich schließlich weiteren Innovationen und Anforderungen zu öffnen vermochte.

Bild 3 will den Zusammenhang von Arbeitsorganisation und Arbeitsvielfalt, Kundenorientierung, "Modernität" und flacher Hierarchie veranschaulichen.

Bild 4 zeigt die "klassische", eher hierarchische und hochgradig arbeitsteilige Struktur von Bibliotheken.

Resümee und Kommentar

In der Informationseinrichtung "Bibliothek und Dokumentation" an der Forschungsinstitution "Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)" hat sich eine in vieler Hinsicht neue Berufswirklichkeit und Alltagspraxis bibliothekarischer und IuD-Tätigkeiten herauskristallisiert. Dies wird vor dem Hintergrund empirischer Vergleichsdaten besonders plastisch.

Während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bibliothek des WZB im Durchschnitt fünf bis sieben verschiedenen Haupttätigkeiten nachgehen und ein durch Vielfalt und breite Kompetenzerfordernisse gekennzeichnetes Aufgabenfeld bewältigen, erweist sich der statistisch durchschnittliche Arbeitsplatz in anderen Bibliotheken ähnlicher Größe und Aufgabe als von eher traditionell-tayloristischem Zuschnitt. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in vergleichbaren wissenschaftlichen Bibliotheken Berlins gehen im Durchschnitt 2,13 Haupttätigkeiten nach, ein Drittel sogar nur einer einzigen Haupttätigkeit. Das Schwergewicht der Arbeit liegt im kundenfernen Innendienstbereich. Die Hälfte (49,5 %) aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten bisher in Ausübung ihrer Arbeit noch keine Berührung mit elekronischer Datenverarbeitung, fast 70 % führten noch nie Online-Recherchen durch. All dies, obwohl 27 % der befragten Bibliotheken über einen Internet-Zugang verfügen, und 65 % nach eigenen Angaben ein eigenes Datenbanksystem betreiben oder an ein größeres angeschlossen sind.

Somit vermittelt sich hinsichtlich Werkstückbearbeitung und Arbeitsvielfalt ein Bild bibliothekarischer Arbeitsrealität, das vorelektronischen Paradigmen verpflichtet zu sein scheint. Nur allzu gern wird dies als Ausdruck geringer Veränderungsbereitschaft bibliothekarischer Profession generell und als deren Angst vor Wandel interpretiert. In der erwähnten empirischen Untersuchung des Autors wird eine solche Annahme jedoch als Vorurteil widerlegt. Auf die Frage nach Veränderungen am Arbeitsplatz und damit verbundenen Ängsten antworteten immerhin 49,8 % aller befragten Bibliothekarinnen und Bibliothekare, sie hätten keine Ängste vor Veränderungen.

Sich an ein solches Ergebnis knüpfende Überlegungen und Schlußfolgerungen bleiben den im Berufsfeld Verantwortung Tragenden selbst überlassen. Die Befunde und Erfahrungen aus der Praxis des Autors indes sind eindeutig. In den Leitmotiven Kundenorientierung, Mitarbeiterbeteiligung und Nutzung technologischer Innovationen stecken mehr Chancen als Risiken - für alle Beteiligten.


Stand: 09.12.97
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