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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 4, 97

Bibliotheksarbeit für Jugendliche


Ergebnisse des DBI-Projekts "Entwicklung und Erprobung neuer Konzepte der Bibliotheksarbeit für Jugendliche"

Ralf Vollbrecht

Das Deutsche Bibliotheksinstitut führte in Zusammenarbeit mit der Bücherhalle Hamburg-Mümmelmannsberg und der Stadtteilbibliothek Rostock-Dierkow von 1993 bis September 1996 ein Pilotprojekt durch, in dem neue Konzepte der Bibliotheksarbeit für Jugendliche entwickelt und erprobt wurden. Erste Ergebnisse wurden in dieser Zeitschrift bereits 1994 vorgestellt1) - nach Abschluß des Projekts soll nunmehr ein Resümee der wissenschaftlichen Begleitforschung2) gezogen werden.

Der Ausgangspunkt des Projekts ist die Feststellung, daß die Zahl jugendlicher Bibliotheksnutzer in den alten und in den neuen Bundesländern rückläufig ist. Das liegt - neben der Konkurrenz anderer Freizeitangebote - auch daran, daß die Gruppe der Jugendlichen von den Bibliotheken nicht hinreichend berücksichtigt wird und in vielen Bibliotheken speziell gestaltete und ausgestattete Jugendbereiche fehlen. In dieser Beziehung repräsentieren die beiden Projekt-Bibliotheken in Hamburg und Rostock Gegenbeispiele gegenüber einem allgemeinen Trend, der noch unterstützt wird durch eine vielerorts restriktiv vorgehende (kommunale) Sparpolitik, von der auch Bibliotheken stark betroffen sind.

Vorwegnehmend kann den beiden assoziierten Bibliotheks-Pilotprojekten Erfolg in der Umsetzung ihrer gesteckten Ziele attestiert werden. Trotz mancher Schwierigkeiten, Eingewöhnungsprobleme und Anpassungsprozesse an die ungewohnte und manchmal für Bibliotheksmitarbeiter auch nicht leicht zu handhabende Klientel der Jugendlichen haben die vielfältigen Bemühungen gefruchtet, Jugendliche mit neuen personalen, medialen und auch räumlichen Konzepten der Bibliotheksarbeit zu gewinnen.

Wie in der ersten Befragung wurde die Studie in zwei ausgewählten Städten in der Bundesrepublik durchgeführt, und zwar mit Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren. In den Schulen der Stadtteile, in denen die ausgewählten Projektbibliotheken liegen, wurden Fragebögen an die Jugendlichen verteilt. Insgesamt haben 367 Hamburger (1993: 397) und 364 Rostocker (1993: 470) Jugendliche an der Befragung teilgenommen und ihre Meinung zu ihren Bibliotheken, zu dem jeweiligen Angebot und zu ihrem eigenen Nutzungsverhalten geäußert. Die befragten Jugendlichen sind zwischen 12 und 18 Jahre alt. Das Durchschnittsalter für beide untersuchten Jugendgruppen beträgt 15 Jahre (1993: 14 Jahre)3) .

Die Freizeitaktivitäten der Jugendlichen

Um den Stellenwert des Lesens im Rahmen anderer Freizeitaktivitäten zu erfassen, wurde mit einer offenen Frage nach den "liebsten Freizeitbeschäftigungen" gefragt. Zunächst einmal ist festzustellen, daß das Freizeitangebot in beiden Stadtvierteln von den Jugendlichen negativ beurteilt wird. Die Jugendlichen in Dierkow sind noch unzufriedener mit dem Angebot zur Freizeitgestaltung (81 %) als die Jugendlichen in Mümmelmannsberg (50,5 %). So empfinden die Rostocker Jugendlichen das vorfindbare Freizeitangebot insgesamt als defizitär. In Hamburg hingegen überwiegen diejenigen Jugendlichen, die mit dem Freizeitangebot "zufrieden" bis "sehr zufrieden" sind. Die vorliegenden Zahlen unterscheiden sich allerdings deutlich von den Ergebnissen der Untersuchung. In beiden Orten, vor allem jedoch in Rostock, ist die Bewertung des Freizeitangebotes im Vergleich mit 1993/94 positiver. D. h., ein Ausbau der Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung scheint in Rostock innerhalb der letzten drei Jahre erfolgt zu sein.

Am häufigsten nennen die Jugendlichen die folgenden Freizeitbeschäftigungen als liebste, d. h. aber nicht zeitlich umfangreichste Aktivitäten (siehe Tabellen 1 und 2):

Tabelle 1: Freizeitbeschäftigungen - Hamburg 1996
In meiner Freizeit beschäftige ich mich am liebsten mit .... (Mehrfachantworten)

Hamburg
1996
GesamtAlterGeschlecht
bis 13 J. 14 J. 15 J.16 -18 J. männlich weiblich
Freunden81,875,679,582,184,780,083,5
Sport47,448,943,257,742,065,128,8
Fernsehen28,633,325,028,229,825,131,8
Musikhören56,440,062,561,555,040,073,5
Video gucken13,0 8,914,812,813,7 8,018,2
Lesen18,828,919,310,320,613,724,1
(Alter nach
Geschlecht)
m
23,8
w
33,3
m
13,9
w
23,5
m
6,1
w
17,2
m
16,9
w
24,2
Computer/-spielen17,131,119,312,813,029,1 4,7
Anderem 9,011,110,2 6,4 9,2 8,010,0

Tabelle 2: Freizeitbeschäftigungen - Rostock 1996
In meiner Freizeit beschäftige ich mich am liebsten mit .... (Mehrfachantworten)

Rostock
1996
insg.AlterGeschlecht
bis 13 J. 14 J. 15 J. 16 -18 J. männlichweiblich
Freunden80,382,179,781,179,669,190,6
Sport43,648,746,844,236,655,233,1
Fernsehen37,635,941,834,738,733,341,4
Musikhören54,947,450,665,354,840,068,5
Videogucken 5,8 5,1 3,8 5,3 8,6 9,7 2,2
Lesen22,028,211,417,929,012,730,4
(Alter nach
Geschlecht)
m
18,2
w
35,6
m
20,0
w
11,9
m
11,4
w
23,5
m
10,0
w
51,2
Computer/-spielen28,028,230,429,524,751,5 6,6
Anderem15,917,910,114,720,415,816,0

Die schon in der Studie von 1993 festgestellten geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Freizeitaktivitäten zeigen sich auch in den Ergebnissen von 1996. Das Treffen mit Freunden (HH: 80,0 %; HRO 69,1 %) und der Sport (HH 65,1 %; HRO 55,2 %) sind für die befragten Jungen die liebsten Freizeitbeschäftigungen. Rang 3 der Freizeitbeschäftigungen der Jungen divergiert im Vergleich zwischen Hamburg und Rostock. Während für die männlichen Hamburger Jugendlichen das Musikhören an dritter Stelle steht, ist es bei den Rostocker Jungen das Spielen mit dem Computer. Die Mädchen bevorzugen in ihrer Freizeit das Treffen mit ihren Freundinnen bzw. Freunden (HH 83,5 %; HRO 90,6 %), nennen an zweiter Stelle das Musikhören (HH 73,5 %; HRO 68,5 %) und geben an dritter Stelle das Fernsehen (HH 31,8 %; HRO 41,4 %) an. Wie schon in der Studie von 1993 aufgezeigt, nimmt auch 1996 das Lesen für die Mädchen einen höheren Stellenwert als bei den Jungen ein.

Zusammenfassend zeigt sich folgendes Ergebnis. Während soziale und kommunikative Peer-Aktivitäten der Jugendlichen an Bedeutung zunehmen, nimmt die subjektive Wertschätzung von Medientätigkeiten durch die Konkurrenz der verschiedenen Medien untereinander und durch die Normalisierung früher noch aufregend neuer Medienangebote ab. Aus diesen Gründen tritt augenscheinlich auch das Lesen als 'Lieblingsbeschäftigung' zurück, obgleich diese Zahlen noch nichts über die tatsächlichen Lesegewohnheiten aussagen.

Die Bibliothek als "wichtigster Freizeitort" mit 4,1 % der Nennungen ein fester Bestandteil der Freizeitgestaltung der vieler Jugendlichen. Wie schon in der Studie von 1993 hat die Bibliothek als Freizeitort auch in dieser Untersuchung für die Mädchen eine größere Bedeutung als für die Jungen (Mädchen 4,5 %; Jungen 3,5 %). Die überwiegende Mehrheit der befragten Jugendlichen hat in den letzten 12 Monaten mindestens einmal eine Bibliothek besucht. In beiden Orten liegt der Anteil höher als in der ersten Befragung 1993 (Hamburg 94,8 % vs. 89,6 %; Rostock 89,0 % vs. 72,2 %).

Das Nutzungsprofil der beiden Projekt-Bibliotheken unterscheidet sich sehr stark. Die außergewöhnlich häufige Nutzung der Bibliothek in Mümmelmannsberg ist durch die räumliche Angliederung an die Schule begründet. Die Bibliothek hat dadurch stärker den Charakter eines Aufenthaltsortes, der auch z. B. in Freistunden gern genutzt wird. Die Dierkower Bibliothek weist dagegen ein typischeres Nutzungsmuster für Bibliotheken auf. Für beide Bibliotheken wird deutlich, daß sie von den Jugendlichen keineswegs nur für die Ausleihe genutzt werden, sondern in deutlichem höherem Maß für Aktivitäten in der Bibliothek selbst.

In den Projektbibliotheken aktiv mitgearbeitet haben nach eigenen Angaben in Mümmelmannsberg 15 Jugendliche, in Dierkow 29 Jugendliche. Das entspricht 4,8 % bzw. 11,4 % der jugendlichen Besucher der Projektbibliotheken. Mädchen und Jungen sind dabei etwa gleich stark engagiert (HH: 8 Jungen, 7 Mädchen; HR: 13 Jungen, 16 Mädchen).

Eine Grundvoraussetzung für die Akzeptanz einer Bibliothek durch Jugendliche ist ein auf ihre Interessen zugeschnittenes Angebot an Büchern und sonstigen Medien. Gerade im Bereich der Jugendbücher - dem übrigens am besten beurteilten Angebot - schneiden beide Bibliotheken ausgezeichnet ab. Mit "sehr zufrieden" oder "zufrieden" beurteilen in Hamburg 83,0 % und in Rostock 77,6 % der Jugendlichen das Angebot an Jugendbüchern.

Damit liegt die Zufriedenheit höher als 1993 (HH: 74,5 %; HR: 74,3 %) und ist auch im Vergleich mit anderen Bibliotheken deutlich besser. Dies zeigt ein Vergleich mit ersten Ergebnissen einer Studie der Bertelsmann Stiftung über "Öffentliche Bibliothek und Schule - neue Formen der Partnerschaft". Hier waren lediglich 56 % der jungen Bibliothekskunden mit dem Angebot an Jugendbüchern zufrieden. Dieser deutliche Unterschied ließe sich einerseits mit einem tatsächlich besseren Angebot an Jugendbüchern in Mümmelmannsberg und Dierkow erklären. Von Bedeutung dürfte aber wohl auch die Ausweisung eines eigenen Jugendbereichs sein, die zu einer verstärkten Wahrnehmung der jugendspezifischen Angebote durch die Jugendlichen führt.

Jugendspezifische Angebote können ein gewisses Maß an Unruhe in einer Bibliothek verursachen. Das gilt vor allem dann, wenn sich unterschiedliche Nutzergruppen wegen räumlicher Gegebenheiten in die Quere kommen, und z. B. die Geräusche eines Computerspiels jemand stören, der sich in ein Buch vertiefen möchte. Auch wenn die Jugendlichen die Bibliothek ganz überwiegend als einen Ort zum Wohlfühlen beschreiben, erleben sie solche Konflikte. Am wenigsten Probleme ergeben sich für die Jugendlichen mit Erwachsenen - eher schon mit Kindern. In Rostock wurde dieser Konfliktbereich durch eine Änderung im räumlichen Arrangement inzwischen abgefedert. Am häufigsten treten Konflikte unter den Jugendlichen selbst auf.

Ausgewählte Ergebnisse und Trends

Im folgenden werden die Ergebnisse der Befragung zusammengefaßt und mit den Trends der ersten Befragung (1993) verglichen. Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß die jeweilige spezifische Situation der beiden Projektbibliotheken berücksichtigt werden muß. In Hamburg befindet sich die Bücherhalle Mümmelmannsberg in direkter Nähe zu einer Gesamtschule. Darüber hinaus wirkt sich die soziale Zusammensetzung in Mümmelmannsberg (ethnische Vielfalt) auf Nutzungsgewohnheiten und Wünsche der Jugendlichen z. B. bezüglich fremdsprachlicher Literatur aus.

Andere Spezifika finden sich in der Region Rostock. Dierkow und Toitenwinkel haben ihre regionale und soziale Besonderheit (z. B. ein ausgesprochen geringer Ausländeranteil). Gegenüber 1993 sind die Freizeitangebote für Jugendliche im Stadtteil verbessert worden. Hieraus ergeben sich Konsequenzen, die bei der Auswertung der Daten immer den Bezug zur jeweiligen Region und der jeweiligen Bibliothek verlangen. Generalisierungen, auch im Hinblick auf einen dualistischen Ost-West-Vergleich, schließen sich dadurch aus.

Trend: Freizeit Jugendlicher ist gemeinsame Freizeit

Ein allgemeiner jugendtypischer Trend bezieht sich auf die hohe - und gegenüber 1993 noch gestiegene - Bedeutung der Peer group (Freundesgruppe der gleichaltrigen Jugendlichen) für die Freizeit. Übereinstimmend bezeichnen in Hamburg und Rostock die befragten Jugendlichen das Zusammensein mit Freunden und Freundinnen als ihre liebste Freizeitaktivität.

Zwar gibt es in dieser Beziehung geschlechtsspezifische Unterschiede, Mädchen nennen das Zusammensein mit Freundinnen oder Freunden häufiger als Jungen, allerdings relativieren andere beliebte Freizeitaktivitäten (z. B. für die Jungen der Sportbereich, der eine hohe soziale Komponente aufweist) diese Unterschiede. In diesen Trend paßt auch die gleichlautende Aussage der Jugendlichen in Hamburg und Rostock, daß entweder die eigene oder die Wohnung der Freundinnen oder Freunde der mit Abstand wichtigste Freizeitort ist.

Gemeinsam gilt für beide Regionen mit ihren Bibliotheken, daß der Trend einer gemeinsamen Freizeit sich auch auf Bibliotheken erstreckt. Auch in den Bibliotheken möchten die Jugendlichen nicht nur ausleihen, lesen, Computer nutzen oder Informationen abrufen, sondern sich treffen und gemeinsam Freizeit verbringen. Damit ändert sich die Erwartungshaltung Jugendlicher an ihre Bibliotheken. Gewünscht werden auch in Bibliotheken Räume, Kommunikations- und Aufenthaltsmöglichkeiten, die das ruhige, 'klassische' Ambiente von Bibliotheken in Richtung eines jugendlichen Freizeitraumes verändern. Mit ihrem Angebot eines Jugendbereichs bzw. einer Jugendecke haben die Projektbibliotheken diesem Wunsch entsprochen, und diese Angebote werden von den Jugendlichen angenommen.

Trend: Verbesserungen des allgemeinen Freizeitangebots gehen nicht zu Lasten der Jugendbibliothek

Vor allem in Rostock waren die Jugendlichen 1993 in hohem Maße unzufrieden mit dem allgemeinen Freizeitangebot. Dieses Angebot hat sich 1996 deutlich verbessert - wenngleich weiterer Bedarf besteht. Für das Bibliotheksprojekt entscheidend ist die Tatsache, daß die Jugendlichen die Bibliotheksangebote nicht bloß subsidiär als 'Lückenbüßer' genutzt haben. Auch bei verbessertem Freizeitangebot konnte die Bibliothek ihre Attraktivität für Jugendliche aufrechterhalten.

Trend: Alters- und Geschlechtsspezifik der Leseintensität

Die Untersuchung bestätigt noch einmal, daß das Lesen im Jugendalter vornehmlich eine Domäne der jüngeren Jugendlichen (unter 16 Jahren) und vor allem der Mädchen ist. Von einer Lesemüdigkeit allgemein kann keine Rede sein. Zwei Drittel der befragten Jugendlichen lesen in ihrer Freizeit täglich in Büchern, und von diesen Jugendlichen kann etwa ein Fünftel zu den Viellesern (mehr als 60 Minuten täglich) gerechnet werden.

Die subjektive Bedeutung des Lesens als Freizeitbeschäftigung geht jedoch vor dem Hintergrund konkurrierender Freizeitangebote zurück. Auch andere Medien verlieren für die Jugendlichen an Bedeutung. Besonders deutlich ist der Rückgang bei den audiovisuellen Medien in Rostock, was möglicherweise als Gewöhnungs- und 'Entzauberungs'-Effekt der neuen Medien zu interpretieren ist. Gesellig-kommunikative Freizeitaktivitäten gewinnen dagegen in beiden Städten an Attraktivität.

Trend: Jugendliche nutzen die diversifizierte Angebotspalette der Bibliotheken, das Medium Buch bleibt dominant, neue Medien gewinnen jedoch an Bedeutung

Bibliotheken weisen heute ein diversifiziertes Angebot auf. Neben Büchern, Zeitungen und Fachzeitschriften bieten sie auch Comics, Audio- und Videokassetten sowie Spiele und Computerspiele an. Jugendliche nutzen dieses breite Angebot. Das Hauptmotiv für die Bibliotheksnutzung bleibt jedoch die Buchausleihe. Allerdings zeigt sich ein neuer Trend: bei entsprechend ausdifferenziertem Angebot an auditiven und audiovisuellen Medien erlangen diese einen ähnlich hohen Stellenwert für Jugendliche wie Bücher. Dies gilt besonders für die leseferneren Jungen.

Trend: Fremdsprachige Literatur wird auch von ausländischen Jugendlichen in erster Linie schulbezogen nachgefragt

Um die spezifischen Interessen der ausländischen Jugendlichen berücksichtigen zu können, wurde (nur in Hamburg-Mümmelmannsberg wegen des hohen Ausländeranteils) - in sozialisationstheoretischer Perspektive - erfragt, welche weitere Sprache neben deutsch in der Familie der Jugendlichen gesprochen wird. Dieser auf die tatsächlich gesprochene Sprache bezogene Ansatz ist nach unserer Ansicht der Problemstellung angemessener als ein bloßer Bezug auf die jeweilige Staatsangehörigkeit. Wie wir in einer (nicht-veröffentlichten) Sonderauswertung zeigen konnten, richtet sich das Interesse an fremdsprachiger Medienangeboten in der Bibliothek überwiegend auf die 'schulischen' Fremdsprachen (hauptsächlich Englisch). Auf die Herkunftsländer bezogene fremdsprachige Literatur und landeskundliche Informationen sind demgegenüber zweitrangig. Dieses Ergebnis liefert einerseits Hinweise für Neuanschaffungen der Bibliotheken und ist andererseits zu verstehen als Zeichen für die Integration der ausländischen Jugendlichen in Mümmelmannsberg.

Trend: Bibliotheken werden von Jugendlichen nicht ausschließlich funktional genutzt

Die Ausleihe von Büchern und anderen Medien ist nicht der alleinige Grund für den Bibliotheksbesuch. Für einen erheblichen Teil der befragten Jugendlichen ist die Bibliothek heute auch ein wichtiger Freizeitort, an dem sie sich längere Zeit aufhalten. Die funktionale Bestimmung der Bibliothek wird von den Jugendlichen entspezifiziert. Die Bibliothek wird von den Jugendlichen sozial aufgewertet und zu einem Ort umgedeutet, an dem sie mit Freunden ihre Zeit verbringen können, um z. B. gemeinsam Schularbeiten zu machen oder Computerspiele zu spielen.

Diese Umdefinition konnte in den beiden Projektbibliotheken ohne Störung anderer Nutzer nur dadurch gelingen, daß entsprechende Raumangebote für Jugendliche realisiert wurden. Dennoch führt die Nutzung der Bibliothek als Freizeitort Jugendlicher zu einer etwas erhöhten Streßbelastung. Dabei werden nicht so sehr andere Nutzergruppen (Erwachsene, Kinder) gestört, sondern meist entwickeln sich Konfliktsituationen innerhalb der Gruppe der Jugendlichen.

Trend und Fazit des Bibliotheksprojekts: Innovative Methoden der Bibliotheksarbeit machen Bibliotheken für Jugendliche wieder attraktiv

Die beiden Befragungen jugendlicher Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer in Hamburg und Rostock aus den Jahren 1993 und 1996 zeigen, daß die Bemühungen und Umstrukturierungen der Bibliotheken Mümmelmannsberg und Dierkow ihr Ziel erreicht haben. (Ältere) Jugendliche, eine ansonsten eher marginale Nutzergruppe, konnten durch neue Medienangebote (visuelle und audiovisuelle Medien, Jugendzeitschriften, Computer etc.), durch spezifische Jugendveranstaltungen, durch räumliche Arrangements (Jugendbereiche, -ecken), durch die Möglichkeit der Nutzung von elektronischen Medien in der Bibliothek, durch eine spezielle Betreuung durch das Bibliothekspersonal sowie durch die Integration der Jugendlichen in Fragen der Bibliotheksorganisation und des Medienangebotes im Jugendbereich gewonnen und als kontinuierliche Nutzer gehalten werden. In den beiden Bibliotheken erzeugten diese Aktivitäten bei den Jugendlichen eine Haltung, die jeweilige Bibliothek als 'ihre' Bibliothek anzusehen und dementsprechend zu nutzen.

Aus weiteren Untersuchungen und Befragungen geht hervor, daß dieses Ergebnis nur in einem Prozeß zu erreichen war, der auf seiten des Bibliothekspersonals wie auch bei den Jugendlichen nicht ohne Konflikte ablief. Die Erwartungen und Wünsche des Personals und der Jugendlichen differierten z. T. und mußten sich gegenseitig ausgleichen und in der Praxis konkretisieren. Die jeweiligen Kontextbedingungen (Stadtteil, Freizeitangebote, Ausgangspunkt der neuen Bibliotheksarbeit, räumliche Gegebenheiten etc.) der jeweiligen Bibliothek spielten hierbei eine wichtige Rolle, so daß für Übertragungen des Konzepts auf andere Bibliotheken nur allgemeine, aber wichtige Hinweise gegeben werden können.

Wichtig erscheinen offene Formen des Diskurses zwischen Bibliothekspersonal und Jugendlichen, aber auch innerhalb der Bibliotheksmitarbeiter selbst; und in diesen Diskursen müssen gegenseitige Erwartungshaltungen und Probleme offengelegt und angegangen werden. Da die Umstrukturierung einer 'traditionellen' Bibliothek zu einer 'jugendgerechten' Bibliothek im voraus nicht gänzlich planbar ist, stellen permanente Rückversicherungen und Supervisionen des Umgestaltungsprozesses einen ebenso wichtigen Erfolgsfaktor dar wie die technischen Veränderungen und die Hinzunahme neuer Medien.

Aus den verglichenen Daten der beiden Jugendbefragungen geht weiter hervor, daß die beiden Pilotprojekte nicht nur neue Nutzergruppen gebunden haben, sondern das Profil der Bibliotheken auch verändert haben. Dabei sollten die neuen Medien (Fernsehen, Video, Kassetten, Computer oder Jugendzeitschriften) nicht instrumentalisiert werden, um die damit angezogenen Jugendlichen 'zum Buch zurückzuführen'. Die neue Nutzergruppe bleibt bei ihren bevorzugten Medien, auch wenn selbstverständlich weiter Bücher ausgeliehen und gelesen werden. Eine reine Buch- und Lesefixierung bzw. eine subtile Orientierung am klassischen 'Hochkulturkonzept' stünde im Widerspruch zu konkreten Wünschen von Jugendlichen, auf die Bibliotheken sich einlassen und ein multimediales Angebot im Rahmen jugendgerechter Räumlichkeiten und Nutzungsgelegenheiten bereitstellen müssen.

Notwendig für eine dauerhafte Öffnung gegenüber Jugendlichen als neuer Klientel war wesentlich die Einrichtung gesonderter Räumlichkeiten. Jugendliche betrachten eine Bibliothek nicht als Ort kontemplativer Rezeption und 'stiller', ichbezogener Tätigkeiten, sondern als einen multifunktionalen Freizeitort, der auch der Interaktion und dem sozialen Austausch zu dienen hat. Um in dieser Hinsicht keine Konflikte mit anderen Nutzergruppen zu provozieren, stellen eigene Jugendbereiche eine sinnvolle Erweiterung traditioneller Bibliotheken dar.

Insgesamt betrachtet zeigen die Beispiele einer innovativen Bibliotheksarbeit mit Jugendlichen in Hamburg und Rostock, daß eine Modifikation des traditionellen bibliothekarischen Zugangs zu Jugendlichen bei geeigneten Methoden den 'Erlebnis-Charakter' einer Bibliothek stärken kann, ohne daß dabei ihre Identität verlorengeht. Der hohe Grad an Zufriedenheit Jugendlicher mit der Bibliothek und ihrem Personal belegen in Hamburg und Rostock, in welche Richtung sich Bibliotheken ändern können, um wieder Jugendliche anzusprechen und für Bibliotheken zu interessieren.

1) Vollbrecht, R.: Jugendliche in Bibliotheken. Erste Ergebnisse des DBI-Projekts "Entwicklung und Erprobung neuer Konzepte der Bibliotheksarbeit für Jugendliche". In: BIBLIOTHEKSDIENST, 28. Jg., 1994, 1475 - 1484. Eine ausführliche Darstellung der ersten Befragungswelle ist veröffentlicht unter: Sander, U./ Vollbrecht, R. 1994: Bibliotheksarbeit für Jugendliche. Entwicklung und Erprobung neuer Konzepte. Bd. 1. Berlin (Deutsches Bibliotheksinstitut - dbi-materialien 133).

2) Die wissenschaftliche Begleitforschung wurde durchgeführt von den Drs. Uwe Sander und Ralf Vollbrecht vom Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung der Universität Bielefeld. Der Endbericht erscheint demnächst in der Reihe dbi-materialien.

3) Zu den beteiligten Bibliotheken und ihrem sozialen Umfeld sind in dem Bericht der ersten Befragung Angaben gemacht worden (vgl. dbi-materialien Band 133: Bibliotheksarbeit für Jugendliche Band 1, Berlin 1994).


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