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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 4, 97

Erste Hilfe für die National- und Universitätsbibliothek Bosnien-Hercegovina in Sarajevo


Uwe Laich, Otmar Pertschi

Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie geförderten Projekts für Bibliotheken in Mittelosteuropa besuchten zwei Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Stuttgart (UB Stuttgart) die Kollegen an der National- und Universitätsbibliothek Bosniens und Hercegovinas in Sarajevo (NUB BiH), um die Schäden zu besehen, das Projekt zu besprechen und eine künftige Zusammenarbeit der beiden Bibliotheken zu begründen.

Allgemein bekannt sind die Aufnahmen von dem brennenden Rathaus in Sarajevo, in dem bis zum Kriegsausbruch die National- und Universitätsbibliothek Sarajevo untergebracht war. In ihren Räumlichkeiten beherbergte diese einst größte Bibliothek Bosniens und Hercegovinas mehr als 2 Millionen Bände, darunter über 3.500 Zeitschriften aus dem In- und Ausland, insbesondere auch einmalige Bestände des 19. Jahrhunderts. Nach der Brandnacht vom Sommer 1992 waren nur noch um 200.000 Bände übriggeblieben. Mit dem Buchbestand vernichtet wurden auch die gesamten Kataloge sowie die technische Ausrüstung der Bibliothek (u. a. die Buchbinderei, die Fotostelle usw.). Das Gebäude selbst war bis auf die Grundmauern abgebrannt, eine der Perlen der Hauptstadt Bosniens und Hercegovinas war zerbrochen.

Hilfe ist nötig und möglich

Die Universitätsbibliothek Stuttgart hat es sich dank des Einsatzes des früheren Bibliotheksdirektors Herrn Jürgen Hering zur Aufgabe gemacht, der NUB BiH wieder auf die Beine zu helfen. Als Zentraleinrichtung des Staates Bosnien und Hercegovina und in der Funktion, sowohl Landesbibliothek als auch Universitätsbibliothek für die größte Universität des Landes zu sein, kommt dieser Einrichtung eine nicht zu unterschätzende kulturpolitische, bildungspolitische und wissenschaftliche Bedeutung zu. Ohne eine funktionierende National- und Universitätsbibliothek in Sarajevo ist eine qualifizierte Literaturversorgung der Universitäten und des gesamten Landes nicht denkbar.

Der UB Stuttgart gelang es, den inhaltlichen Wiederaufbau der NUB BiH in das vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie geförderte Projekt, das vom Deutschen Bibliotheksinstitut (DBI) bearbeitet und koordiniert wird, hereinzunehmen. Dieses Projekt dient der Förderung von Bibliotheken in Mittelosteuropa (MOE-Projekt), ist ursprünglich jedoch nicht darauf ausgelegt, eine Bibliothek aus ihren Ruinen wiedererstehen zu lassen: die in diesem Projekt vorgesehenen Mittel sind dazu gedacht, langfristige Kooperationsbeziehungen zwischen deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken und Bibliotheken in MOE-Ländern aufzubauen sowie die Dokumentenlieferung und -bestellung zwischen den Projektbibliotheken zu verbessern bzw. in Gang zu bringen. Dazu gehört insbesondere der Anschluß an moderne Technologien und lnformationsmittel (Stichwort: Online-Kataloge).

Am 18. Januar 1997 konnten sich erstmals zwei Mitarbeiter der UB Stuttgart auf den Weg zur NUB BiH nach Sarajevo machen, um vor Ort zu erkunden, was dringendst gebraucht wird, was aus Sicht des heutigen Bibliothekswesens empfehlenswert ist und um die Wünsche einer längerfristigen Partnerschaft zwischen den beiden Einrichtungen zu vermitteln.

It's a long way to...Sarajevo

Noch immer ist der Weg nach Sarajevo für Landesunkundige nicht einfach, noch immer (und noch lange wahrscheinlich) sind die Wunden des Krieges nicht verheilt - es war also nur richtig, daß mit der Vertretung der von der Universitätsbibliothek Stuttgart initiierten Aktion ihr Diplom-Übersetzer betraut worden war. Mit ihm reiste der für das Fachreferat Betriebswirtschaft und Recht zuständige Referent der Universitätsbibliothek, gleichzeitig auch Spezialist für EDV-Fragen im Bibliothekswesen. (Beide haben gemeinsam auch diesen Bericht verfaßt.)

In ihrem knappen Gepäck führten sie außer ihren persönlichen Sachen die Offerten des DBI sowie Unterlagen betreffend das MOE-Projekt mit. Die Reise "nach Plan" wäre übrigens beinahe in Zagreb zu Ende gewesen, hätte man nicht improvisiert - ein Unterfangen, das ohne Kenntnisse der Landessprache, der Mentalität und sonstiger Beziehungen schier unmöglich ist. Sehr schnell ist hier vergessen worden, daß die kriegerischen Auseinandersetzungen in diesem Land erst vor einem Jahr endeten - gelegentlich flackern sie auch mal wieder auf. Vieles läuft daher noch nicht wieder in ganz normalen Bahnen: so wurde der Weiterflug von Zagreb nach Sarajevo wegen angeblichen Nebels abgesagt (in Wirklichkeit lag der Flughafen von Sarajevo gar nicht im Nebel sondern vielmehr wird er überwiegend von den SFOR-Truppen genutzt und nur eingeschränkt für den Linienverkehr freigegeben, wie wir später erfuhren). Da sich Croatia Airlines in keiner Weise für unseren und der anderen Passagiere Transport verantwortlich fühlte, mußten wir selbst die Fahrt nach Sarajevo auf dem Landwege organisieren. Nach längeren Erkundigungen und Verhandlungen ließ sich ein Fahrer mit Minibus auftreiben, der uns für einen akzeptablen Preis von DM 100,00 pro Kopf in zehn Fahrstunden nicht bloß bis an die Grenze von Bosnien und Hercegovina, sondern direkt nach Sarajevo selbst bringen wollte. Außer uns fuhren noch weitere fünf "Dienstreisende" mit. Auf dem "Autoput" war die Fahrt zügig und problemlos. Bei (upanja ging es zur Sava, die mit einem Floß überquert werden mußte, das von einem Schleppkahn geschoben wurde. Zuvor mußte man noch quer über ein ehemaliges Feld, jetzt eine "Straße", an Lastwagen vorbei sich zum Fluß "durchkämpfen". Dahinter lag die Grenze zu Bosnien und Hercegovina, dahinter der etwa 15 km breite serbische Korridor, den der kroatische Fahrer dieser "internationalen Reisegesellschaft" am meisten zu fürchten schien. Ein- und Ausfahrt des Korridors erinnerten an den früheren Checkpoint Charly in Berlin, bewacht allerdings von SFOR-Truppen. Nach dessen Durchquerung stillten wir erst einmal unseren Hunger und Durst in einem der noch wenigen offenen Straßenlokale. Nach Überschreitung des lvan-Gebirges bekamen wir trotz nächtlicher Dunkelheit einen ersten Eindruck, welche Zerstörungen der Krieg in Bosnien angerichtet hat.

Als wir tief in der Nacht im stockdunklen Sarajevo bei dem durch Granatsplitter stark beschädigten Gewerkschaftshaus anlangten - zur Einsparung werden nachts Strom und Wasser abgeschaltet -, zeigte es sich, wie wertvoll sowohl die Orts- und Sprachkenntnisse des Übersetzers der UB Stuttgart als auch die Hilfe der dortigen Stadtgewerkschaft waren. (Die Stadtgewerkschaft spielt nach wie vor eine tragende Rolle bei der Förderung der kulturellen Einrichtungen der Stadt, wird von den Einrichtungen als Partner verstanden und stellt außerdem ein Bindeglied zwischen Einrichtung und Ministerium dar.) Ab unserer Ankunft übernahm die Stadtgewerkschaft die Organisation unseres Aufenthalts, da es in einer vom Krieg stark zerstörten Stadt doch recht schwierig ist, ein nach den Vorschriften des Reisekostengesetzes bezahlbares Hotel zu finden, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder sogar essen zu gehen zu vernünftigen Preisen. Außerdem vermittelte der Sekretär der Stadtgewerkschaft notwendige Gespräche mit Regierungsvertretern und der Presse, um unser Projekt zu fördern.

Wir übernachteten im Hotel Park in Vogo((a, einem Vorort von Sarajevo, wo früher der "Jugo-VW" produziert worden war. Das Hotel war erst vor kurzem wiederhergestellt und eröffnet worden.

Auch bei der Abreise gab es das gleiche Spiel wie bei der Anreise. Der Flug nach Zagreb fiel aus, dafür gab es allerdings eine fünfstündige Busfahrt durch das noch stärker als die Hauptstadt zerstörte Gebiet der Hercegovina. Bei Metkovi( überschritten wir dann die Grenze nach Kroatien und fuhren an der Adriaküste entlang nach Split, in Kroatien war kaum noch etwas von Zerstörungen zu sehen. Von dort konnten wir schließlich mit der Croatia Airlines nach Zagreb fliegen. Allerdings erst am nächsten Tag - wobei sich die Fluggesellschaft erneut keine Gedanken um unsere Unterbringung und Verpflegung machte.

Sarajevo - wundes Denkmal einer multikulturellen Großstadt

In Sarajevo selbst ist, obwohl immer noch sehr viele zerstörte oder beschädigte Gebäude das Stadtbild prägen, nunmehr wieder eine gewisse Normalität eingekehrt. Die Bürger verbringen ihre Freizeit zum Teil wieder mit dem Flanieren durch die Fußgängerzone der Innenstadt oder mit einem Ausflug an die Bosna-Quelle, einem Naherholungsgebiet, das durch eine französische Pioniereinheit wiederhergestellt worden ist. Die nahegelegenen Berge und Wälder laden noch immer nicht zum Wintersport oder Wandern ein, da es dort immer noch von zigtausenden von Minen wimmelt. Obwohl die Bevölkerung sehr vorsichtig ist, kamen allein im letzten Quartal 1996 mindestens 30 Menschen durch herumliegende Minen um.

Auffallend an Sarajevo ist auch die Unmenge vieler geöffneter, aber relativ leerer Lokale. So sich Gäste darin befinden, sind es meist Ausländer, die auf Geschäfts- oder Dienstreise in Sarajevo sind. Einheimische können sich - bei einem Durchschnittsverdienst von ca. 200,00 DM monatlich und Preisen, die sich in einer Größenordnung wie in Deutschland bewegen - einen Lokalbesuch kaum leisten.

Sarajevo, das vor dem Krieg etwa 450.000 Einwohner zählte, hat heute noch etwa 370.000 Einwohner; etwa 70.000 Bürger haben während des vierjährigen Krieges ihr Leben verloren, rund 150.000 haben die Stadt verlassen, und ca. 100.000 Flüchtlinge aus anderen, noch stärker zerstörten Landesteilen wurden Neubürger von Sarajevo.

Auffallend an Sarajevo waren für uns die Menschen in ihrem Bemühen um Erneuerung der Stadt: überall, an allen Ecken und Enden der Stadt wird gebaut und ausgebessert, der alte Humor ist nicht verschüttet und kommt immer wieder zum Durchbruch trotz der großen Verluste. Sarajevo ist eine internationale Stadt geblieben, auch wenn sie schwere Wunden trägt; eine der schlimmsten ist die zerstörte National- und Universitätsbibliothek.

Die NUB als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum des Landes und der Stadt

Sie ist heute, weil ihr altes Gebäude zerstört ist und gegenwärtig von Österreich wiederaufgebaut wird, notdürftig in der ehemaligen Tabakfabrik an der Miljacka (dem durch Sarajevo plätschernden, sauberen Fluß) untergebracht. Hier und ebenfalls notdürftig untergebracht in verschiedenen Räumlichkeiten über ganz Sarajevo verteilt lagern derzeit die übriggebliebenen 150.000 bis 250.000 Bände. Mehr als zwei Millionen Bände wurden vernichtet. Doch auch die geretteten Bücher sind kaum nutzbar: Zum einen sind die Gebäude, die die Bibliothek erhalten hat, noch nicht fertig, zum anderen sind die Räume, in denen die meisten Bestände der NUB derzeit lagern, feucht, sodaß die Gefahr besteht, die Bücher könnten dort Schaden nehmen. Zudem wurden nicht nur Bücher vernichtet, sondern auch der gesamte Zettelkatalog sowie die gesamte bibliothekstechnische Einrichtung. Vom ehemaligen jugoslawischen Bibliotheksverbund ist die NUB ebenfalls vollständig und für immer abgekoppelt. Daher müssen die Bücher erst mit der Schreibmaschine katalogisiert werden, um die Bestände erneut zu erschließen. Ein notdürftiger Benutzungsbetrieb herrscht auch wieder: ca. zehn Benutzer pro Tag kann die vor dem Krieg proppenvolle Bibliothek heute wieder in ihren provisorischen Räumen bedienen.

Auch die Erwerbungsabteilung hat ihre Arbeit aufgenommen, wenngleich mangels Geldes sich die Erwerbung auf den Zugang von Pflichtexemplaren und Geschenken beschränkt; an letzteren hat die NUB etwa 50.000 Bände aus den USA und islamischen Staaten erhalten.

Ihrer Aufgabe als Nationalbibliothek versucht die NUB, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten gerecht zu werden. Das konnte und kann nicht viel sein, dennoch hat sie einiges geleistet, wie etwa eine bibliographische Aufarbeitung der während des Krieges erschienenen Literatur. Insgesamt konnte man feststellen, daß von verwaltungstechnischer Seite wieder ein halbwegs normaler Bibliotheksbetrieb herrscht. Das derzeit vorhandene Personal von 36 Mitarbeitern - vor dem Krieg waren es etwa 110 - wird aber sicherlich nicht ausreichen, um auch mit den augenblicklichen technischen Möglichkeiten eine schnelle Einarbeitung der geretteten und geschenkten Monographienbestände zu gewährleisten. Aus diesem Grunde und um die Bibliothek halbwegs auf die Höhe der Zeit zu bringen, sind hohe Infrastrukturinvestitionen im DV-Bereich erforderlich. Ein gangbarer Weg wäre sicherlich das Scannen der Titelblätter, wobei hierfür zum einen eine entsprechende Ausstattung und zum anderen eine Einarbeitung und Schulung des Personals erforderlich sind.

Unser gemeinsames MOE-Projekt - wenigstens ein Tropfen auf den heißen Stein

Angesichts der großen Not, in der sich die NUB befindet, fiel es uns schwer zu sagen, daß wir im Rahmen unseres vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie geförderten Projekts weder Zuschüsse für Baumaßnahmen gewähren können noch den Mitarbeitern, die seit drei Monaten bereits kein Gehalt mehr bekommen, unterstützend beistehen können. Im Rahmen des MOE-Projektes konnten wir den Vertretern der NUB BiH folgende Unterstützung in Aussicht stellen:

Bei der technischen Ausstattung der NUB BiH wird außer reiner EDV-Ausstattung auch noch folgendes benötigt: Schließlich konnten wir die Kollegen einladen, sich in der UB Stuttgart und eventuell in den anderen wissenschaftlichen Bibliotheken Baden-Württembergs nach Bücherdubletten und sonstigen auszumusternden Bibliotheksgegenständen (Katalogschränke, Schreibtische usw.) umzusehen.

Um nicht zu sagen, daß die Bibliothekare der NUB BiH entzückt waren - dies darf wahrlich nicht von einem Kriegsopfer erwartet werden -, wollen wir hier doch deutlich sagen, daß diese Offerte die erste konkrete deutsche Hilfe an die Adresse der ruinierten Bibliothek mit klaren Perspektiven war.

Ihre vordringlichsten Bedürfnisse brachten die Kollegen der NUB BiH - die meisten Gespräche führten wir mit dem Verwaltungschef und stellv. Direktor der Bibliothek, dort genannt Sekretär, und der Leiterin der Erwerbungsabteilung, Fachreferentin für Bildung und Erziehung - auch im direkten Gespräch zum Ausdruck:

Im Rahmen einer von der Stadtgewerkschaft organisierten Pressekonferenz haben wir zusammen mit der Kultusministerin des Kantons Sarajevo auf diese Situation und Problematik ausdrücklich hingewiesen. Dieses Pressegespräch bot der NUB BiH und uns die Gelegenheit, auch die dortige Öffentlichkeit auf die Misere aufmerksam zu machen. Presse und Fernsehen berichteten an diesem Tage ebenfalls über die bosnische Nationalbibliothek und unser gemeinsames Projekt.

Anschließend nutzten wir die Möglichkeit zu einer intensiven Besprechung mit dem Staatssekretär des Kultusministers der Regierung Bosniens und Hercegovinas, der dem gemeinsamen Projekt jegliche Unterstützung zusagte. Auf ihn geht auch die Anregung zurück, ob nicht auch eine Partnerschaft zwischen der Universität Stuttgart und der Universität Sarajevo sinnvoll wäre. Er kündigte an, sich darum auf jeden Fall auf bosnischer Seite zu bemühen.

Zwischenzeitlich hat auch das Generalkonsulat für Bosnien und Hercegovina in Stuttgart seine Hilfe bei dem gemeinsamen Projekt zugesagt, indem es die Literatur für die NUB mit der Kurierpost zu befördern versprach, wodurch die Projektgelder nicht durch Porto geschmälert werden, sondern vollständig für die eigentlichen Zwecke ausgegeben werden können.

Wo brennt es, und wie kann man helfen?

Uns war von den Kollegen der NUB BiH ermöglicht worden, sowohl das ehemalige Gebäude der National- und Universitätsbibliothek in Sarajevo zu besichtigen als auch die neu zugewiesenen Räumlichkeiten:


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