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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 3, 97

Die ersten 100 Tage automatisierte Fernleihe in Konstanz


Klaus Franken, Christa Kuon

Am 16.9.96 nahm das Fernleihsystem der Bibliothek der Universität Konstanz seinen Routinebetrieb auf. Die gesamte eingesetzte Software wurde im Rahmen eines mehrjährigen DFG-Projektes entwickelt; eingesetzt wird das Fernleihverwaltungssystem für die interne Verwaltung der Fernleihbestellungen. Der ILL-Teil kann noch nicht eingesetzt werden, weil in den deutschen Bibliotheken bislang keine protokollgerechte ILL-Software verwendet wird. Mehrfach wurde in der Vergangenheit der bibliothekarischen Öffentlichkeit über Fortgang und Ergebnisse berichtet. Der Abschlußbericht wurde im Frühjahr 1996 veröffentlicht1).

Die Erfahrungen der ersten 100 Tage Routinebetrieb sollen in den folgenden Ausführungen beschrieben werden. Dabei befaßt sich der erste Teil mit den Änderungen der Fernleihe vor allem aus Benutzersicht, der zweite Teil mit Änderungen aus bibliothekarischer Sicht, der dritte Teil soll die Erkenntnisse bewerten und Hinweise auf die Zukunft der automatisierten Fernleihe geben. Bei unserer Entwicklung ging es vor allem um die nehmende Fernleihe; die gebende ist unproblematisch und seit Jahren automatisiert, denn jede andere Bibliothek, mit der wir in Verbindung stehen, hat ein Benutzerkonto bei uns, in das wir Ausleihen aus unserem Bestand verbuchen.

Am 16.9.96 wurden die roten Fernleihformulare, die an verschiedenen Stellen in der Bibliothek auslagen, kassiert. Die Benutzer reagierten ausnahmslos positiv und stellten von heute auf morgen ihr Bestellverhalten um. Drei Varianten zur Aufgabe von Fernleihbestellungen stehen ihnen zur Verfügung: erstens eine Terminal-Maske im KOALA-System, zweitens eine Windows-Oberfläche, die über die Telnet-Version des KOALA gelegt ist und drittens eine WWW-Maske. Es lassen sich keine besonderen Präferenzen der Benutzer erkennen, alle drei Masken werden relativ gleichmäßig benutzt.

Der paßwortgeschützte Zugang zur Bestellaufgabemöglichkeit stellte sich, entgegen unseren Befürchtungen, als völlig unproblematisch dar; bei Benutzern, die für sich selbst bestellen, ist dies ohnehin kein Problem. Schwieriger schien es uns zu sein, wenn Lehrstuhlmitarbeiter für den Chef zu Lasten von dessen Ausweisnummer bestellen wollen; dann brauchen sie sein Paßwort, mit dem sie das Benutzerkonto in allen Bereichen einsehen können (Ausleihstand, Mahnungen, Gebührenschuld usw.). Offensichtlich haben die Lehrstühle dies intern zufriedenstellend geregelt.

Die Benutzer füllen die Bildschirmmasken sorgfältiger aus, als sie dies zuvor mit den roten Fernleihscheinen taten. Offensichtlich sind die Bildschirmformulare ansprechender, obwohl sie keine anderen Daten abverlangen als die roten Leihscheine.

Die Zahl der Fernleihbestellungen ist durch die Einführung der automatisierten Bestellung bislang offensichtlich nicht gestiegen; die festzustellende Steigerung dürfte mehr mit den immer stärker bemerkbar werdenden Defiziten der lokalen Bestände zu tun haben.

Einzelne Benutzer wünschen sich, was von uns derzeit nicht angeboten wird, daß die Rechercheergebnisse aus Datenbankrecherchen (CD-ROM) automatisch in die Bestellmasken übertragen werden können.

Die Zahl der Bestellungen auf Bestände, die vor Ort vorhanden sind, ist von 10 %, dem langjährigen Erfahrungswert, auf 15 % gestiegen. Das heißt, daß Benutzer weniger als vorher ihre Bestellwünsche auf Vorhandensein überprüfen. Wir gehen davon aus, daß mit der bevorstehenden Gebührenerhöhung für Fernleihbestellungen von DM 1.- auf DM 3.- die Benutzer wieder vermehrt selbst recherchieren. Sicher sind wir allerdings nicht. Bei DM 3.-, die wir dann dafür bekommen würden, daß wir das Vorhandensein im Bestand feststellen, ist unser Aufwand in etwa abgedeckt.

Die Zahl der Doppelbestellungen, d. h. ein Benutzer bestellt zweimal in kurzer Zeit hintereinander denselben Titel, ist leicht angestiegen. Es gibt im Moment keine Storno-Funktion für aufgegebene Bestellungen. Dies hätte auch nur Sinn, wenn Benutzer innerhalb weniger Stunden nach Aufgabe der zweiten Bestellung merken, daß sie diesen Titel bereits bestellt haben. Ist die zweite Bestellung bei uns bereits bearbeitet, so läßt sie sich durch den Benutzer nicht mehr aufhalten, weil sie bereits die Bibliothek in Richtung zur ersten Lieferbibliothek verlassen hat; es bleibt dann der Weg zur Fernleihstelle, wo das Problem im Gespräch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geklärt wird.

Bei einem Blick in das eigene Konto über den WWW-Zugang können Benutzer sich informieren, welche Bestellungen sie wann bei uns in Auftrag gegeben haben; die weiterführende Information, wann wir diese Bestellungen bearbeitet haben, wann sie versandt wurden und wie lange wir auf Lieferung oder Informationen aus der Lieferbibliothek warten, ist zur Zeit nicht vorhanden, weil unsere Partner nicht die Rückmelde- und Informationsmechanismen des ILL-Protokolls einsetzen, sondern konventionell arbeiten. Insoweit können wir die angestrebte Transparenz in der Fernleihe (noch) nicht schaffen. Benutzer können die bestellten Titel über einen Kurztitel von 60 Zeichen (Autor und 10 Zeichen) identifizieren. Dieser Kurztitel ist in einigen Fällen offensichtlich zu kurz, so daß wir hier mehr Raum zur Verfügung stellen müßten. Allerdings geht dies zu Lasten der Lesbarkeit der Trefferlisten oder erfordert eine weitere Ebene, so daß man vom Kurztitel ausgehend eine Ebene weiter zum Volltitel springt.

Gebührenmarken müssen von den Benutzern nicht mehr gekauft werden, weder am Automaten noch am Schalter, sondern das Benutzerkonto wird automatisch mit der geltenden Gebühr belastet.

Das System läuft stabil. Es gibt weder Software-Probleme noch Schwierigkeiten mit der Hardware. Im ersten Fall hat sich die längere Testzeit ausgezahlt, die wir uns genommen haben; nichts diskreditiert solche Entwicklungen mehr als Systemabstürze und mangelnde Verfügbarkeit. Das System läuft im 24-Stunden-Betrieb, so daß Bestellungen jederzeit aufgegeben werden können, insbesondere auch - und dies ist ein Fortschritt gegenüber den bisherigen Verfahren - außerhalb der Öffnungszeiten der Bibliothek.

Bei der Aufgabe der Bestellungen am Bildschirm ist eine Pflichtberatung durch Auskunftsmitarbeiter, Fernleihmitarbeiter o. ä. nicht mehr möglich. Nur dann kann noch beraten werden, wenn die Benutzer von sich aus mit einem Problem kommen. Der Qualität der Daten, die Benutzer uns übergeben, tut dies keinen Abbruch. In dreieinhalb Monaten haben wir knapp 14.000 Bestellungen, also Aufträge bekommen, deren bibliographische Qualität sogar besser geworden ist, ohne daß ein Bibliothekar daran mitgewirkt hat.

Der durch das System angestrebte Abbau der konventionellen Karteien geht zügig voran; sicherlich werden wir noch einige Zeit mit einem Bodensatz von alten Bestellungen leben müssen, die entweder im roten Leihverkehr verschollen sind oder bei denen Benutzer auf die Bitte um Rücksprache bisher nicht reagiert haben.

Die Benachrichtigungen der Benutzer über eingegangene Lieferungen läuft über das Informationssystem unserer Ausleihverbuchung; anfallende Nachrichten werden entweder per Post und Hauspost dreimal je Woche versandt oder, mit zunehmender Tendenz, per E-Mail. Im letzteren Fall werden Nachrichten in jeder Nacht versandt, wobei dies ein vollautomatischer Betrieb ist, bei dem kein Personal mehr eingeschaltet werden muß.

Die Bearbeitung der einzelnen Fernleihbestellungen durch die MitarbeiterInnen der Fernleihe erfordert gegenüber dem konventionellen Verfahren, also der Handhabung der Karteien, etwa genauso viel Zeit; bibliographiert wird wie bisher unter Nutzung der diversen Datenbanken und sonstigen Bibliographien. Grundlage des Bibliographierens ist ein ausgedruckter Fernleihschein, der die Daten enthält, die die Benutzer eingegeben haben.

Die Verbesserung liegt vor allem darin, daß ein deutlich besserer Überblick über alle Vorgänge besteht. Es können mit wenigen Anfragen die gesamten Bearbeitungszustände aller laufenden Bestellungen ermittelt werden. Wir können die einzelnen Fernleihbestellungen gezielt ohne Blättern in Karteien heraussuchen.

Die Rationalisierungseffekte treten ganz deutlich in dem Bereich auf, in dem wir die Lieferungen ausgeben, das ist im Bereich der Ortsleihe, wo von morgens 8.00 Uhr bis abends 23.00 Uhr Fernleihlieferungen ausgegeben und zurückgenommen werden können. Alle Bände, die wir in der nehmenden Fernleihe bekommen, werden über das Verbuchungssystem ausgeliehen, das damit auch die gesamten Termine überwacht und die Benutzer automatisch informiert, wenn Fristen verstreichen usw. Wir verbuchen bei der Ausgabe übrigens auch Zeitschriftenaufsatzkopien, was zu einem gewissen Mehraufwand führt; wir können aber nun eine komplette Statisitik automatisch führen und außerdem bei Reklamationen über angeblichen Nichterhalt einer Kopie den Nachweis führen, daß und wann diese ausgegeben wurde. Dies ist bei forschungsintensiven Benutzergruppen, wo es viele Ansprechpartner gibt, hilfreich.

Da es noch keine Bibliotheken gibt, die ILL-gerechte, d. h. normgerechte Fernleihsysteme betreiben, müssen wir die versandfertigen Fernleihbestellungen ausdrucken; wir produzieren - auf rosa Papier! - die derzeit wohl schönsten Fernleihscheine, wofür wir bereits viele positive Rückmeldungen von anderen Bibliotheken bekommen haben. Hoffentlich ist dieser Zustand nur von begrenzter Dauer, denn alle Bibliotheken streben ja wohl den Ersatz der gedruckten Bestellungen durch elektronische Bestellungen an. In unserem System exisitieren die gesamten Programme zum Umsetzen der Bestelldaten in protokollgerechte Fernleihbestellungen, die dann auf der Grundlage des Internet-Protokolls (TCP/IP) versandt werden können.

Noch zu optimieren ist die Arbeitsumgebung der MitarbeiterInnen; da wir uns im Abbau der konventionellen Hilfsmittel befinden und bereits PC und Drucker überall aufgestellt sind, wollten wir erst einige Zeit verstreichen lassen, bis die Mitarbeiter ihre praktischen Erfahrungen gesammelt haben, bevor wir dann Arbeitsplatz für Arbeitsplatz, auch unter Berücksichtigung individueller Wünsche, verbessern.

Momentan werden die Programme für die statistische Auswertung der angefallenen Fernleihdaten fertiggestellt und getestet, so daß wir demnächst diejenigen Daten erhalten, die für Steuerungszwecke der Fernleihe notwendig sind. Darüber hinaus bietet der Einsatz der ORACLE-Datenbank mit den SQL-Abfragemöglichkeiten bisher ungeahnte Untersuchungen der angefallenen Daten. Letztlich müssen wir auch noch entscheiden, welche Daten über welche Zeiträume archiviert werden sollen.

Diejenige Frage, die uns vor allem interessiert und die auch andere Bibliotheken interessieren sollte, ist die nach dem weiteren Vorgehen. Im Rahmen des DFG-Projektes haben wir ein Produkt entwickelt, das auch andernorts einsetzbar sein sollte. Wir haben die Programme mitsamt der zugehörigen Dokumentation allen größeren Softwarehäusern angeboten, die sich auf dem deutschen Markt für Bibliothekssoftware betätigen.

Das Hauptproblem der Nachnutzung scheint aus unserer Sicht der zu leistende Aufwand zu sein, um das Fernleihverwaltungssystem in ein bestehendes Ortsleihverwaltungssystem zu integrieren. Wenn man diesen Aufwand nicht treiben will oder kann, so ist die Nachnutzung als separates Fernleihautomatisierungssystem denkbar. Damit läßt sich die gesamte Fernleihverwaltung der nehmenden Fernleihe automatisieren sowie die Übermittlung der Bestellungen an die Zielbibliothek(en); außerdem ist der Austausch der gesamten sich auf die einzelnen Bestellungen beziehenden Nachrichten zwischen der nehmenden und der gebenden Bibliothek automatisch möglich. Lediglich müssen die Nachrichten, die an die Endnutzer gesandt werden - und die bei unserer Entwicklung über das Ausleihsystem laufen - auf andere Art erzeugt und produziert werden. Dies erfordert einen gewissen Aufwand, der von Fall zu Fall zu prüfen ist. Grundsätzlich halten wir die Integration in das Ausleihverbuchungssystem für den besseren Weg.

Unsere Entwicklung unterscheidet sich von den derzeit vorhandenen bzw. in Entwicklung befindlichen Fernleih-Systemen, wobei Ähnlichkeit oder Unterschiede zu anderen Systemen von Fall zu Fall zu betrachten sind.

Zunächst basiert unser System auf dem ILL-Protokoll nach dem Standard der IFOBS2). Als Kommunikationsprotokoll liegt nicht mehr X.400 zugrunde, wie es zu Beginn des Projektes geplant und vorgegeben war, sondern TCP/IP. Als Datenbank benutzen wir ORACLE, als Hardware-Plattform SUN.

Unser System ist geeignet für die Verwaltung von Bestellungen auf jede Art von Material, sowohl für Zeitschriftenaufsätze als auch für Monographien. Dies unterscheidet uns von Systemen, die derzeit die Zeitschriftenbestellung als Schwerpunkt haben und erst in einem nächsten Schritt Monographienbestellungen planen.

Unsere Entwicklung verlangt dem Endnutzer nicht mehr ab als das Ausfüllen eines elektronischen Formulars. Dieser Endnutzer muß bei uns eingetragener Benutzer sein und ein Konto haben. Benutzer kann bei uns, gemäß den Regeln der Benutzungsordnung, prinzipiell jedermann werden. Wir verlangen weder Vorkasse noch Kauf von Transaktionsnummern. Lediglich die Fernleihgebühr müssen wir kassieren. Denkbar wäre aus unserer Sicht auch, daß die Bezahlung erfolgsabhängig wird bzw., wie bei SUBITO vorgesehen, die Höhe des Preises von der Schnelligkeit der Belieferung abhängig gemacht wird. Wir erbringen als Dienstleistung gegenüber unseren Benutzern das schnelle Beschaffen von gewünschten Dokumenten. Wenn Benutzer sich selbst ihre Lieferanten aussuchen wollen, so können sie dies tun.

Gegenüber denjenigen Bibliotheken, die wir mit unserem System als Lieferanten auswählen, haften wir für unsere Endnutzer. Das heißt, die gebende Bibliothek muß sich nicht mit Endnutzerproblemen herumschlagen, wir sind ihr Schuldner für Rückgabe entliehener Bücher, Zahlung für erhaltene Lieferungen u. ä.

Unser Fernleihverwaltungssystem hat die Transparenz in dem Sinne zum Ziel, daß die Endnutzer, die über unser System Fernleihbestellungen aufgeben, sich durch Aufrufen ihres Kontos einen Eindruck darüber verschaffen können, ob und wann wir den Auftrag bearbeitet haben. In dem nächsten Schritt, d. h. sobald ein protokollgerechter Bestellverkehr mit anderen Bibliotheken möglich ist, wollen wir auch die Bearbeitungsdaten der angegangenen Lieferbibliotheken unseren Benutzern zugänglich machen. Wir meinen mit Transparenz den "gläsernen Geschäftsgang", in dem jede Institution und im Idealfall jede Bearbeitungsstation identifiziert werden können, die mit einer Bestellung zu tun hatte. Wir halten Transparenz in dem Sinne, daß nach außen nicht erkennbar wird, welche konkrete Bibliothek oder welcher Teil einer Bibliothek den Vorgang bearbeitet, für eine "black box", die zu sehr dem klassischen Fernleihverkehr ähnelt. Der Charakter einer black box verhindert geradezu gezielte Verbesserungsmaßnahmen.

Die nächsten Monate werden zeigen, wo und wie wir unser Fernleihsystem noch optimieren müssen. Auch arbeitsorganisatorisch haben wir die Gestaltungsmöglichkeiten noch keineswegs ausgereizt, denn die automatisierte Fernleihe wird noch weitestgehend von Stammpersonal betrieben, was bedeutet, daß wir innerhalb der üblichen Arbeitszeiten der Mitarbeiter die anfallenden Aufgaben erledigen. Beim DBI-LINK-Verfahren arbeiten wir zum Beispiel mit studentischen Aushilfen, auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten, was zu einer Beschleunigung beiträgt bzw. wodurch wir ungleichmäßigen Arbeitsanfall auffangen können, ohne die Erledigung mancher Aufträge auf die nächsten Tage verschieben zu müssen.

1) Elektronische Fernleihe auf der Grundlage des ILL-Protokolls. Abschlußbericht zu dem von der DFG geförderten Projekt der Bibliothek der Universität Konstanz und der Universitätsbibliothek Ulm. Konstanz 1996. ISBN 3-89318-014-1

2) IFOBS = International Forum on Open Bibliographic Systems


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