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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 3, 97

Die "Münchner Bibliothek"

Neuerschließung einer historischen Sammlung durch das Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien (BIOst) in Köln


Robert Loest, Susanne Oehlschläger1)

Im Jahre 1950 wurde in München unter Beteiligung der Harvard University und mit finanzieller Unterstützung des New Yorker Radio Liberty Committee das "Institut zur Erforschung der UdSSR e.V." gegründet. Hauptaufgabe dieser hauptsächlich aus sowjetischen Emigranten bestehenden Einrichtung war es, die Welt diesseits des Eisernen Vorhangs mit zuverlässigen Informationen über Theorie und Praxis der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung der Sowjetunion zu versorgen. Das Institut unterhielt eine umfangreiche Spezialbibliothek, deren Sammelschwerpunkte die Bereiche Geschichte, Politik, Philosophie und Ökonomie umfaßten. Darüber hinaus wurde Literatur in einer breiten Palette von Sachgebieten bis hin zu Medizin und Technik erworben.

Die Bibliothek hatte aber nicht nur aktuelle sowjetische Literatur und zahlreiche Periodika beschafft, sondern in beträchtlichem Umfang Antiquaria aus vorsowjetischer Zeit erstanden, so daß auch zur russischen Geistesgeschichte und zur Vorgeschichte des Bolschewismus wesentliches Material vorliegt. Weshalb es diesem Kind des Kalten Krieges niemals an den notwendigen Finanzen mangelte, wird durch die Tatsache verständlich, daß das Institut bis Anfang der siebziger Jahre vom CIA finanziert wurde. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen stellte es 1972 seine Tätigkeit ein.

Für den Erwerb der Bibliothek, die zu diesem Zeitpunkt ca. 100.000 Bände umfaßte, interessierten sich die Hanns-Seidel-Stiftung, die Universität von Oklahoma, die Bayerische Staatsbibliothek und die Friedrich-Ebert-Stiftung. Außerdem bewarb sich das Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien (BIOst)2) in Köln, dessen Bibliothek zu diesem Zeitpunkt einen Bestand von ca. 40.000 Monographien und 1.000 laufenden Zeitschriften und Zeitungen umfaßte, um die begehrte Sammlung. Bezüglich einer Übernahme der mittlerweile sogenannten Münchner Bibliothek (MB) durch das Bundesinstitut wies der Osteuropa-Wirtschaftsexperte Prof. Dr. Hans Raupach aus München in einem Gutachten vom 24. April 1972 darauf hin, daß diese Sammlung

Das Bundesinstitut erhielt u. a. deshalb den Zuschlag, weil davon auszugehen war, daß die Münchner Bibliothek durch seinen weiteren Bestandsaufbau im Prinzip fortgeführt würde, und weil die Sammlung optimal zu dem allgemeinen BIOst-Profil paßte.

Die Bestände der Münchner Bibliothek waren durch einen Kreuzkatalog (Dictionary Catalogue) erschlossen, der Mitte der siebziger Jahre allerdings von den BIOst-BibliothekarInnen in noch heute bestehende, getrennte Verfasser-, Titel-, Stich- und Schlagwortkataloge aufgeteilt wurde. Als Systematik diente - wie sollte es bei einer von Amerikanern finanzierten Bibliothek auch anders sein - die Deweysche Dezimalklassifikation. Russischsprachige Titel sind in kyrillischer Schrift aufgenommen, allerdings durch (amerikanisch) transliterierte Obertitel, Schlagwörter und viele Querverweise ergänzt.

Im Schenkungsvertrag wurde festgelegt, daß die Bibliothek nach wie vor der "interessierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich" sein sollte. Diese Auflage kann jedoch nur erfüllt werden, wenn den Benutzern brauchbare Kataloge oder andere Erschließungsmittel zur Verfügung stehen. Begibt man sich heute an die Karteikästen, ist der erste Eindruck ernüchternd. Man entdeckt zahlreiche, zum Teil haarsträubende Fehler, weil bei der Aufteilung des Kataloges auch bibliotheksfremde Hilfskräfte beteiligt waren. Die Karteikarten sind inzwischen vergilbt, schlecht lesbar, oft handschriftlich korrigiert oder ergänzt. Die Recherche an diesem Katalog ist mühsam, und nur eingearbeitete BibliothekarInnen erreichen akzeptable Ergebnisse.

Und hat man einen Hinweis gefunden, sieht man auf der Karteikarte mitunter den Stempelaufdruck: "Nicht geliefert". In den meisten dieser Fälle haben die entsprechenden Dokumente den Weg zum neuen Standort gar nicht erst angetreten. Eine Bibliothek, die von München nach Köln verschenkt wird, bietet sich als Quelle für den heimischen Bestandsaufbau an. Man munkelt, daß ehemalige MitarbeiterInnen und BenutzerInnen sich in der Bibliothek frei bedient hätten, bevor diese geschlossen wurde. Belegt ist, daß sogar die Kriminalpolizei zum Eintreiben der Dokumente bemüht wurde - leider ohne Erfolg. So dürften Bücher aus der MB heute die Zierde mancher Privatbibliothek sein. Doch welche Bibliothek ist frei von Schwund? Sehen wir es positiv: Eine hohe Diebstahlquote ist der beste Beweis für die Qualität des Bestandes!

Durch die Abgabe von Literatur aus den Fachbereichen Medizin, Naturwissenschaften und Technik an die Zentralbibliothek der Medizin (ZBMed) in Köln und die Technische Informationsbibliothek (TIB) Hannover im Jahr 1975 schrumpfte die MB um ca. 20.000 Bände. Die Bibliotheksleitung des BIOst war der Meinung, daß diese Dokumente vor Ort nur einen toten Bestand darstellten und sie in diesen zentralen Fachbibliotheken am besten aufgehoben wären. Wer sucht schon in einem Forschungsinstitut zur Osteuropapolitik nach einem sowjetischen Fachbuch der Inneren Medizin oder zur Halbleitertechnik?

Heute gibt es Stimmen, die diesen Schritt bedauern und am liebsten alle ehemaligen Bestände zusammenführen möchten. Begründungen für den Bedarf an dieser Literatur gibt es: Wie soll man das Austrocknen und Versalzen des Aral-Sees erklären, wenn man nichts über die Bewässerungssysteme der zentralasiatischen Baumwollfelder weiß? Und für das Schreiben einer Studie über die internationale Zusammenarbeit in der Raumfahrttechnik oder im Automobilbau wäre es schon wichtig, auch geschichtliche Hintergründe zu kennen.

Und überhaupt: Eine so wertvolle Bibliothek auseinanderzureißen, grenzt für einige schon an Leichenfledderei!

Verschiedene Gutachten bestätigen, daß die Münchner Bibliothek auch in ihrer derzeitigen Größe von rund 50.000 Monographien und 30.000 Zeitschriftenbänden immer noch einen für die Forschung unschätzbaren Wert darstellt. Obwohl der Schwerpunkt der Sammlung auf der Literatur der 20er bis 60er Jahre liegt, bilden die Bestände dennoch die Basis für Forschungen auch im aktuellen Bereich, die häufig nur im Rückgriff auf zeitgeschichtliche Quellen durchgeführt werden können. Zur Beantwortung von Fragen z. B. nach strukturellen Defiziten des sowjetischen Systems und den Ursachen des Zusammenbruchs der UdSSR leistet die MB wertvolle Dienste.

Um die Bibliothek mit Hilfe eines aktuellen, den tatsächlichen Bestand widerspiegelnden EDV-Kataloges der interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen, hat das Bundesinstitut im Frühjahr 1995 bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Förderprogramms "Erschließung von Spezialbeständen" ein Projekt zur Neuerschließung des Monographiebestandes der Münchner Bibliothek beantragt.

Die DFG hat das umfangreiche Projekt mit folgenden Auflagen genehmigt:

Als Datenverbund kam bei näherer Betrachtung nur der unter Federführung der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) stehende "Fachinformationsverbund Internationale Politik und Länderkunde" (FIV)3) in Frage, in dem die Dokumentationsabteilung des BIOst seit 1978 mitarbeitet und dem zur Zeit zehn verschiedene politikwissenschaftliche Institutionen angehören. In den gemeinsamen Datenpool wird auch ein Teil der BIOst-Bestände laufend eingegeben, im wesentlichen Zeitschriftenaufsätze und verbundrelevante Literaturdokumente. Diese Datenbank enthält rund 400.000 indexierte Dokumente und ist über die Hosts ESA/ERS in Frascati und die "Gesellschaft für Betriebswirtschaftliche Information" (GBI) international und für jeden Interessierten online und über GBI außerdem auf CD-ROM zugänglich. Der FIV ist somit bestens zur Verbreitung der MB geeignet.

Keinesfalls selbstverständlich war es jedoch, daß der auf Aktualität ausgerichtete FIV sich mit solch alten Dokumenten "belastet". Immerhin ist das älteste (bisher entdeckte) Buch von 1878, und das jüngste wurde 1972 gedruckt. Die Bedenken bestanden zum einen in der Quantität: Personennamen, Körperschaften und Stichwörter von 50.000 Dokumenten weiten die Register der FIV-Datenbank enorm aus. Außerdem entstehen erhöhte Kosten bei der Speicherung und der Datenfernübertragung. Trotz aller Bemühungen der BIOst-MitarbeiterInnen muß eine Endkontrolle durch die SWP stattfinden - so schreiben es die Verbundregeln vor. Zum anderen gab es Dissens bei der Beurteilung der Qualität des Bestandes: Was für die einen wissenschaftliches Quellenmaterial von größter Bedeutung darstellt, wird von anderen als "olle Kamellen" bezeichnet.

Darüber hinaus gab es prinzipielle Vorbehalte, weil einige FIV-Standards nicht erfüllt werden. So kann eine genaue inhaltliche Indexierung über Deskriptoren - ein absolutes Muß bei allen übrigen FIV-Dokumenten - aus personellen sowie finanziellen Gründen nicht geleistet werden. Die inhaltliche Erschließung erfolgt lediglich über eine Sach- und Regionalklassifikation, die sonst bei der groben Systematisierung der aktuellen FIV-Dokumente verwendet wird.

Nach intensiven Gesprächen erklärte sich die Leitung des Verbunds dennoch mit der Unterstützung des Projektes einverstanden. Möglicherweise setzte sich die Erkenntnis durch, daß die Neuerschließung der MB nicht nur dem BIOst zugute kommt, sondern mit ihrem speziellen Profil eine sinnvolle Ergänzung des gesamten Fachinformationsverbundes ist. Denn zur wissenschaftlichen Bearbeitung eines aktuellen Themas benötigt der Forscher auch historische Quellen und Hintergrundinformationen.

Der Start im Februar 1996 erfolgte furios und - wie konnte es anders sein - chaotisch. Wegen einer großen Anzahl im Sinne des Verbundes fehlerhaft erfaßter Dokumente kam es sogar zu Spannungen zwischen den MitarbeiterInnen der SWP und der BIOst-Bibliothek. Die fehlerhafte Eingabe hatte verschiedene Ursachen: Um - wie erst im Laufe des Projekts deutlich wurde - eine regelgerechte Erfassung der betagten Dokumente durchführen zu können, mußte das für aktuelle Dokumente konzipierte Regelwerk des FIV an einigen Punkten modifiziert werden. Die Regionalklassifikation wurde um verschiedene Stellen erweitert, z. B. "Rußland vor 1917" und "Österreich-Ungarn". Sachklassifikationen wie Belletristik, Philosophie/Psychologie oder Geistesgeschichte fehlten völlig. Auch waren die beiden für das Projekt eingestellten Bibliothekarinnen zwar fachlich qualifiziert und engagiert, jedoch in das vom Verbund benutzte Dokumentationssystem "Domestic" nicht eingearbeitet und verfügten anfangs noch nicht über genügend Routine. Und auch das im BIOst tätige Fachpersonal war häufig nicht nur mit Fragen wie z. B. der Körperschaftsansetzung einer ukrainischen Emigrantenorganisation in Kanada, die nur englischsprachige Publikationen herausgibt, schlicht überfordert. Die Erfassung von alten, oft kuriosen Dokumenten stellte teilweise absolutes Neuland dar.

Außerdem hat der Fachinformationsverbund - wie jeder Verbund - eigene, teilweise von RAK-WB abweichende Regeln, was die Probleme nicht unbedingt verringerte.

Ein Lernprozeß auf verschiedenen Ebenen mußte einsetzen. Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang auch die im BIOst hervorgerufenen psychologischen Probleme durch das Vorhandensein einer externen Kontrollinstanz. Als "Alter Hase" ständig von außerhalb auf eigene Fehler hingewiesen zu werden, ist nicht jedermanns Sache. Und bei der SWP im bayerischen Ebenhausen wird so mancher Fluch über den "Unsinn, den die Kölner da wieder verzapft haben", ausgestoßen worden sein.

Letztlich haben alle Beteiligten die Nerven behalten. Nach kurzer Zeit waren die gröbsten Schnitzer behoben, es wurde ein allgemeiner Konsens erzielt, und wie zu erwarten war, sinkt die Fehlerquote ständig!

Ein Dank an die KollegInnen der SWP für ihre Unterstützung soll an dieser Stelle erfolgen.

Eine Auflage der DFG ist - wie bereits erwähnt - auch die Beteiligung einer BIOst-Fachkraft an den Erschließungsarbeiten. Tatsächlich sind jedoch mehrere Personen auf verschiedene Art am Projekt beteiligt: So werden die beiden von der DFG finanzierten Bibliothekarinnen bei der Titelerfassung unterstützt, damit die angestrebte Quantität erreicht wird. Außerdem müssen die Titelaufnahmen ständig geprüft bzw. korrigiert und - unter dem Gesichtspunkt der Faktendokumentation - Hintergrunddokumente zu Schriftenreihen, den historischen Körperschaften und den Gebietskörperschaften erstellt werden. Die Sachtitel der slawisch-sprachigen Dokumente werden übersetzt, damit neben der Recherche nach Titelstichwörtern, Personen, Körperschaften, Schriftenreihen, geographischen u. themenbezogenen Klassifikationsstellen auch eine Stichwortsuche nach deutschen Begriffen möglich ist. Leider sind in der Datenbank des FIV diakritische Zeichen, die bei der Transliteration nicht-lateinischer Schriften benötigt werden, nicht darstellbar. Deshalb müssen die Verfassernamen zusätzlich in kodierter Form eingegeben werden, um zumindest diese bei einem späteren Ausdruck korrekt transliteriert wiedergeben zu können. Insgesamt ein Aufwand, der vor Projektbeginn für die meisten MitarbeiterInnen nicht absehbar war.

Wir hoffen, daß die DFG das Projekt über die vorgesehenen vier Jahre unterstützt, damit es Anfang des nächsten Jahrtausends erfolgreich abgeschlossen werden kann. Anschließend wäre zu überlegen, inwieweit in Zusammenarbeit mit der TIB Hannover und der ZBMed die an diese Bibliotheken abgegebenen Bestände zusätzlich erfaßt werden könnten. Und wenn dann auch noch die hervorragenden und weitgehend singulären Zeitschriften- und Zeitungsbestände der Münchner Bibliothek erschlossen und in der ZDB nachgewiesen werden könnten, ginge der Traum von der großen MB - zumindest virtuell - doch noch in Erfüllung.

1) Die Autoren sind Mitarbeiter des BIOst und am Projekt beteiligt.

2) Das BIOst wurde 1961 gegründet und ist ein wissenschaftlich unabhängiges Forschungsinstitut im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums. Es erforscht für Zwecke der Bundesregierung und zur Unterrichtung des Parlaments die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in
- Rußland und den europäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion,
- den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas,
- den außereuropäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion,
- der VR China und den kommunistisch regierten Staaten der Dritten Welt
sowie die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die internationalen Beziehungen.
Die Bibliothek des Bundesinstituts besitzt die umfassendste Sammlung von Büchern und Periodika zur Entwicklung in Ost- und Ostmitteleuropa nach 1945 im deutschsprachigen Raum. Die Bestände umfassen derzeit inclusive der Münchner Bibliothek ca. 250.000 Bände und 1.400 Periodika.
Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien
Lindenbornstr. 22 50823 Köln
Tel.: (02 21) 57 47-0; Fax: (02 21) 57 47-1 10
Internet: http://www.uni-koeln.de/extern/biost
E-Mail: biost.koeln@mail.rrz.uni-koeln.de

3) Mitglieder des FIV sind: Stiftung Wissenschaft und Politik; Deutsches Überseeinstitut; Deutsch-Französisches Institut; Institut für Auslandsbeziehungen; Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik; Freie Universität Berlin/Fachbereich Politische Wissenschaft; Bonn Center for Conversion; Südosteuropa-Institut; Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung; Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien


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