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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 97

Geschichte der Gehörlosen und der Gehörlosenbildung

Historische Zeitschriften mit DFG-Unterstützung für die Forschung zugänglich gemacht

Marion Bierwagen, Renate Fischer, Reinhard Müller

Seit wenigen Wochen stehen einmalige Zeitschriftenbestände zur Geschichte der Gehörlosenbildung, aber auch zur Geschichte der Gehörlosen in Deutschland für die fachwissenschaftliche Forschung zur Verfügung. Möglich wurde dies mit finanzieller Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Die DFG fördert in ihrem Programm "Erhaltung gefährdeter Bibliotheksbestände" auch Verfilmungsmaßnahmen für ausgewählte Bestandsgruppen. In der 1894 gegründeten Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigtenwesen (Leipzig), die seit 1992 Teil der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) ist, befindet sich unter anderem eine im deutschsprachigen Raum einmalige Sammlung von Zeitschriften zur Gehörlosenpädagogik, die für bildungsgeschichtliche Forschungen im Fachbereich von hoher Relevanz ist. Eine Entleihung dieser Titel war jedoch bisher aus Erhaltungsgründen nicht möglich, obwohl die Zeitschriften als Quellen für Wissenschaft und Forschung unverzichtbar sind. Deshalb wurde im o.g. Programm ein entsprechender Förderantrag gestellt, um durch Verfilmung der gefährdeten Bestände eine überregionale Literaturversorgung zu gewährleisten und damit im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus eine der wesentlichsten Aufgaben der BBF für bildungsgeschichtlich Forschende zu erfüllen.

Die Quellenlage für historische Forschungen zu den Themen Geschichte der Gehörlosen und der Gehörlosenbildung ist im gesamten deutschsprachigen Raum extrem schmal. Dies wurde in einem dem Antrag beigefügten Fachgutachten ausführlich dargelegt. Der überaus wertvolle und umfangreiche Bestand in Leipzig erklärt sich aus der wechselvollen Geschichte dieser Einrichtung.

Die Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigtenwesen blickt auf ein über 100-jähriges Bestehen zurück, das durch Sammeln, Bewahren, Erschließen und Bereitstellen von Literatur für die Forschung gekennzeichnet ist. Sie ging hervor aus einem deutschen "Museum für Taubstummenbildung", dessen Gründung 1894 anläßlich der III. Deutschen Taubstummenlehrer-Versammlung in Augsburg beschlossen wurde. Als Ort der Sammelstätte wurde Leipzig vorgeschlagen, "[... ] da diese Stadt für die Taubstummenbildung von historischer Bedeutung ist, indem daselbst die erste Taubstummenanstalt Deutschlands errichtet wurde. Ferner ist die Lage Leipzigs außerordentlich günstig für diesen Zweck, da einerseits sich diese Stadt in der Mitte des Reiches befindet, und andererseits Leipzig die Metropole des deutschen Buchhandels ist, [...]"1).

Den Grundstock des Museums bildeten zwei Stiftungen - die Bibliothek des Stuttgarter Hofrates Carl Renz (1834 - 1893) mit etwa 600 Bänden und die Bibliothek des damaligen Direktors der Leipziger Taubstummenanstalt, Gotthelf August Eichler (1821 - 1896), mit 250 Bänden. Die wertvolle internationale Fachbibliothek des Stuttgarter Hofrates Carl Renz, zu der zahlreiche Schriften über das "Taubstummenwesen" gehörten, wäre fast dem "Museum für Taubstummenbildung" in Paris übereignet worden. Die Gründung dieses Museums erfolgte bereits im Jahre 1891, und Carl Renz war davon so begeistert, daß er 1892 in der Fachzeitschrift "Organ der Taubstummenanstalten Deutschlands" dazu aufrief, die Pariser Einrichtung durch Abgabe von, Gegenständen, Büchern, Portraits usw. zu unterstützen, die sich auf "Taubstumme" und ihre Unterrichtung beziehen.

Wilhelm Reuschert (1855 - 1936), der zu jener Zeit als Direktor der Taubstummenanstalt Straßburg wirkte, bat hingegen seine deutschen Fachkollegen, nur Doppelstücke seltener Schriften, nur Abschriften von Dokumenten oder Reproduktionen nach Paris zu schicken, da es nutzbringend und empfehlenswert sei, auch in Deutschland ein "Museum für Taubstummenbildung" zu haben.

Nach Emil Göpfert (bis 1906) und Hermann Lehm (bis 1924) leitete Dr. Paul Schumann, der Herausgeber des "Handbuches für Taubstummenkunde", der Verfasser der "Geschichte des Taubstummenbildungswesens" und engagierte Heinicke-Forscher, von 1924 bis zu seinem Tod 1943 das Museum. Der Bibliotheksbestand war inzwischen auf 33.000 Titel angewachsen und die Leipziger Einrichtung in der Fachwelt bekannt und geschätzt.

Die verheerenden Auswirkungen des 2. Weltkrieges betrafen auch viele Stätten der Kultur und der Wissenschaft in Leipzig; die Bibliothek und ihre Bestände wurden am 4. Dezember 1943 bei dem größten Bombenangriff auf die Stadt fast vollständig vernichtet. Nur die etwa 350 seltensten und kostbarsten Bände waren ausgelagert worden und entgingen wie die ebenfalls ausgelagerte Handschriften- und Bildersammlung der Vernichtung.

Anfang 1950 wurde der Wiederaufbau der Bibliothek beschlossen. Dem damaligen Leiter, dem Gehörlosenlehrer Herbert Härtel (1908 - 1993), ist in hohem Maße die Qualität der heutigen Bestände zu verdanken. Auf dem geretteten Grundbestand baute er in mühevoller Kleinarbeit, durch Dublettentausch, Geschenke, antiquarische Ankäufe, Spenden von Verlagen und Autoren, die Leipziger Fachbibliothek wieder auf. Ihm und seinen Nachfolgern (Klaus-Dieter Große, Heinz Benedix und Reinhard Müller, unter Mitarbeit von Joachim Winkler) ist es zu danken, daß die nun verfilmten Zeitschriften als Quellen für die Forschung zur Verfügung stehen. Zeitschriften haben stets einen hohen Stellenwert in der Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigtenwesen besessen. Sie wurden und werden nicht nur regelmäßig sachlich erschlossen, sondern es wurden auch viele Titel aus den Bezugswissenschaften kontinuierlich in anderen Bibliotheken (namentlich in der Deutschen Bücherei Leipzig) eingesehen, um für die Fachforschung relevante Aufsätze als Sonderdrucke zu beschaffen und in den Bestand einzuordnen.

Die wesentlichsten Titel stehen nun als Mikrofilme für die Fachforschung überregional zur Verfügung. Bei der Auswahl ließen wir uns von der Relevanz für die Forschung, dem Erhaltungszustand und auch von der Benutzungsfrequenz leiten. Es wurde konsequent nach den Richtlinien der DFG für Verfilmungen verfahren. Die bibliographischen Daten sind in der lokalen Datenbank nachgewiesen. Zugleich ist die Datenbank der BBF im Internet recherchierbar (http://www.educat.hu-berlin.de). Ebenso sind die Daten über den WWW-Server des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung und den Deutschen Bildungsserver zu recherchieren. In der Reihe "Bestandsverzeichnisse zur Bildungsgeschichte" ist 1997 ein Band "Zeitschriften" geplant, in dem die verfilmten Titel auch enthalten sein werden.

Die Relevanz des gesamten Verfilmungsprojektes besteht darin, historische Zeitschriften eines gesellschaftlichen Bereichs zu erhalten und der Forschung zugänglich zu machen, der international in Pädagogik, Sprach- und Schulgesetzgebung sowie in Linguistik und Geschichtswissenschaft zunehmend Beachtung findet. Gemeint sind die Gehörlosen (früher: "Taubstummen") und ihre Gebärdensprachen. Die verfilmten Zeitschriften gehören dabei zwei verschiedenen Bereichen an:

  1. Zeitschriften wie das "Organ" (1. Jg. 1855) zählen international zu den ältesten Zeitschriften, die (hörende) "Taubstummenlehrer" sich als Fachorgan geschaffen haben. Als erste derartige Fachzeitschrift darf wohl das "Journal de l'instruction des sourds-muets et des aveugles" gelten, das in den Jahren 1826 und 1827 in Paris von Auguste Bébian herausgegeben wurde.
  2. Die anderen Zeitschriften sind dagegen von und für Gehörlose (ohne spezifische Ausrichtung auf pädagogische Fachleute) gemacht worden (im folgenden: "Gehörlosenzeitschriften").
Man begann, die gesellschaftliche Gruppe der Gehörlosen als solche (statt als kranke, defizitäre Einzelpersonen) wahrzunehmen, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts, ausgehend von Frankreich, ihre vergleichsweise umfangreiche Beschulung einsetzte. Wenngleich das Ziel dieser Bildungsmaßnahmen über alle epochengebundenen Unterschiede hinweg stets dasjenige war, aus den "Taubstummen" "vollwertige Glieder der Gesellschaft" zu machen, so kann doch festgestellt werden, daß dieses Ziel bis heute für die überwiegende Mehrheit der gehörlosen Beschulten (aus Gründen, die hier nicht ausgeführt werden können) nicht erreicht wird (verwiesen sei nur auf die im höchsten Maße eingeschränkten Berufswahlmöglichkeiten, die im allgemeinen sehr begrenzte Lese- und Schreibfähigkeit u.a.m.). Im Zentrum der nun 200 Jahre alten Auseinandersetzungen um die (Schul-)Bildung der Gehörlosen stand stets die Frage des (Nicht-)Einbezugs von Gebärden resp. Gebärdensprache und damit verbunden dann auch der Tätigkeit gehörloser Gehörlosenlehrerlnnen an den "Taubstummenanstalten". Dieser gesellschaftliche Konflikt ist bis heute nicht gelöst; die medizinische Sichtweise des Problems der Gehörlosigkeit wird durch chirurgische Interventionen (Cochlea-Implantate) sogar noch verstärkt. Demgegenüber beschloß das Europäische Parlament bereits 1988, daß die europäischen Staaten die Gebärdensprachen der Gehörlosen als Minderheitensprachen anzuerkennen haben. Die Bundesrepublik Deutschland ist, anders als andere europäische Staaten, diesem von ihr mitgetragenen Beschluß bis heute nicht gefolgt. Er impliziert, anders als die medizinische Sicht der Defizienz gehörloser Einzelpersonen, eine soziologische Sicht, die die Gehörlosen als Gebärdensprachgemeinschaft und damit als eine Minderheit unter anderen innerhalb eines Staates ansieht.

Fachzeitschriften wie das "Organ" entstanden im 19. Jahrhundert in einer Phase der "Taubstummenbildung", die durch heftige Auseinandersetzungen um die "richtige" Methode, und das heißt letztlich um die Kernfrage des Ausschlusses oder Einbezugs von Gebärdensprachen geprägt war. Das detaillierte Wissen um historische Zusammenhänge und Entwicklungen in diesem Bereich ist bis heute sehr lückenhaft und beginnt im Zuge der neuen Disziplin "Deaf History" in Ergänzung zur bisherigen "Geschichte der Taubstummenbildung" aufgearbeitet zu werden.

Zu erwartende Einblicke durch das Studium historischer Zeitschriften betreffen dabei nicht nur die Geschichte der "Taubstummenpädagogik". Da diese Geschichte durch den Streit um Einbezug oder Ausgrenzung von Gebärden(sprachen) geprägt ist, betrifft sie herausragend auch Fragen der je vertretenen Sprachauffassung und des je vertretenen Menschenbildes, letztendlich also zusätzlich zu pädagogisch-didaktischen Fragen solche der Sprachgeschichte und Ethnographie/Kulturgeschichte.

Auch die "Gehörlosenzeitschriften" waren Orte der Auseinandersetzung. Jedoch unterscheiden sie sich von den pädagogischen Fachzeitschriften darin, daß der Anteil professioneller Beschäftigung mit "dem Gegner in didaktischen Fragen" geringer ist, dafür diejenige aus "Betroffenensicht" um so lebhafter, und die Information anderer Gehörloser über das Gehörlosenvereins- und -alltagsleben einen breiten Raum einnimmt. Natürlich gibt es diesbezüglich Unterschiede unter denn Zeitschriften, die jetzt verfilmt wurden. Die historische Bedeutung der einen Zeitschrift mag heute vor allem in ihren Bilddokumenten zu suchen sein, das einer anderen in der Explizitheit, mit der sie sich in den "Methodenstreit" einmischte, das einer dritten in ihrer politischen Ausrichtung auf den Nationalsozialismus. Ihnen allen gemeinsam sind jedoch folgende Aspekte, die ihnen aus heutiger Sicht einen unschätzbaren Wert verleihen:

Gehörlose zählen zu denjenigen gesellschaftlichen Untergruppen, deren Geschichte durch fast keine nachgelassenen Quellen mehr rekonstruierbar ist. Wenn das ein Charakteristikum jedweder "Geschichte von unten" ist, also praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen außer der "Nation" in ihrem Geschichte gewordenen Tun betrifft, so ist im Falle der Gehörlosen die Quellenlage noch verschärft dadurch, daß es für ihre Sprachen, die Gebärdensprachen, bis heute keine Gebrauchsschrift gibt. Bestimmte Quellen, wie in Gebärdensprache verfaßte Tagebücher, wird man daher sicherlich auch mit Glück nicht finden können. Wie in jeder "Geschichtsschreibung von unten" wird man aber einige Quellen dort erwarten dürfen, so spezielle gesellschaftliche Praktiken, nicht zuletzt in einer "konservierbaren Sprachform", zum Zuge kamen. Und darum handelt es sich bei den "Gehörlosenzeitschriften". Sie sind, bis auf Manuskripte oder (Buch-, Artikel-)Veröffentlichungen einiger weniger "Elite-Gehörloser", die einzigen (!) historischen Quellen, die man von der Gruppe der Gehörlosen selbst in nennenswertem Umfang heute noch finden kann, sofern nicht letzte Zeitzeugen direkt befragbar sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß einige der "Gehörlosenzeitschriften", wie auch Teile des Vereinswesens, in zum Teil sehr enger Kooperation mit Hörenden realisiert wurden. Derartige Variationen wären in ihren Bedingungen und Auswirkungen zu erforschen.

Das Studium dieser "Gehörlosenzeitschriften" läßt zum Beispiel erkennen, daß die Gehörlosen keineswegs die unmündigen "armen Taubstummen", als die sie oft genug dargestellt werden, waren. Aus diesen historischen Quellen geht ganz eindeutig der Umfang und die Intensität von Aktivitäten der Gehörlosen hervor, z.B. in Fragen der Methodik des "Taubstummenunterrichts" oder der Alters- und Krankheitsvorsorge, der Berufsausbildung etc. So erscheint durch diese Quellen das in Seminaren, (Fach-)Publikationen etc. vorherrschend vermittelte Bild des "unmündigen und unselbständigen Taubstummen" plötzlich seinerseits als ein offensichtlich "geprägtes" und erklärungsbedürftiges, so wie auch die Tatsache des Scheiterns vieler Aktionen der frühen Gehörlosenbewegung gar nicht anders als in einem gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden kann. Das Studium der historischen "Gehörlosenzeitschriften" muß nachgerade als notwendiges Korrektiv der bislang vornehmlich als "Geschichte der Taubstummenbildung" betriebenen Forschung gelten.

Es gibt einzelne Institutionen, insbesondere andere Gehörlosenschulen, auch Staatsbibliotheken, die ebenfalls über historisch wertvolle Bestände im fraglichen Wissensbereich verfügen. Keiner dieser Bestände ist jedoch so benutzerfreundlich wie derjenige in Leipzig durch

  1. die Größe und den Vollständigkeitsgrad des Bestandes,
  2. die Arbeitserleichterung durch gute Zugänglichkeit, zumal an einem einzigen Ort,
  3. die hervorragende Erschließung des Bestandes über verschiedene Kataloge.
Aber es sind, wie gesagt, nicht nur die konkreten Arbeitsbedingungen; es ist vor allem Punkt 1) = der Umfang des Bestandes, der in Leipzig vor dem "Verschwinden" gerettet wurde.

Es war also dringend geboten, diese Bestände durch Verfilmung zu erhalten und damit verstärkt bildungs- und geistesgeschichtliche Forschungsarbeit materiell zu ermöglichen - dies um so mehr, als die internationale Forschung insbesondere im Bereich "Deaf History" zunehmend die Bedeutung der historischen Zeitschriften als Quellen entdeckt. Mit Unterstützung durch die DFG konnte die überregionale Literaturversorgung auf einem wichtigen Spezialgebiet weiter verbessert werden.

1) Reuschert, Wilhelm: Aufruf zur Gründung eines "deutschen Museums" betreffend die Erziehung und den Unterricht Taubstummer. In: Organ der Taubstummenanstalten in Deutschland und den deutschredenden Nachbarländern. 38 (1892), 248 - 249
Eine Liste der 18 verfilmten Zeitschriften (Gesamtumfang über 76.000 Seiten) ist außer über die im Text genannten Datenbanken bzw. Publikationen bei der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Warschauer Str. 34-38, 10243 Berlin, erhältlich.


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