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Bibliotheksdienst Heft 12, 96

Faksimiles auf CD-ROM

Ein Testbericht zur Reihe "Opera Omnia" der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt (ADEVA) in Graz

Arno Mentzel-Reuters

1. Das Projekt

Die Akademische Druck- und Verlagsanstalt (ADEVA) in Graz hat in Zusammenarbeit mit dem in Bergamo ansässigen Verlag Esedra eine neuartige Form der Reproduktion wertvollen Buchbestandes geschaffen. Es handelt sich bei dem als "Opera omnia" titulierten ehrgeizigen Projekt um den Versuch, ganze Handschriftenbestände auf CD-Rom darzustellen und dabei gleichermaßen Wissenschaftler und Bibliophile anzusprechen. Mit den Unterreihen "Tesori miniati" (128 Codices auf 93 CD-ROM) und "Angelo Mai" (214 Codices auf 132 CD-ROM), beide basierend auf den Beständen der Biblioteca Angelo Mai in Bergamo und der Biblioteca Queriniana in Brescia sind zunächst Bibliotheken von eher lokaler Bedeutung Gegenstand dieses Vorhabens; neu hinzugetreten ist die Biblioteca Comunale V. Joppi in Udine (20 Codices auf 18 CD-ROM). Im Entstehen begriffen sind aber bereits Auswahlpräsentationen von Zimelien der Universitätsbibliothek Graz, der Biblioteca Ambrosiana Mailand und der Biblioteca Comunale in Mantua, sowie mit der Reihe 4. Collana Musicalia Musikmanuskripte aus der Biblioteca Angelo Mai und dem Istituto Musicale Gaetano Donizetti in Bergamo (11 CD-ROM mit 12 Werken, u.a. von Scarlatti, Mozart, Beethoven). Der Preis beträgt pro CD-ROM DM 69,- bzw. öS 483.

Technische Mindest-Voraussetzungen sind ein IBM-PC mit 486er Prozessor und Windows 3.31 aufwärts bzw. ein Apple-Macintosh; beide mit mindestens MB RAM. Im folgenden wird nur die IBM-PC-Fähigkeit getestet.

Schon beim gedruckten Faksimile sind die Interessen von Wissenschaft und Bibliophilie kaum gemeinsam zu befriedigen; im Falle der CD-ROM-Ausgaben kommen beide Seiten kaum auf ihre Kosten. Die äußere Form wird den Bibliophilen kaum ansprechen; dem wissenschaftlichen Benutzer wird (immerhin) eine vollständige Reproduktion eines alten Drucks oder einer Handschrift geliefert. Als einziges Gegenstück zu den mittlerweile sehr anspruchsvollen Kommentarbänden der Faksimile-Editionen liefert ADEVA auf den CD-Rom einen Kommentar als "schedule. doc" im Microsoft-Textformat, das man einlesen und ausdrucken kann. Der Text ist glücklicherweise originalsprachig (also italienisch, die deutschen Begleittexte auf dem Cover und die Menuebezeichnungen auf dem Bildschirm sind schlecht übersetzt und teilweise von erstaunlicher Unkenntnis der mittellateinischen Literatur geprägt – der heilige Benedikt erscheint etwa als De Nursia, B., gelegentlich liest man über "Inkunabeln des 16. Jahrhunderts" usf.). Doch wenn zunächst die elf Seiten, die da zu einem Druck erscheinen, beeindrucken, so stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, daß 10 Seiten davon einer "Bibliografia Generale" gewidmet sind, die die Bestände der Biblioteca Angelo Mai in Bergamo generell betreffen.

2. Der elektronische Katalog der Opera Omnia

Zunächst zum "Catalogo-Catalogue-Katalog-Catalogue", der als Werbeträger auf einer gesonderten CD-Rom ausgeliefert wird. Er enthält ein Handschriften- bzw. Titelverzeichnis und eine "Promo"-Software, die die von "Opera Omnia" bearbeiteten Bibliotheken in Text und Reproduktionen von einzelnen Handschriftenblättern kurz vorstellt. Die Installation dieses Katalogs ist nicht ganz einfach. Die "Promo"-Software lief auf mehreren Rechnern sowohl unter Windows 3.31 wie Windows 95 erst, nachdem auch die Software einer Faksimile-CD-Rom aufgespielt war (es scheint also eine fehlerhafte Datei mitgeliefert zu sein), bestimmte Fenster ließen sich auf "sanfte" Weise nicht mehr schließen, sondern nur mit STRG+ ALT+ ENTF, also der letzten Notbremse. Der Menuepunkt "Ausgabe" meint nicht etwa Druck-Ausgabe, sondern so etwas wie "Exit" oder "Escape" und führt meist zum Hauptmenue von Promo; ein Ausdruck ist mir aus diesem Programm nicht gelungen. Ohne dieses Malheur generalisieren zu wollen, möchte ich doch folgern, daß die Druckroutinen der Software gründlich durchgeprüft werden müssen. Außerdem kopiert das Setup von PROMO ein Programm "Share.exe" auf den PC, das unter Windows 95 nicht lauffähig ist ("Falsche DOS–Version"). Windows 95-Anwender dürfen also keinesfalls der Aufforderung folgen und dieses "share.exe" in der Autoexec.bat aufrufen; es geht nämlich ganz ohne dieses Programm. Solche Kinderkrankheiten werden sich sicher leicht heilen lassen. Die Anlage des Handschriftenverzeichnisses selbst ist bescheiden; sie beschränkt sich auf die Wiedergabe von CD–Nummer, Fonds mit Signatur, Autor und Kurztitel (in abenteuerlichen italienischen Umformungen lateinischer Titel), Entstehungszeitraum, Entstehungsgebiet. Die Recherche kann nach Fonds, Autoren/Titel und Entstehungszeit eingegrenzt werden. (Das verlangt aber Geduld.)

3. Ein Beispiel aus den "Tesori miniati"

Die "Tesori miniati" wurden getestet an der Wiedergabe der Inkunabel Hain 12753, also Francesco Petrarca: Canzoniere e Trionfi. Venedig 1470, Wendelin von Speyer (Opera omnia. Tesori miniati 46) Bergamo (o. J.), Esedra, keine ISBN. - Die mitgelieferte Software mit Namen IN-FOLIO ist für die Benutzung der CD-Rom hinlänglich; vor allem erlaubt sie das Blättern und Springen innerhalb des angewählten Bandes. Das Programm ist aber keineswegs stabil. Es stürzt bei geringfügigen Fehlbedienungen immer wieder ab, etwa wenn der Drucker nicht eingeschaltet ist, wenn man den Menuepunkt "Ausgabe" (d. i. hier tatsächlich Drucken) anwählt. Die Herausgeber haben mit der Entscheidung für Windows wohl den richtigen Schritt getan. Für den Anwender bedeutet dies natürlich neben dem Vorhandensein eines CD-Rom-Laufwerks bestimmte Hardware-Voraussetzungen (486er Prozessor, mindestens 16 Farben, 4–8 Mbyte Arbeitsspeicher); eine bestimmte Windows-Version scheint hingegen nicht erforderlich (der Test wurde unter Windows 3.31/ MS–DOS 6.22 und Windows 95 durchgeführt). Die Entscheidung für Windows hat andererseits die angenehme Folge, daß die Graphik-Dateien im Standard des Bitmap-Formats (als "bmp-Daten") abgelegt sind. Damit ist ein Datenaustausch mit anderen graphikfähigen Programmen möglich, die bei Bedarf spezielle Zugriffe auf die Daten ermöglichen, die uns das eher biedere "offizielle" Programm IN–FOLIO vorenthält. Man kann die Graphiken bearbeiten und z.B. in ein Textverarbeitungssystem integrieren, so daß Bild und Lesetext nebeneinander treten, was die Herausgeber von "Opera omnia" leider nicht vorsehen. Für den Anwender, dessen PC unter Windows 95 läuft, empfiehlt sich ein Schnellzugriff durch Anklicken der Datei mit den gewünschten Seiten direkt auf der CD-Rom, wodurch das Betriebssystem sie automatisch mit MS–PAINT öffnen kann; wer mit der entsprechenden Routine vertraut ist, kann es auch wagen, sie direkt von Word für Windows in eine Textdatei einzulesen.

In beiden Fällen muß man etwas über die Datenstruktur von "Opera omnia" wissen. Die Doppelseiten der Handschrift sind nämlich in Graphiken umgesetzt, deren Zählung die Foliierung der Handschrift abspiegelt: z.B. gibt C00128. bmp die aufgeschlagenen Seiten 127v/128r wieder. Die Abbildungen zu Vorsatzblättern u.ä. verbergen sich in Dateien vom Typ GI?. bmp, der Einband in Dateien vom Typ L??. bmp. Mit MS–PAINT oder analogen Graphikprogrammen können die Bilder manipuliert und für eine Verarbeitung außerhalb der CD-Rom übernommen werden. So lassen sich Manipulationen der Farben, probeweises Nachzeichnen unleserlicher Stellen usw. am Objekt vornehmen; durch Ausschneiden bestimmter Buchstabenformen quer durch die ganze Handschrift bzw. durch mehrere Handschriften können Proben bestimmter Buchstaben in einer neuen Graphik nebeneinandergestellt, übereinandergelegt und verglichen werden. Damit könnten z.B. Datierungen oder Schreiberzuweisungen besser abgesichert werden. Die von Esedra gelieferten Graphiken vertragen einen Zoom von 200%, darüber werden sie undeutlich und grob; für manche Leseschwierigkeiten kann aber auch mit einem 600%igen Zoom Hilfe gewonnen werden, wenn man sich etwas weiter vom Bildschirm entfernt; für die Miniaturen ist allerdings dann nichts mehr zu erkennen. (Diese Werte lassen sich mit dem offiziellen Programm nicht sauber einstellen, sie wurden mit MS-PAINT ermittelt). Beim Ausdruck entstehen selbst auf einem preiswerten Laserdrucker passable Schwarz-Weiß-Raster (getestet wurde mit einem Oki OL 400ex mit HP II–Emulation). Sie sind um einiges besser als die sattsam bekannten Reader-Printer-Produkte von herkömmlichen Mikrofilmen, die zudem mangels Raster nicht weiterverarbeitet werden können. Die überformatigen Seiten der Handschrift werden beim Ausdruck allerdings auf mehrere DIN A4-Blätter verteilt, so daß einiges Geschick bei der richtigen Ausschnitt-Wahl erforderlich ist.

Hier werden nun Hersteller und Vertreiber sicherlich urheberrechtliche Einwände geltend machen. In der Tat sollte ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Projekt nur in Abstimmung mit den Inhabern der Urheberrechte durchgeführt werden – aber ein allzu enges Pochen auf diesen Rechten (die ja nur die Daten und nicht etwa die Handschriften betreffen) würde das gesamte Projekt eben jener Chancen berauben, die seinen eigentlichen Wert ausmachen. Im übrigen wurde durch erfreulich geringen Preis der CD-Roms der wirksamste Riegel gegen Raubkopien vorgeschoben, den man sich denken kann.

Man könnte das Unternehmen als gelungenen ersten Schritt in eine neue Dimension der Handschriftenbearbeitung anerkennen, wenn auch verabsäumt wurde, den Graphiken einen Lesetext beizufügen, in dem man sich mit Textretrieval zu den Graphiken durchfragen könnte. Seitens der EDV wäre eine Verknüpfung zwischen einem Text und einer eindeutig zugeordneten Graphik sicherlich zu bewältigen. Es sei erlaubt, hierin eine neue Editionstechnik zu sehen, die sich vor allem dann bewähren dürfte, wenn wenige Überlieferungsträger oder gar nur ein Autograph zu berücksichtigen sind. Neben die reine Textedition, deren technische Umsetzung einschließlich aller Apparate unter Windows spätestens seit der Patrologia Latina-Database von Chadwyck-Healey als gelöst angesehen werden darf (was niemanden davon abhalten sollte, schnellere und handlichere Applikationen zu entwickeln), könnte ein Fenster mit Graphiken der Leithandschriften treten.

4. Bibliothekarische Perspektiven

Bibliothekarisch faszinierend ist die Möglichkeit, durch den Erwerb der CD-ROM in Auswahl oder gleich ganzer Reihen einen vorhandenen Handschriftenbestand auf preiswerte Weise zu erweitern bzw. in einer Bibliothek ohne nennenswerten Handschriften- und Inkunabelbestand einen neuen Fundus anzubieten. Mit den herkömmlichen Methoden: Faksimiles, Mikrofilme bzw. Mikrofiches war dies kaum möglich. Ich möchte die Werke des Antonius Florentinus oder des Bartholomaeus de Sancto Concordio hierunter rechnen. Natürlich sind die hier angebotenen Überlieferungsträger in der Regel nicht von überragendem philologischen Wert; aber als grundsätzliche Orientierung über Texte, deren Edition in den nächsten Jahrzehnten sicher nicht zu erwarten sind, können sie schon hilfreich sein. Die große Anzahl von Statutenhandschriften italienischer Kommunen des 14. und 15. Jahrhunderts macht vielleicht auch an einer mittelgroßen deutschen Universitätsbibliothek wenig Sinn. Von besonders hohem Interesse dürften schließlich die Inkunabeln sein; ich nenne hier als persönliche Auswahl den Druck der Postilla des Nicolaus von Lyra Venedig 1488, zahlreiche Dekretalen-Drucke mit allen Glossen (die in der heutigen Standard-Ausgabe von Friedberg/Richter fehlen), die Summa des Astesanus de Asti usw.

In jedem Fall bietet die technische Ausstattung genügend Möglichkeiten, die eine Anschaffung für jede Bibliothek mit mediävistischem Benutzerkreis prinzipiell empfehlenswert machen. Die Erwerbung hat natürlich zur Folge, daß im Lesesaal für wertvolle Bestände eine PC-Station eingerichtet wird, an der die CD-ROMs zusammen mit dem historischen Altbestand benutzt werden können. Die Lieferungszeiten sind im übrigen extrem lang; ADEVA teilte auf Anfrage mit, daß die CD-ROM erst bei vorliegender Bestellung in Bergamo gepreßt werden, so daß u.U. mit einem halben Jahr Wartezeit zu rechnen ist.


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