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Bibliotheksdienst Heft 10, 96

200 Jahre Nationalbibliothek in Portugal

Claudia Voos

Ihr 200jähriges Bestehen feiert in diesem Jahr die Biblioteca Nacional in Lissabon. Am 29. Februar 1796 erteilte Königin D. Maria I. die Erlaubnis, die Öffentliche Königliche Hofbibliothek (Real Biblioteca Pública da Corte) einzurichten. Heute umfaßt die Bibliothek die reichste Dokumentation zu Portugal.

Die Anfänge: 1796 bis 1836

Eröffnet wurde die Bibliothek ein Jahr nach ihrer Gründung in den zentral in Lissabon gelegenen Königlichen Gebäuden am Terreiro do Paço. Es hatte schon früher Bemühungen gegeben, auf der Grundlage privater Schenkungen eine Nationalbibliothek einzurichten, aber sowohl durch Naturkatastrophen wie das schwere Erdbeben von 1755 und die nachfolgenden Brände, aber auch durch mangelnden Willen der Regierenden scheiterten sie. Die Grundlage der neugegründeten Nationalbibliothek war zunächst die Bibliothek der Real Mesa Censória, die die Bücher berühmter Lehrinstitute der Jesuiten besaß. Erweitert wurde der Bestand in den ersten Jahren durch viele Kodizes der Academia Real da História, wertvolle Schenkungen und Käufe. Zu den Erwerbungen der ersten Jahre gehört ein Exemplar der 42zeiligen Gutenbergbibel sowie die reich dekorierte Cervera-Bibel, außerdem das Breviarium Braccarense (Braga 1494), eine äußerst seltene portugiesische Inkunabel. Ein erster handschriftlicher Bandkatalog von 1801 führt die bis dahin gekauften Bücher auf. Eine Aufstellung von 1816 der in den einzelnen Lesesälen vorhandenen Bücher vermerkt insgesamt ca. 60.000 Bände, wobei der Schwerpunkt auf der theologischen Literatur mit ca. 15.000 Bänden lag.

Im Chiado: 1836 bis 1969

Die 2. Phase in der Geschichte der Nationalbibliothek begann mit einem Entwurf zur Neuorganisation der Bibliothek, erarbeitet von Vasco Pinto de Balsemão, Oberbibliothekar von 1834 bis 1843, die im Gesetz vom 7.12.1836 umgesetzt wurde. Die Bibliothek erhielt damit nicht nur ihren heutigen Namen, Biblioteca Nacional de Lisboa, sie siedelte auch um in die Räume des Konvents São Francisco da Cidade, im Chiado, dem intellektuellen Viertel Lissabons in dieser Zeit. Im gleichen Gebäude befand sich auch ein Lager mit Objekten aus portugiesischen Klöstern. Mit der 1834 erfolgten Auflösung sämtlicher Orden, Klöster und Konvente war deren Besitz beschlagnahmt und in ein Lager im Konvent São Francisco da Cidade in Lissabon gebracht worden. Hieraus erhielt die Bibliothek in der Folgezeit weitere umfangreiche Bestände. Eine Aufstellung von 1841 vermerkt die Eingliederung von 183.500 Büchern aus dem Zwischenlager in die Nationalbibliothek, darunter 1.394 griechische und hebräische, 84.859 lateinische, 30.168 portugiesische, 33.004 spanische, 22.061 französische und 5.213 italienische Bücher sowie 232 Chor-Bücher, 2.211 liturgische Bücher und 4.391 Broschüren und Blätter. Zu den wichtigsten Erwerbungen dieser Jahre gehören die wertvollen Handschriften aus dem Kloster Alcobaça wie das Werk "De numeris" von Rabanus Maurus aus dem 13. Jahrhundert, aber auch das Monumentalwerk über die Vogelwelt Nordamerikas "Birds of America" von John James Audubon (London 1827 - 1838). José Feliciano de Castilho, Direktor von 1843 bis 1846, veröffentlichte 1844 und 1845 die ersten gedruckten Kataloge über Teilbestände der Nationalbibliothek: Katalog der Werke des 15. Jahrhunderts, Katalog der Sammlungen Bodoni und Elzevier, Katalog der Bibeln sowie einen Katalog der seltenen und Pracht-Werke.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine Neuorganisation des Bibliothekswesens erforderlich. Das Dekret vom 29.12.1887 schuf eine übergeordnete Generaldirektion der Bibliotheken und öffentlichen Archive, regelte durch die Einführung von Lehrgängen für Bibliothekare und Archivare eine bibliothekarische Ausbildung und führte das Prinzip der thematischen Abteilungen in der Nationalbibliothek ein. Ihr Bestand belief sich in dieser Zeit auf 195.000 Bände und 9.854 Manuskripte. Die Veröffentlichung von Katalogen und Inventarverzeichnissen ebenso wie die Durchführung verschiedenster Ausstellungen machten den erworbenen Bestand auch der Öffentlichkeit bekannt.

Mit Jaime Cortesão als Bibliotheksdirektor und unter Mitarbeit von Raul Proença erfolgte ab 1919 eine grundsätzliche Reform in der Bibliotheksverwaltung. So führten sie 1919 einheitliche Katalogregeln ein und schufen einen Gesamtkatalog portugiesischer Bibliotheken. Von 1920 bis 1931 erschien vierteljährlich die von der Nationalbibliothek herausgegebene Zeitschrift "Anais das Bibliotecas e Arquivos", 1923 eine Bibliographie der portugiesischen Bibliographien und 1926 eine Bibliographie der in Portugal gedruckten Werke des 16. Jahrhunderts. Gleichzeitig mit diesem Aufbruch erlebte die Bibliothek aber auch eine Gefährdung ihres Bestandes durch mehrere schwere Diebstähle, inadäquate Lagerung und durch Insekten, die Handschriften und Druckwerke zerstörten. Eine Ausstellung 1920, die die Öffentlichkeit auf die Mißstände in der Nationalbibliothek aufmerksam machen sollte, gab neben den Handschriften auch 600.000 bis 700.000 Druckwerke als gefährdet an. Ein Jahr darauf bestätigte eine Bibliothekskommission, daß ein Neubau der Nationalbibliothek erforderlich sei.

Während der ersten Jahrzehnte der faschistischen Diktatur ab 1926 führte die Nationalbibliothek ein Schattendasein. Erst in den fünfziger Jahren kam es zu weiteren Innovationen: 1953 führte die Bibliothek für die sachliche Erschließung die Dezimalklassifikation ein, 1954 erarbeitete sie eine erste Kurzausgabe dieser Klassifikation in portugiesischer Sprache. Um den weiteren Verfall der Bücher durch Insekten zu verhindern, erfolgte eine gründliche Desinfizierung des Bestandes, gleichzeitig begannen ernsthafte Planungen für einen Neubau, der 1956 begann. 13 Jahre später wurde die Nationalbibliothek am Campo Grande, in der Nähe der Stadt-Universität, eröffnet. Sie umfaßte zu dieser Zeit 561.702 Druckwerke, 16.113 Kodizes und Einzelhandschriften, 12.453 Bilder und 5.280 Atlanten und Karten.

Die Entwicklung zur modernen Bibliothek: 1969 bis 1996

Seit 1974, dem Ende der faschistischen Diktatur in Portugal, konnte sich die Nationalbibliothek zu einer modernen Bibliothek entwickeln. Mit dem Gesetz vom 29.8.1980 erhielt sie finanzielle, administrative und wissenschaftliche Autonomie. 1982 wurde das Pflichtabgaberecht, das die Bibliothek seit 1798 besaß, grundlegend überarbeitet, allerdings erfolgte die Ablieferung in der Realität nicht immer lückenlos. Diese Pflichtabgaben bilden die Grundlage für die Erstellung der Nationalbibliographie, deren Anfänge auf den "Boletim de Bibliografia Portuguesa" von 1937 zurückgehen. Seit 1984 katalogisiert die Bibliothek nach den von ihr in Anlehnung an die AACR erarbeiteten portugiesischen Katalogisierungsregeln. In den achtziger Jahren begann sie die Arbeiten an der Datenbank PORBASE, in der heute mehr als 100 portugiesische Bibliotheken online katalogisieren. Seit 1988 ist die Datenbank der Öffentlichkeit zugänglich, seit 1995 auch im lnternet und als CD-ROM-Version verfügbar. Die Datenbank enthält mehr als 70.000 records, 93 % davon für Monographien, 7 % für Periodika.

Die Bibliothek besitzt heute 2,5 Millionen Bände und gliedert sich in die Bereiche:

1. Allgemeine Sammlung: Monographien und Periodika

Sie umfaßt 800.000 Monographien in 2,3 Millionen Bänden des 16. bis 20. Jahrhunderts. Die Sammlung der Zeitschriften umfaßt ca 15.200 portugiesische Titel, davon 4.800 laufend, und ca. 15.300 ausländische Titel, davon 750 zur Fortsetzung. Von den ca. 11.700 Zeitungen werden 1.850 laufend gehalten. Unter den Zeitungen ist auch die älteste portugiesische, die "Gazeta da Restauração" (1640), zu finden.

2. Spezialsammlungen

Die Kartographische Abteilung enthält 6.800 Karten und Atlanten des 16. bis 20. Jahrhunderts, darunter wichtige Seekarten aus der ersten Zeit der Entdeckungen.

Die lkonographische Abteilung umfaßt 112.000 Werke (Zeichnungen, Stiche, Plakate und Postkarten) portugiesischer Künstler des 16. bis 20. Jahrhunderts, aber auch Werke von Rubens und Dürer.

In der Musikabteilung sind 50.000 handschriftliche und gedruckte Musik-werke des 12. bis 20. Jahrhunderts zusammengefaßt, darunter auch wichtige Originale portugiesischer Musik des 18. Jahrhunderts und die größte Sammlung des Landes an Chor-Büchern.

Das Archiv zeitgenössischer portugiesischer Literatur umfaßt 90 literarische und politische Nachlässe. Zu ihnen gehören die der wichtigsten portugiesischen Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts wie Eça de Queiroz (1845 - 1900), Fernando Pessoa (1888 - 1935) und Raul Proença (1884 - 1941). Der Nationalbibliothek gehört ebenfalls die größte Sammlung an Primär- und Sekundärliteratur des portugiesischen Nationaldichters Luis Camões (1524 (?) - 1580).

In der Abteilung für Blinde werden 2.400 Bücher-Titel in Blindenschrift, 1.300 Titel als Hörbuch und mehr als 4.000 Titel musikalischer Werke in Blindenschrift bereitgestellt. Als einzige Bibliothek des Landes besitzt die Nationalbibliothek die World Book Encyclopedia in 119 Bänden in Blindenschrift.

3. Alte und seltene Werke / Handschriften

Die Bibliothek besitzt 30.000 wertvolle Druckwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts. Dazu gehören portugiesische Drucke des 16. Jahrhunderts wie der Tratado de Confissom (Chaves 1489), das erste Buch in portugiesischer Sprache, das in Portugal gedruckt wurde, ebenso wie portugiesische und ausländische Werke des 17. bis 20. Jahrhunderts wie die Sammlung von Duarte de Sousa zum Thema "Portugal aus der Sicht von Ausländern" und Sammlungen von Werken der Werkstätten Bodoni und Elzevier. Die Abteilung besitzt des weiteren 1.499 lnkunabeln. Die Sammlung der Handschriften umfaßt 13.100 Kodizes und zahlreiche Einzelhandschriften unterschiedlichster Herkunft, darunter die wertvolle Sammlung des ehemaligen Zisterzienser-Klosters Alcobaça mit u. a. 245 mittelalterlichen Kodizes, die Sammlung Pombalina mit 758 Handschriften aus dem Archiv der Familie des Marques de Pombal und die Handschriftensammlung des Condes de Tarouca mit 248 Kodizes. Neben der Gutenberg-Bibel und der Cervera-Bibel gehört insbesondere der Cancioneiro Colocci-Brancuti, die größte Sammlung mittelalterlicher Poesie in portugiesischer Sprache in einer Abschrift des 16. Jahrhunderts eines verschollenen Originals des 14. Jahrhunderts, zu den Schätzen der Abteilung. Im angeschlossenen Archiv befinden sich verschiedene öffentliche und private Sammlungen von Archivalien, so des Ministeriums für kirchliche Angelegenheiten und Justiz, der Generaldirektion für Zensur, der Kirchenkammer von Lissabon, Porto und Castelo Branco und verschiedener berühmter portugiesischer Familien.

In einer Ausstellung informiert die Nationalbibliothek noch bis zum 31.1.1997 über ihre 200jährige Geschichte.


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