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Bibliotheksdienst Heft 8/9, 96

Bücher als Kriegsgeiseln

Klaus-Dieter Lehmann

50 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges verhandeln deutsche und russische Kommissionen über die Rückführung verschleppter Kulturgüter.

Es ist eine beschämende Kriegsbeutegeschichte in beide Richtungen. Deutsche Truppen und SS-Kommandos hatten als Angreifer mit der Zerstörung und Verschleppung begonnen; die sowjetische Seite wiederum verbrachte auf Grund vorbereiteter Bestandslisten 1945/46 Kulturgüter aus deutschen Bibliotheken, Museen und Archiven in die Sowjetunion. Dort blieben sie die gesamte Zeit vor der Öffentlichkeit versteckt.

Während die deutsche Beute, die überwiegend in mittel- und ostdeutschen Depots gelagert war, nach dem Sieg der Alliierten in den Einflußbereich der Roten Armee kam und von den Sowjets zurückgeführt wurde, und auch die US-Armee über ihre Collecting-Points die geraubten Kulturgüter an die Sowjetunion restituierte, verblieben die verschleppten deutschen Sammlungen auf sowjetischem Territorium.

Der deutsch-sowjetische Freundschaftsvertrag von 1990 und das deutsch-russische Kulturabkommen von 1991 lieferten erstmals aktuelle rechtliche Vereinbarungen zur Rückführung der Kulturgüter. Bereits 1992 trafen sich russische und deutsche Bibliothekare zu einem Runden Tisch in Moskau, bei dem zum ersten Mal in einer aufsehenerregenden Offenheit und gleichzeitigen Kooperationsbereitschaft über die geheimen Depots und Magazine berichtet und diskutiert wurde.

1993 konstituierte sich auf der Grundlage der völkerrechtlichen Verträge die deutsch-russische Regierungskommission in Dresden, die wiederum drei deutsch-russische Fachgruppen für Bibliotheken, Archive und Museen einrichtete.

Der Fachgruppe Bibliotheken gehören als deutsche Mitglieder an: Klaus-Dieter Lehmann als Vorsitzender, Jörg Fligge, Ekkehard Henschke, Jürgen Hering und Ingo Kolasa. Von russischer Seite wurden benannt: Wladimir Saizew (Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg) als Vorsitzender, Jewgenii Kusmin (Bibliotheksreferent des Kulturministeriums der Russischen Föderation), Inga Schomrakowa (Leiterin des Lehrstuhls für Bibliographie und Buchwissenschaften der St. Petersburger Kulturakademie) und Alexander S. Masurizki (Dekan der Fakultät für Bibliothekswesen des Staatlichen Instituts für Kultur Moskau). Hinzu kommen von Fall zu Fall Experten für Einzelprojekte. Die Fachgruppe hat bis jetzt viermal getagt, wechselweise in Deutschland und Rußland.

Seit Beginn ihres Bestehens hat sie es immer als eine ihrer Hauptaufgaben angesehen, nicht nur die Regierungsverhandlungen mit Sachverstand zu unterstützen, sondern auch Aufklärung über den Kulturgütertransfer zu betreiben und neue bibliothekarische Verknüpfungen zur Zusammenarbeit herzustellen. Auffallend ist das hohe Maß an Übereinstimmung der deutschen und russischen Fachgruppenmitglieder in ihrer positiven Einstellung zur Rückführung und das harte Nein der russischen Politik. Die Bibliothekssammlungen wurden zum Spielball der Innenpolitik, drastisch vorgeführt durch den Gesetzentwurf der Duma, des russischen Parlaments, vom Juli 1996, der eine vollständige Enteignung der Kulturgüter zugunsten der Russischen Föderation vorsah.

Die Fachgruppe Bibliotheken hatte sich in Kenntnis des Gesetzentwurfs entschlossen, ihre Vorstellungen in die parlamentarische Behandlung einzubringen und unmittelbar vor der 2. Lesung des Gesetzes eine Tagung in Moskau anberaumt.

Als Ergebnis wurde ein gemeinsam verabschiedetes Memorandum formuliert, das die Besonderheit von Bibliothekssammlungen im Vergleich zu musealen Gütern herausarbeitet und den spezifischen Wert der kulturellen Überlieferung im jeweiligen regionalen Umfeld betont. Als Folge dieser Auffassungen wird ein Mandat für die bibliothekarische Fachebene gefordert, die Verhandlungen für die Bibliothekssammlungen unterhalb der politischen Ebene direkt durch die Bibliotheken führen zu können und allen spektakulären Aspekten und sachfremden politischen Argumenten zu entziehen.

Das Memorandum wurde von der Großen Regierungskommission der Russischen Föderation ohne Änderungen akzeptiert und sowohl an die Duma als auch an den Föderationsrat (zweite Kammer) weitergeleitet.

Bekanntlich hat die Duma das Gesetz ohne entscheidende Änderungen angenommen.

Durch die folgende Ablehnung im Föderationsrat konnte es dann aber doch verhindert werden. Damit bleibt uns der Verhandlungsweg weiterhin offen und wir werden ihn intensiv weitergehen. Es war nicht zu erwarten, daß wir die Abgeordneten mit unserem Memorandum gleich zu höheren Einsichten bringen. Aber die Fachgruppe glaubt noch immer an die Kraft der Argumente und die Notwendigkeit, über die Zusammenhänge aufzuklären.

Bis jetzt sind größere Buchsammlungen aus Rußland noch nicht zurückgekehrt. Die Zeit wurde jedoch genutzt, um die deutschen Bibliotheksbestände auf Grund von Geheimdokumenten, recherchiert in den verschiedenen Archiven, zu lokalisieren. Das ist für rund 80 % der Bestände möglich gewesen. Außerdem konnten erfolgreiche Verhandlungen mit Georgien über die Rückführung abgeschlossen und mit der Ukraine aufgenommen werden.

Das im Anschluß abgedruckte Memorandum wird die Verhandlungslinie mit Moskau bestimmen und hoffentlich ein befriedigendes Ergebnis bringen.

Memorandum der
russisch-deutschen Fachgruppe Bibliotheken
über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet
der Rückführung von Büchersammlungen,
die als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges
verlagert worden sind

I

Der Zweite Weltkrieg, vom faschistischen Hitler-Deutschland entfesselt, brachte unsagbares Elend für viele Völker der Erde, darunter auch das russische und das deutsche Volk - neben den menschlichen und den rein materiellen Verlusten auch kolossale immaterielle Verluste. Auf dem Territorium der UdSSR haben deutsche Truppen große Zerstörungen angerichtet, viele Museen, Bibliotheken und Kulturdenkmäler beschädigt oder vernichtet. Viele Kunstschätze wurden nach Deutschland abtransportiert oder vernichtet, darunter auch große Bibliothekssammlungen.

Aus Deutschland wurde während und nach dem Krieg eine bedeutende Anzahl von Kulturgütern, darunter auch Bücher, in die Sowjetunion abtransportiert.

Es entstanden auf beiden Seiten Verluste an nationalen Kulturwerten, die nicht zu ersetzen sind und eine Tragödie für das nationale Kulturerbe beider Staaten darstellen.

Seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Mit der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990 und der Unterzeichnung des "Vertrages über Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion vom 9. November 1990 und dem Kulturabkommen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation vom 16. Dezember 1992 sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland in eine neue Etappe getreten. Sie ist gekennzeichnet von dem Bemühen um das beste gegenseitige Verständnis und eine konstruktive Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Deutschland und Rußland sind sich darin einig, daß nach der katastrophalen Erfahrung des vergangenen Krieges neue Möglichkeiten für gutnachbarliche Beziehungen bestehen, die auf konstruktiver Zusammenarbeit begründet sind. Einen besonderen Platz nimmt dabei die Kultur ein.

II

Bald nach dem Abschluß der Verträge haben führende Vertreter deutscher und russischer Bibliotheken mit Konsultationen über die Schaffung neuer Beziehungen und eine vertiefte Zusammenarbeit beider Länder auf diesem Gebiet begonnen.

Auf diesen Treffen und Diskussionsrunden wurde den Fragen der Restitution von Bibliotheksbeständen selbstverständlich nicht wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Bald mündete dies in einen "Runden Tisch" russischer und deutscher Bibliothekare mit dem Thema "Die Restitution von Bibliotheksbeständen und Zusammenarbeit in Europa", welcher vom 11. - 12. Dezember 1992 in der Allrussischen Staatlichen Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau stattfand. Das gemeinsame Anliegen der versammelten Teilnehmer fand seinen Niederschlag im Kommuniqué. In ihm heißt es unter anderem: "Beide Seiten sind der Ansicht, daß die Zeit gekommen ist, um Lösungen für die Rückführung der verlagerten Bibliotheksbestände zu finden, die für beide Seiten annehmbar sind."

Die russisch-deutsche Fachgruppe, welche sich mit den Problemen der Bibliothekssammlungen beschäftigt, hat sich in dieser Zeit mehrfach getroffen. Die Beratungen verliefen im Geist des gegenseitigen Verständnisses, trugen konstruktiven Charakter und waren von dem Bemühen, für beide Seiten annehmbare Lösungen der verschiedenen schwierigen Fragen zu finden, gekennzeichnet.

Es wurden Methoden entwickelt, die durch die Fachgruppe abgestimmt wurden, und die es gestatten, mit der Zusammenarbeit zu beginnen. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, daß

Es wurde Übereinstimmung erzielt, daß sich beide Seiten gegenseitig bei der Suche nach Informationen über die durch den Zweiten Weltkrieg erlittenen Buchverluste unterstützen.

III

Die Fachgruppe Bibliotheken berücksichtigt, daß es Umstände gibt, welche die Lösung der Probleme, die mit den verlagerten Beständen zusammenhängen, erschweren. Diese liegen im Bereich der Rechtsfragen, die weitere zwischenstaatliche Verhandlungen erfordern, und in der Frage des Ungleichgewichts der verlagerten Kulturgüter.

Im Zusammenhang damit sind die Vertreter der Fachgruppe, getragen von dem Bemühen, die Verhandlungen voranzubringen, zu dem Schluß gekommen, daß es notwendig ist, einen besonderen Ansatz bei der Betrachtung von Fragen zu finden, die mit den verlagerten Buchbeständen zusammenhängen.

Die Experten stimmen darin überein, daß Bibliothekssammlungen unstrittig Kulturwerte darstellen, jedoch gleichzeitig Besonderheiten aufweisen, die sie in wesentlichen Punkten von musealen und archivalischen Werten unterscheiden:

Aus dem Gesagten wird deutlich, daß Bibliothekssammlungen im großen und ganzen in ihrem kulturellen Wert heterogen sind, was von ihrem Standort, von der Häufigkeit und Qualität ihrer Nutzung, ihrer Einbeziehung in den kulturellen Kontext oder der Kollektion abhängt. Es gibt darunter Weltkostbarkeiten, die nicht von den genannten Umständen abhängen. Es gibt Bücher, die für die Wissenschaft durch ihren Anwendungscharakter wertvoll sind, aber es gibt auch Bestände, die ihren Wert nur unter jenen Bibliotheksbedingungen haben, unter denen sie gesammelt wurden oder nur als Teil irgendeiner Kollektion.

Das zeigt, daß Bibliothekssammlungen ein besonderes Spezifikum im Vergleich zu musealen Sammlungen haben. Dies findet jedoch nicht seinen Niederschlag in der Arbeit der Regierungskommissionen. Dadurch entsteht ein negativer Einfluß auf die gemeinsame Arbeit der deutsch-russischen Fachgruppe Bibliotheken.

In russischen Bibliotheken gibt es Bücher, die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges verlagert wurden, die bis zum jetzigen Zeitpunkt keine bibliographische Bearbeitung und auch keine Expertise zur Bestimmung ihres Wertes erfahren haben. In den Bibliotheken, in denen eine solche Expertise angefertigt wurde, konnte eine bemerkenswerte Menge von Büchern gefunden werden, die in der gesamten Zeit ihres Vorhandenseins in Rußland nicht benötigt wurde bzw. wird. So ist z. B. in der Allrussischen Staatlichen Bibliothek für Ausländische Literatur, in der Staatlichen Öffentlichen Historischen Bibliothek und in einer Reihe anderer Bibliotheken eine solche Situation festgestellt worden. Nach Einschätzung von Experten sind Bücher vorhanden, über deren Übergabe Verhandlungen geführt werden können, ohne daß der einen oder der anderen Seite Verluste entstehen. Diese Verhandlungen basieren auf den Prinzipien kultureller Zusammenarbeit und gegenseitigen Interesses.

Solche Verhandlungen können auch zu den verbliebenen Teilen der Gothaer Bibliothek, die im INION aufbewahrt werden, geführt werden.

Gleichzeitig würde dadurch die Möglichkeit eröffnet, auf fachlicher Ebene Methoden zu entwickeln, die weitere Buchsammlungen, die keinen unikalen Charakter haben, zum gegenseitigen Nutzen in die Verhandlungen einbeziehen.

IV

Die russisch-deutsche Fachgruppe Bibliotheken wendet sich an die Regierungskommission beider Länder mit der Bitte, an die verantwortlichen russischen und deutschen Regierungsstellen heranzutreten, ihr das Recht einzuräumen, die mit den Bibliothekssammlungen beschriebenen Fragen auf der Fachebene im Rahmen der Zusammenarbeit der Bibliotheken Rußlands und Deutschlands zu erörtern und einer Lösung zuzuführen. Dieser Vorschlag betrifft nur gedruckte Bücher auf Grund ihres Vervielfältigungscharakters.

Es ist bekannt, daß die von der russisch-deutschen Fachgruppe behandelten Bibliothekssammlungen zum Teil auch Handschriften, Inkunabeln, Archivalien und sonstige Materialien, die musealen und archivalischen Quellen gleichzusetzen sind, enthalten. Diese Teile der Bibliothekssammlungen werden aus dem vorgeschlagenen Prozeß auf Fachebene ausgeklammert und den allgemeinen Verhandlungen zwischen beiden Ländern überlassen.

Die konstruktive Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern hat eine qualitativ neue und fachlich intensive Form erfahren. Sie umfaßt inzwischen viele Aspekte und erstreckt sich auf verschiedene bibliothekarische Anwendungsgebiete. Die Zusammenarbeit muß qualitativ erweitert und weiter ausgebaut werden.

Fragen, die sich mit der Verlagerung von Bibliothekssammlungen befassen, sind deshalb nur eine, wenn auch fundamentale Seite der Zusammenarbeit. Es müssen Antworten gefunden werden, die dem Geist guter Nachbarschaft und stabiler künftiger Beziehungen entsprechen.

Moskau, den 11. Juni 1996

gez. Wladimir N. Saizewgez. Klaus-Dieter Lehmann


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