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Bibliotheksdienst Heft 6, 1996

TITAN statt RAK § 608?

Rita Riedl

TITAN, die neue Normdatei für antike Werke, wird das Nachdenken über RAK § 608 bei der Katalogisierung antiker Werke überflüssig machen.

Der nachstehende Artikel soll jedoch, bis zur Fertigstellung der mit Spezialkenntnissen erarbeiteten neuen Normdatei TIT(el der)AN(tike), als Anwendungshilfe zu RAK §608 bei der Katalogisierung antiker Werke dienen.1)

Bei der Katalogisierung antiker Werke kommt es immer wieder zu Problemen, die zu unterschiedlicher Antwort auf die Fragen führen, ob ein anonymes oder ein Verfasserwerk vorliegt, und welcher der mit dem Werk in Verbindung gebrachten Verfasser die Haupteintragung erhält.

Diese Fragen sind zwar durch RAK § 608 geregelt, doch wird die Entscheidung durch die schwankende Editionspraxis und die Forschungsdiskussion oft erschwert. Katalogisierer/innen sehen sich häufig mit Titelvarianten und verschiedenen Verfassern für ein und dasselbe Werk konfrontiert.

Antike Texte sind in der Regel als Werksammlungen einzelner Verfasser oder anonym als sachlich geordnete Werksammlungen überliefert. Die Bildung dieser sogenannten Corpora geht auf antike oder mittelalterliche literarische (sekundäre) und/oder handschriftliche Überlieferung zurück. Bei der Zusammenstellung der Werke eines Verfassers zu seinem Werkcorpus sind häufig absichtlich oder aus Unkenntnis Werke mit aufgenommen worden, die nicht von ihm stammen. Diese Werke werden, unabhängig davon, ob der wirkliche Verfasser bekannt ist oder nicht, als die Werke des Verfassers behandelt, in dessen Corpus sie stehen. Diese Praxis wird seit Jahrhunderten bei Gesamtausgaben eines Verfassers geübt. Daneben gab und gibt es immer wieder, verstärkt durch die moderne Forschung und die intensive Diskussion von Lösungsvorschlägen zur Verfasserfrage bei anonymen Werken, Einzeleditionen eines Werkes, die aus dem Corpus des überlieferten Verfassers herausgelöst und anonym oder unter dem Namen eines anderen Verfassers veröffentlicht werden. Da Bibliotheken die Verfasserfrage eines Werkes nicht ständig dem jeweiligen Forschungsstand anpassen können, orientiert sich TITAN bei der Verfasserfrage streng an der Corpusüberlieferung.2) Durch dieses Festhalten an der Tradition ist auch gewährleistet, daß die gesamte ältere Literatur auffindbar bleibt. Von anderen Verfassern, die in Ausgaben eines Werkes angegeben sind, werden in TITAN soweit als möglich Verweisungen eingetragen. Die literarische (sekundäre) und handschriftliche Überlieferung bildet für TITAN die Richtschnur aller Entscheidungen.

Ich möchte an Hand ausgewählter, typischer Beispiele aufzeigen, wie man sich durch genaue Lektüre eines Speziallexikons und streng formale Anwendung des Regelwerkes vor Fehlinterpretationen und damit falschen Ansetzungen bewahren kann.

Ich zitiere jeden Absatz des § 608 der RAK und illustriere ihn durch ein Beispiel:

  1. Beispiel in der normierten Form (die Namen der Verfasser sind nach P(ersonennamen der) AN(tike), die Werktitel nach TITAN angegeben),3)
  2. Erläuterung des wissenschaftlichen Befundes,
  3. Angaben zu Autor und Titel, wie sie einer Vorlage zu entnehmen sind, mit der nach RAK korrekten Angabe von Haupt- und Nebeneintragung, und
  4. zur Illustration der Ausführungen ein Hinweis auf die Eintragung zum Sachverhalt im Lexikon der alten Welt (LAW), einem allgemeinen, in Bibliotheken leicht zugänglichen Nachschlagewerk.
1. Problem: Der wirkliche Verfasser soll gegenüber dem angeblichen Vorrang haben

§ 608,1

Dieser Absatz steht in § 608 an erster Stelle und kann bei der Katalogisierung antiker Werke das Tor zu Fehlinterpretationen und falschen Eintragungen sein.
  1. Wann ist die Verfasserschaft anzuzweifeln? Ein auf der Haupttitelseite genannter Verfasser sollte bei antiken Werken grundsätzlich über ein Nachschlagewerk überprüft werden, denn der Titelfassung ist meist nicht anzusehen, ob ein wirklicher, überlieferter oder angeblicher Verfasser vorliegt.
  2. Manchmal handelt es sich nur nach der Meinung eines oder mehrerer Forscher um den wirklichen Verfasser eines Werkes. Aufgrund der Überlieferung ist im Bereich der Altertumswissenschaft eine Person manchmal nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit als wirklicher Verfasser zu bestimmen. Der Sachverhalt des überlieferten Verfassers liegt deshalb häufiger vor als der des ermittelten wirklichen Verfassers (vgl. unten zu § 608,4). Beisp.: Nepos, Cornelius, De excellentibus ducibus exterarum gentium
"De excellentibus ducibus exterarum gentium" ist der erhaltene Teil von "De ducibus" aus der Biographiensammlung "De viris illustribus" des Cornelius Nepos. Da in der handschriftlichen Überlieferung am Ende der Feldherrenbiographien des Cornelius Nepos ein Widmungsgedicht an Theodosius II. von Aemilius Probus steht, wurde durch Fehlinterpretation der Überlieferung fälschlich Aemilius Probus lange Zeit als Verfasser des Werkes in vielen Textausgaben genannt. Aemilius Probus fehlt im LAW, und unter Cornelius Nepos steht kein Hinweis auf die Problematik. Auch im Kleinen Pauly fehlt Aemilius Probus, jedoch wird, wenn auch unzureichend, unter Cornelius Nepos auf den Sachverhalt hingewiesen: "... Biographienslg. in Sachgruppen ... Diese ... Auswahl ... geht auf den von einem Aemilius Probus hergestellten ... und mit Widmungsgedicht an Kaiser Theodosius versehenen Archetyp zurück." Klarheit über die komplizierte Überlieferung und den wirklichen Verfasser kann hier nur ein ausführlicheres Nachschlagewerk wie Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE) oder das Handbuch der Altertumswissenschaft bringen.

2. Problem: Ein Werk wird wie ein anonymes behandelt, obwohl immer oder gelegentlich Verfasser genannt werden

§ 608,2

Das Werk, meist auf ca. 55-59 datiert, ist unter zahlreichen Titeln bekannt. Es wurde in der Antike anonym überliefert, steht in den Handschriften jedoch unter Vergil oder Lucan und in Textausgaben unter P. Ovidius Naso, T. Calpurnius Siculus, P. Papinius Statius oder Saleius Bassus oder es wird anonym ediert. Die Überlieferung des Werkes, teils anonym, teils unter verschiedenen Verfassern, charakterisiert es als Sachtitelwerk.
Im LAW steht unter Laus Pisonis "... unter Vergils bzw. Lucans Namen überliefert, wurde es ohne Beweiskraft Ovid, Saleius Bassus, Statius und mit größerer Wahrscheinlichkeit Calpurnius Siculus zugeschrieben." Aus der Eintragung im LAW unter dem anonymen Werk und der Aussage des Lexikons zur Überlieferung geht hervor, daß der wirkliche Verfasser nicht zu ermitteln ist.

3. Problem: Ein Werk wird einem Verfasser zugeschrieben, obwohl er sicher nicht dessen Verfasser ist

§ 608,3

Das Werk enthält zwar peripatetisches Gedankengut, ist aber eine Fälschung des 1. Jh. v. Chr. und stammt sicher nicht von Aristoteles (384-322 v. Chr.). Da es aber im Corpus Aristotelicum steht, wird es traditionell Aristoteles zugeschrieben. In Textausgaben wird meistens Aristoteles als Verfasser genannt, nur in seltenen Fällen wird kein Verfasser angegeben. Im LAW steht unter Aristoteles: "... Die Titel der Werke im Corpus Aristotelicum ... 9. Über die Welt, an König Alexander (Fälschung des 1. Jhs. v. Chr. mit Benützung echter Texte)." Der Hinweis auf die Überlieferung des Werkes im Corpus Aristotelicum führt auf Aristoteles als überlieferten Verfasser, unter dem die Haupteintragung erfolgt.

4. Problem: In einer Ausgabe wird ein Verfasser genannt, nach den RAK erhält aber ein anderer die Haupteintragung

§ 608,4

Das Werk steht im Corpus Aristotelicum, ist aber sicher nicht von Aristoteles. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Fälschung aus dem 1. Jh. v. Chr. unter Benutzung älterer Texte, die vielleicht von Anaximenes <Lampsacenus> (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.) stammen, dem es seit der Renaissance häufig zugeschrieben wird. Textausgaben nennen mal Aristoteles, mal Anaximenes als Verfasser oder behandeln es als anonymes Werk. Im LAW steht unter Aristoteles: "... Die Titel der Werke im Corpus Aristotelicum ... 37. Rhetorik an König Alexander (Fälschung wie Nr. 9)..." und unter Anaximenes von Lampsakos "... Seit der Renaissance wird A.[naximenes] vielfach als Verfasser der Rhetorik an Alexander angesehen." Der Hinweis auf die Überlieferung des Werkes im Corpus Aristotelicum führt für die Haupteintragung weg von Anaximenes, dem manchmal angegebenen Verfasser, und hin zu Aristoteles, dem überlieferten Verfasser.

5. Problem: Nicht alle mit dem Werk in Verbindung gebrachten Personen erhalten eine Nebeneintragung

§ 608,5

Von den zahlreichen Personen, die gelegentlich als Verfasser des Werkes geführt werden, erhalten nur die in der jeweiligen Vorlage genannten eine Nebeneintragung. Siehe oben zu § 608,2.

Es hat sich gezeigt, daß man schnell zu einem einheitlichen und auf Dauer befriedigenden Ergebnis kommt, wenn man sich grundsätzlich, wie in § 608 festgelegt ist, an die jahrhundertealte Tradition hält, die meist mit der handschriftlichen Überlieferung übereinstimmt. Tradition darf also keinesfalls als "überwiegende Meinung in der Forschung" o.ä. verstanden werden. Abgesehen davon, daß sich ein einheitliches Kriterium für die Ermittlung der "überwiegenden Meinung" kaum festlegen läßt, sind Forschungsmeinungen häufigen Schwankungen unterworfen. Das wiederum würde dazu führen, daß Bibliotheken nicht nur zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, sondern auch ihre Ergebnisse dem aktuellen Forschungsstand permanent anpassen müßten.

Die Frage, ob ein anonymes oder ein Verfasserwerk vorliegt und welche der mit dem Werk in Verbindung gebrachten Personen als Verfasser gelten, läßt sich mit dieser Anwendungshilfe zu RAK § 608 relativ schnell und sicher entscheiden. Ob sich hinter verschiedenen Titelvarianten aber ein und dasselbe Werk verbirgt, ist ohne Spezialkenntnisse erst leicht und eindeutig zu klären, wenn die mit Spezialkenntnissen erarbeitete neue Normdatei TIT(el der) AN(tike), komplett vorliegt. Bis dahin hoffe ich, wenigstens eine Entscheidungshilfe durch das Labyrinth von RAK § 608 gegeben zu haben.

1) TITAN entsteht als Gemeinschaftsprojekt der DDB Frankfurt und der UB Tübingen mit Unterstützung der DFG. Die Datei wird bis Anfang 1998 die wichtigsten Titel von Werken der Antike in normierter Form enthalten. Der Schwerpunkt liegt gegenwärtig auf den Werken der ca. 200 wichtigsten Verfasser und den bekanntesten Sachtitelwerken. Die ersten Arbeitsergebnisse liegen bereits jetzt in der Schlagwortnormdatei vor.

2) Auf Betreiben von TITAN wurde deshalb auch RSWK § 708,3 für antike Werke spezifiziert: "Bei strittiger Verfasserschaft erfolgt die Eintragung entsprechend der herrschenden Meinung in der Forschung. Im Zweifelsfall wird anonym angesetzt. Werke der Antike werden jedoch nicht anonym angesetzt, wenn sie in der Tradition, die meist mit der handschriftlichen Überlieferung identisch ist, einem bestimmten Autor fälschlich zugeschrieben werden, d.h. in seinem Corpus überliefert sind."

3) Personennamen der Antike : PAN ; Ansetzungs- und Verweisungsformen gemäß den RAK / erarb. von der Bayerischen Staatsbibliothek. [Red. Bearb.: Claudia Fabian und Ute Klier.] - Autorisierte Ausg. - Wiesbaden : Reichert, 1993. - XXVI,613 S. 29 cm. - (Regeln für die alphabetische Katalogisierung ; 7). ISBN 3-88226-599-X. Die aktuelle Fassung von PAN und TITAN befindet sich in der PND (Personennamendatei), bzw. der SWD (Schlagwortnormdatei).