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Bibliotheksdienst Heft 5, 1996

Leitungs- und Kooperationsstile in wissenschaftlichen Bibliotheken: Feldphase abgeschlossen

Gerd Paul

Im Frühjahr 1995 habe ich im Bibliotheksdienst und im "Weitblick" eine kurze Notiz veröffentlicht, in der ich den Beginn einer empirischen Untersuchung zu Leitungs- und Kooperationsstilen ankündigte, die in Berliner wissenschaftlichen Bibliotheken auf der Basis einer schriftlichen und mündlichen Befragung durchgeführt werden sollte.1)

Nach insgesamt fast 11 Monaten konnte im April 1996 schließlich die empirische Feldphase abgeschlossen werden, an der sich der überwiegende Teil der in Frage kommenden wissenschaftlichen Bibliotheken Berlins beteiligt hat: Von 42 angesprochenen Bibliotheken, die die Ausgangskriterien erfüllten - über mindestens fünf und nicht mehr als dreißig ständige Planstellen personeller Grundausstattung zu verfügen - haben 33 Einrichtungen teilgenommen, also etwa 80 % der wissenschaftlichen Bibliotheken dieser Größenordnung in der Stadt insgesamt.

Der Nachweis der Bibliotheken erschloß sich über die jährlich erscheinende Deutsche Bibliotheksstatistik, das Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken und das Verzeichnis der Bibliotheken in Berlin und Brandenburg. Auf diese Weise erhielt ich Zugang zu den wichtigsten Informationen: Namen, Adressen, Telekommunikationsverbindungen und Größe der angesprochenen Einrichtungen. In der Phase der Kontaktaufnahme erwies sich, daß ein erheblicher Teil der Angaben unpräzis oder schon veraltet war. Die Telefonverbindungen stimmten häufig nicht, ebensowenig die Größenangaben. Außerdem war, zu meiner Überraschung, sehr viel mehr "Bewegung" in der Bibliotheksszene, als ich zu Beginn der Recherche vermutet hatte. Insgesamt mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß durch Umsetzungen oder Zusammenlegungen, Stellenstreichungen oder Auflösungen, aber auch durch Neugründungen und Erweiterungen Veränderungen zu verzeichnen waren, die in den zur Verfügung stehenden Registern noch nicht ihren Niederschlag gefunden hatten.2) Schriftlich, telefonisch und persönlich habe ich schließlich 46 Bibliotheksleiter und -leiterinnen kontaktiert. Nach Austausch erster Informationen und Verifizierung der Eingangsvoraussetzungen blieben dann die oben genannten 42 Bibliotheken als Ausgangsuntersuchungsfeld übrig, und zwar 15 Institutsbibliotheken im Bereich der Freien Universität Berlin, von denen 10 an der Untersuchung teilnahmen3) und 27 Bibliotheken im übrigen Gebiet Berlins, von denen 23 bereit waren, an der Untersuchung mitzuwirken.

Über den ersten Kontakt zu den Leitern und Leiterinnen der Bibliotheken dann auch eine Zusage zur Teilnahme an der Erhebung zu erhalten, erwies sich als nicht immer ganz einfach. Gelegentlich waren mehrere, auch persönlich ausführliche Gespräche erforderlich; verschiedentlich mußten übergeordnete Instanzen in diese Entscheidung eingebunden werden. Das nahm in den meisten Fällen relativ wenig Zeit in Anspruch: Bei den größeren Einrichtungen jedoch, zum Beispiel im Bereich der Berliner Universitäten, beanspruchte der Entscheidungsprozeß bis zur Zusage des Feldzugangs 9 Monate. Eine einzelne Bibliothek beantwortete meine Anfrage schließlich nach 11 Monaten positiv.

Die untersuchten Bibliotheken sind an den verschiedensten Einrichtungen des Bundes und des Landes angesiedelt, darunter die Bibliotheken der Fachhochschulen sowie Institutsbibliotheken aller Berliner Hochschulen, Bibliotheken an großen Verwaltungseinrichtungen und aus dem kulturellen Bereich, sowie an wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. Bedauerlicherweise waren mir Bibliotheken im privatwirtschaftlichen Bereich nicht zugänglich. Schließlich habe ich von den Leitern und Leiterinnen der verbliebenen 42 Bibliotheken 33 Zusagen zu einem Interview und zur Durchführung der schriftlichen Erhebung innerhalb der Belegschaft ihrer Einrichtung erhalten. Insgesamt 7 Leiter und Leiterinnen haben an der Untersuchung nicht teilnehmen wollen, bei zwei weiteren mißlang die Kontaktaufnahme.4)

Die persönlichen Interviews mit den Leitern der Bibliotheken wurden von einem Aufnahmegerät aufgezeichnet und später verschriftet. Die durchschnittliche Interview-Dauer betrug etwa eineinhalb bis zwei Stunden; allerdings gab es auch kürzere, insbesondere zum Ende der Feldphase. In einem Fall allerdings belief sich das Interview und der dabei sich entwickelnde Dialog auf mehr als fünf Stunden. Während zu Anfang der Untersuchungsphase häufig spontane Äußerungen und im Einzelfall auch Irritationen auf die einzelnen Fragen des Erhebungsbogens zum Ausdruck gebracht wurden oder erkennbar waren, bzw. häufiger auch Verständnisfragen geäußert wurden, ließ das zum Ende der Feldphase am Jahresende '95 und Anfang '96 spürbar nach. Es ist nicht auszuschließen, daß der Fragebogen nach einer so langen Feldphase in der Bibliotheksszene bekannt war. Das habe ich von Anbeginn in Kauf genommen, auch wenn damit gewisse Überraschungseffekte in den Interviews und eine gewisse Spannung verloren gehen würde. Bei dem von mir gewählten empirischen Vorgehen ist die Gegenüberstellung der Antworten beider Bezugsgruppen - der Chefs und Chefinnen auf der einen Seite und der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf der anderen Seite - die entscheidende Quelle zur Interpretation und Bewertung von Selbst- und Fremdwahrnehmungsvorgängen im täglichen Arbeitsgeschehen.

Ob Antworten zu einzelnen Fragen im Vorlauf der Interviewbegegnung gedanklich vorformuliert waren oder eher spontan gegeben wurden, spielt für die empirische Auswertung nur eine sehr geringe Rolle. Viel wichtiger war, daß die für die jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorgesehenen Fragebögen auch direkt an die Adressaten weitergeleitet wurden. Schließlich bedarf es erheblichen Vertrauens, nicht nur in den Interviewer als Person und die Einhaltung der Datenschutznormen, sondern auch in den Sinn und Zweck dieser Untersuchung, sich der Bewertung des persönlichen Leitungsverhaltens durch die eigenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu unterziehen. Die hohe Kooperation der angesprochenen Kollegen und Kolleginnen dokumentiert ihr Vertrauen in dieses Vorgehen einerseits und zugleich auch ihr Interesse an empirischem Erkenntnisfortschritt in diesem Sektor des Arbeitslebens. In sehr vielen Gesprächen wurde dies auch explizit zum Ausdruck gebracht. Am Ende eines jeden Interviews stand die persönlich von mir vorgenommene Adressierung der Umschläge an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit den inhaltlich gleichlautenden Fragebögen.5) Meine Erwartung ging davon aus, daß die Verteilung wie gewünscht erfolgte. Das war in ganz überwiegendem Maße der Fall. Sicher konnte ich allerdings nur dort sein, wo ich die Namen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf dem Umschlag eintragen und notieren konnte, um sie in einem Erinnerungsbrief einige Wochen nach der Zustellung des Fragebogens erneut anschreiben zu können.6) Bei einer Rücklaufquote der Fragebögen von durchschnittlich 60 %, von denen wiederum mehr als 50 % der Befragten auf den beigefügten Postkarten unter Angabe ihrer persönlichen Adresse ihr Interesse am Ergebnisbericht dieser Untersuchung zum Ausdruck brachten, ist davon auszugehen, daß manipulative Beantwortungen äußerst gering, wenn nicht nahezu ausgeschlossen sind. Weitere Korrelationen in der jetzt beginnenden Auswertungsphase werden am Rande diesen Aspekt prüfen. Viel interessanter sind inhaltliche Gesichtspunkte.

Erstaunt war ich, daß der ganz überwiegende Anteil der im Rahmen der schriftlichen Erhebung von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen an mich zurückgesandten Fragebögen klar und fast unkommentiert ausgefüllt worden war. Die meisten Fragen schienen auf nachvollziehbare Erfahrungsdimensionen zu stoßen, relativ leicht mit einem Kreuz anhand der vorgegebenen Variablen beantwortbar zu sein und wenig Verunsicherung zu provozieren. Die wenigen zusätzlichen schriftlichen Äußerungen und Kommentare der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf den Fragebögen habe ich erfaßt und werde sie in einem gesonderten Verfahren berücksichtigen und eventuell zur Interpretation bestimmter Sachverhalte heranziehen. Das gilt auch für jene beiden Fälle, bei denen der durchgängige Eindruck entstand, daß die Befragung Anlaß war, dem Wunsch nach Manifestierung eigener persönlicher Humorvorstellungen Ausdruck zu geben.

In der nun folgenden Auswertungsphase werden alle Fragebögen in vercodeter Form auf elektronische Datenträger übertragen und mit einem Datenbanksystem zur statistischen Berechnung von Umfragedaten bearbeitet.7) Eine Gesamtmenge von ungefähr 30.000 Einzeldaten wird einer Vielzahl von Häufigkeitsberechnungen, statistischen Korrelationen und Gewichtungen unterzogen werden. Diese technische Hilfestellung verkürzt die Berechnungszeiten erheblich und erhöht die Möglichkeiten der Hypothesenbildungen. Der Zeitaufwand für eine sozialwissenschaftlich gründliche inhaltliche Interpretation der Ergebnisse und deren ausführliche Darstellung ist im Moment jedoch nicht exakt abschätzbar. Dem mir gegenüber häufig geäußerten Wunsch nach zügiger Veröffentlichung der Ergebnisse dieses Projektes aus der Sicht eines möglichen Anwendungsinteresses möchte ich ebenso Rechnung zu tragen versuchen, wie ich es für unerläßlich halte, Ausführungen und Aussagen im Rahmen der Ergebnisinterpretation an den Standards empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung zu orientieren. Allen Interessierten am Verlauf dieser Arbeit biete ich die Möglichkeit an, sich direkt mit mir in Verbindung zu setzen (s. "Autoren").

Das breite Interesse an diesem Thema und seinen Fragestellungen ist durch die hohe Rücklaufquote dokumentiert. Darum möchte ich vor allem denjenigen, die aktiv an dieser Erhebung mitgewirkt und ihre Zeit dafür zur Verfügung gestellt haben, an dieser Stelle für Ihre Kooperation danken. Ich hoffe, daß die Ergebnisse dieser Untersuchung eine empirische Lücke schließen helfen und vor allem Anlaß für angeregte Diskussionen bieten werden.

1) s. Bibliotheksdienst 29 (1995) 4/5, S. 772

2) Ein Teil dieser Veränderungen ist auf Entscheidungen zurückzuführen, die im Zusammenhang mit den historischen Prozessen der jüngsten Zeit zu sehen sind.

3) Bibliotheken mit einem überproportional hohen Anteil studentischer Mitarbeiter - wie in der FU durchaus nicht ungewöhnlich - habe ich von der Untersuchung ausgenommen, da sie die Vergleichsgrundlage mit den anderen Bibliotheken zu verzerren drohten.

4) Die Leiter und Leiterinnen der Bibliotheken erhielten ein Anschreiben von mir, dann erfolgten telefonische Rückrufe. Wenn an fünf verschiedenen Tagen, bei durchschnittlich zwei Versuchen pro Tag, kein Kontakt erfolgte, habe ich weitere Versuche unterlassen.

5) Nur in einem Fall wurde mir nach dem Interview die Verteilung der in einem verschlossenen Umschlag befindlichen Fragebögen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verwehrt. Diese Bibliothek mußte aus der Erhebung herausgenommen werden, auch wenn die Äußerungen des Chefs zur Illustrierung einiger Probleme beitragen werden. In einem zweiten Fall wurde mir mit dem Argument datenschutzrechtlicher Bedenken die persönliche Beschriftung der Fragebögen verweigert, es gab jedoch keinen zwingenden Grund anzunehmen, daß die Verteilung nicht korrekt erfolgen würde.

6) Das Mahnschreiben mußte routinemäßig nach Ablauf der ersten Beantwortungsfrist allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der jeweiligen Bibliotheken zugesandt werden, da ich nicht wissen konnte, wer von den Angesprochenen bereits geantwortet hatte.

7) SPSS = Statistical Package for the Social Sciences


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