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Bibliotheksdienst Heft 4, 1996

Georgien, ein vergessenes Land ?

Ingo Kolasa

Kürzlich laß ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Artikel über den Tourismus in Georgien. Der Bericht der Zeitung kam zu dem Schluß: "Keiner reist mehr nach Georgien, und doch hat das Land die Hoffnung nicht verloren."

Im Januar diesen Jahres weilte ich zu einem Arbeitsaufenthalt in Tbilissi, der Hauptstadt der Georgischen Republik. Das Land hat nach dem Auseinanderfallen der ehemaligen UdSSR große Probleme. Zwar hat Georgien nach vielen Jahren die Unabhängigkeit und die volle staatliche Souveränität wiedererlangt, jedoch ist es wirtschaftlich kurz vor dem Ende. Innerhalb der ehemaligen Sowjetunion war Georgien vorrangig eine Agrarregion, verfügte nur über wenig Industrie. Was die Energieversorgung anbelangt, war Georgien, wie im übrigen auch andere Sowjetrepubliken, von Rußland abhängig. Neben den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die nach der Erlangung der staatlichen Souveränität auftraten, war das Land auch in einen Bürgerkrieg verwickelt, der die ohnehin problematische Gesamtsituation noch mehr verschärfte. Die Folgen der beiden Entwicklungen haben das Land an den Rand des Ruins gebracht.

Dem Besucher präsentiert sich Tbilissi als eine Stadt, der man zwar immer noch ansieht, daß sie einstmals den Ruf hatte, eine der schönsten in der ehemaligen Sowjetunion zu sein, aber die Wunden des Bürgerkriegs sind unübersehbar. Besonders in der Nähe des Präsidentenpalastes stehen viele zerstörte und zerschossene Gebäude. Strom gibt es meist nur 2 bis 3 Stunden am Vormittag und am Abend. Die Heizung in der gesamten Stadt ist unterbrochen. Die Winter sind in Georgien zwar milder, aber es herrschten immerhin Temperaturen um 0 Grad. Auch die Betriebe haben nur stundenweise Strom. Das hat zur Folge, daß die gesamte Industrie faktisch lahm liegt. Die Einwohner Georgiens versuchen sich mit privatem Handel über Wasser zu halten. Es gibt genug zu kaufen, nur kann sich kaum ein Georgier mehr als das allernötigste leisten.

Vor dem Hintergrund dieser Gesamtsituation besuchte ich mehrere Tage die Zentralbibliothek der Akademie der Wissenschaften in Tbilissi. Die Bibliothek ist nur 3 Stunden am Tag, von 10.00 Uhr bis 13.00 Uhr, geöffnet. Mehr könne man den Mitarbeitern ohne Heizung nicht zumuten, erklärte mir der Direktor der Bibliothek, Herr Gurgenidse. Geöffnet sind ohnehin nur die kleineren Speziallesesäle, denn für die Wiederherstellung des großen zentralen Lesesaals mit mehr als 200 Plätzen fehlt es an Geld. In diesem Lesesaal sind durch Erdbebeneinwirkung alle Scheiben herausgefallen. Die Öffnungen sind nur notdürftig gegen die Unbilden des Wetters geschützt, so daß der Lesesaal, der zur Zeit als Lagerfläche für Bücher dient, immer mehr Schaden nimmt. Der Bibliothek fehlen sogar die Mittel für die Wiederherstellung der Fenster des Saales. Es ist bewundernswert, mit welcher Gelassenheit die Bibliothekare weiterhin notdürftig die Leser bedienen. Man bedenke, daß neben der Kälte auch meist der Strom fehlt und somit das Licht in den Magazinen nicht brennt und auch die Aufzüge nicht funktionieren. Alles wird mit Lampen, per Hand herbeigeschafft. Ein Bibliothekar verdient etwa 6 bis 8 Lari (1 US $ = 1,2 Lari), ein Brot kostet etwa 20 Tetri (1 Lari = 100 Tetri). Diese Zahlen bedürfen wohl keiner weiteren Erläuterung. In einem Gespräch schilderte mir Herr Gurgenidse die Schwierigkeiten des Landes und vor allem seiner Bibliothek. Diese Erfahrungen haben mich bewogen, diesen kleinen Beitrag zu schreiben. Die Bibliothek, die früher hunderte von Tauschpartnern im Ausland hatte, kann zur Zeit keine Tauschobjekte versenden, nicht etwa weil keine geeigneten Publikationen vorhanden sind, sondern weil das Geld für den Versand fehlt. Herr Gurgenidse erläuterte mir, daß er eingehende Tauschsendungen oder Geschenke nicht einmal durch ein Schreiben bestätigen könne, weil das Porto für die Briefe fehlt. Er hat mich gebeten, falls sich eine Möglichkeit ergeben sollte, diese Situation in Deutschland und besonders den Tauschpartnern der Bibliothek bekannt zu machen. Die Bibliothek bittet darum, auch die Tauschsendungen möglichst nicht einzustellen, sie versichert, bei einer Besserung der Gesamtsituation die Tauschbilanz wieder auszugleichen. Die Bibliothek ist für jegliche Hilfe aus dem Ausland dankbar. Es fehlt buchstäblich an allem, von Schreibmaschinenpapier über jegliches Schreibgerät bis hin zu Büchern und Zeitschriften. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Land Georgien und natürlich auch die Bibliotheken sich ohne ausländische Hilfe nicht erholen werden. Was Arbeits- und Lebensbedingungen anbelangt, bin ich bereits einiges aus Besuchen in Bibliotheken der Russischen Föderation gewohnt, doch was ich in Georgien vorgefunden habe, übertraf alles bisher Erlebte. Die deutsche Kultur und die deutsche Sprache haben schon früher in Georgien eine besondere Rolle gespielt, und viele Georgier hoffen, an diese Traditionen anknüpfen zu können. Dies wurde besonders deutlich, als der Außenminister, Herr Kinkel, vor den Vetretern des Georgischen Parlaments anläßlich seines Besuches Ende Januar 1996 auftrat.

Ich hoffe, mit diesem Beitrag die Probleme Georgiens etwas in das Bewußtsein der Bibliothekare zu rufen. Vielleicht sieht sich ja die eine oder andere Bibliothek, oder der eine oder andere Verlag in der Lage, den Bibliotheken in Georgien zu helfen. Die Georgier sind von jeher ein sehr stolzes Volk gewesen, ein Hilferuf entspricht nicht ihrer Mentalität. Dieser Beitrag sollte aber als ein solcher aufgefaßt werden.

Kontaktadresse:
Zentrale Wissenschaftliche Bibliothek der
Akademie der Wissenschaften der Georgischen Republik
Herr N. A. Gurgenidse
380093 Tbilissi
Soi Richadse 1


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