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noch ganz übersichtlich. Da werden Notizbücher vollge-
schrieben, Blätter mit Text gefüllt, weggeworfen und neu ge-
schrieben. Daraus entstehen dann die Romane und Erzählun-
gen, die Theaterstücke und Essays, die wir, kaum sind sie als
schön ausgestattetes Buch in einem anständigen Verlag erschie-
nen, lesen dürfen. Dann hat das routinierte und seit Jahrhun-
derten verlässliche Zusammenspiel von Autor, ersten Lesern,
Lektorat, Verlag und Buchhändler einmal mehr funktioniert.
Ganz so glatt läuft es
aber oft nicht und
ich muss bei solchen
Gesprächen unweiger-
lich an Kafka denken.
Bekannt ist, dass „Der
Proceß“ nie abgeschlos-
sen oder gar von sei-
nem Autor zum Druck
befördert wurde; Kafka
hat keinen seiner Ro-
mane vollendet. We-
niger bekannt ist, wie
das Manuskript dieses
berühmten Werks ent-
standen ist, wie genau
der Autor vor hun-
dert Jahren (genauer
gesagt am Dienstag,
dem 11. August 1914)
begann, 161 Blätter
vollzuschreiben, verteilt
in zehn Quartheften,
wie er versuchte, oft
an mehreren Kapiteln
zugleich in verschiede-
nen Heften arbeitend,
die Teile und Kapitel
zu bündeln, und wie
er das Projekt schließ-
lich doch aufgab; aus
Gründen, über die wir
nur mutmaßen kön-
nen. Hier hat die Phi-
lologie in den letzten
Jahren viel herausarbei-
ten können: das Manuskript selbst ist der einzige verlässliche
Zeuge für den Entstehungsprozess. Und es verrät eine ganze
Menge. Dankbar müssen wir Max Brod dafür sein, dass er der
Bitte seines Freundes, er möge alle Manuskripte verbrennen,
nicht nachgekommen ist. Nur dadurch wurden sie gerettet
und können heute Zeugnis ablegen über die Entstehung eines
der wichtigsten Werke der Moderne. Brod wurde dafür häufg
auch getadelt, schließlich habe er den letzten Willen seines
Freundes nicht respektiert. Und es muss etwas Geheimnisvol-
les an diesen Manuskripten sein, dass man den letzten Willen
Max Brods und auch seiner Mitarbeiterin nun ebenfalls nicht
respektiert und seit einigen Jahren versucht, diesen Nachlass
für den Staat zu reklamieren.
Manchmal ist die Lage eben kompliziert; Kafka war wohl
überzeugt, seine Texte taugten (noch) nicht für eine Publikati-
on; er war unsicher. Der Freund Max Brod hat nachgeholfen.
Und erinnert mich so an jenen Zöllner in Brechts bekann-
ter „Legende von der
Entstehung des Buchs
Taoteking auf dem
Weg des Laotse in die
Emigration“. In seinem
Gedicht erzählt Brecht
die Geschichte des
Lehrers, der, weil die
Lage um ihn herum
nicht mehr gut erträg-
lich schien, auf seine
alten Tage beschließt,
das Land zu verlassen.
Er nimmt wenig mit,
„nur was er so brauch-
te“, vor allem die Pfeife
und ein Buch, in dem
er gerne las. Und so
wäre der bescheidene
Lehrer für den Zöllner,
der ihn an der Gren-
ze routiniert befragte,
kein guter Kunde ge-
wesen, hätte der sich
nicht interessiert für
das, was der Lehrer
im Laufe seines lan-
gen Lebens herausge-
kriegt hatte. Und der
Junge, der den Ochsen
des Lehrers führte, er-
läuterte dem Zöllner
in knappen Worten
das Resultat der Arbeit
des Lehrers: „Daß das
weiche Wasser in Be-
wegung / Mit der Zeit
den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte un-
terliegt.“ Ochse, Junge und Alter waren schon um die Ecke,
da dämmerte dem Zöllner erst die Bedeutung der Worte.
Und er rief die drei energisch zurück; denn: „Wer wen be-
siegt, das interessiert auch mich“. – Viel ließe sich sagen über
Brechts listige Verschränkung der Philosophie des Laotse
und des Taoismus mit der Leninschen Theorie des Klassen-
kampfs: „Wer – wen?“ Aber das führte uns zu weit weg von
dem, worum es hier geht: es war der neugierige Zöllner, der
dem alten Lehrer und dem Jungen, der ihn begleitet, Obdach
gewährt, um nach sieben Tagen 81 Sprüche der Weisheit, das
Buch „Taoteking“, zu erhalten. – Und das Gedicht endet mit
der überraschenden wie klugen Erkenntnis:
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.
Literarische Produkte, umfangreiche Bücher zumal (gleich wel-
cher Gattung) sind höchst selten Geniestreiche. Sie sind viel-
mehr das Ergebnis harter und langer Arbeit; und die braucht
Durchhaltevermögen und gerne Anregungen und (positive)
Impulse von außen. Brechts Gedicht ist ein schönes Gleichnis
für das Verhältnis von Produktion und Rezeption, von Arbeit
am Text und dem treibenden Interesse an dieser Arbeit: der
anschließenden Lektüre. Kafka und Laotse genügten sich wohl
selbst mit ihren Texten und Gedanken. Allein, es bedurfte der
Anregung oder der handgreif-
lichen Einfussnahme, sie in
die Welt zu bringen. Am An-
fang mag als wichtiges Mo-
tiv des Schreibens das ganz
persönliche Interesse stehen,
„etwas zu verstehen, etwas zu
erkennen. Man möchte zum
Beispiel eine Sache beschrei-
ben und stellt fest, dass man
nicht genug weiß über den
Gegenstand. Man muss ihn
also schreibend erfassen!“
(H. J. Schädlich) Aber, so
möchte man einwenden,
wenn es nicht allein um Sa-
chen, wenn es um das spannende Verhältnis von Menschen
geht, dann wünscht man dem Autor zur Bewältigung seiner
Arbeit unbedingt die Gabe der „Selbstversetzung“ (Siegfried
Lenz). Sie bedeutet „von sich abzusehen und die Identität in
der Vorstellung zu wechseln. Dies sollte mit einer Unbedingt-
heit geschehen, die den Schriftsteller wirklich verpfichtet, sich
völlig aus dem Spiel zu nehmen. Dabei kommt er natürlich
in eine doppelte Rolle. Man muss über den anderen Bescheid
wissen und gleichzeitig über seine eigenen Gefühle, die den
anderen betrefen. Man muss in jedem Augenblick des Schrei-
bens wissen, wie dieser andere zum Vorschein gebracht wird.“
Zum Vorschein gebracht, um vom Leser, den Siegfried Lenz
antizipiert, deutlich „gesehen“ werden zu können beim Lesen!
Katja Lange-Müller beschreibt es so: „Ich möchte es schaf-
fen, die Leute in meinen Mikrokosmos hineinzuziehen, damit
sie mit meinen Figuren ein Stück gehen.“ – „The proof of
the pudding is in the eating.“ Dieser in seiner Schlichtheit
so wahre wie komplexe Satz (im Englischen tradiert, geht er
vermutlich auf Cervantes zurück) beschreibt den Knackpunkt
des Schreibens: Hält der Text der Überprüfung stand? Taugt
der Text und bringt er etwas zum Vorschein, das über den Tag
und die Stunde hinaus wirksam bleiben kann? – Ein neuer
Text kommt in die Welt, mit dem Füller oder dem Bleistift
oder dem Computer, sitzend am Tisch, beim Gehen oder
am Stehpult verfasst; ein Wunder aus den immer gleichen 30
Buchstaben. Für den Autor zählt am Ende das Ergebnis. Alles
andere, vor allem die Entbehrungen beim Ringen um den Ge-
danken, gerät für den Moment in Vergessenheit. – Kafka selbst
hat sich nicht zur Veröfentlichung seiner Arbeit durchringen
können; Laotse hätte seine Wahrheit wohl mitgenommen über
die Grenze, wäre sie ihm nicht abverlangt worden.
Lenz und Grass, den beiden Großen mit den knisternden Pfei-
fen in den Händen im schönen Haus am Kanal, hat es an
Wirkung nie gefehlt. Sie hatten beide das Glück, nicht nur
kräftig aufzuschlagen, sondern auch durchzuhalten. Und sie
wurden belohnt durch eine große Leserschaft; und vielleicht
wurde deshalb an diesem Tag nicht so sehr über die unvermeid-
lichen Selbstzweifel gesprochen. Sondern über schöne Bücher,
über das Schreiben, über die
Reisen, die ein über die Gren-
zen seines Landes hinaus be-
kannter und übersetzter Au-
tor im Laufe der Jahrzehnte
unternehmen durfte. Immer
mit dem neuesten Buch, bald
aber schon mit einem ganzen
Werk im Gepäck.
Schreiben, daran gibt es kei-
nen Zweifel, ist eine aufregen-
de, eine ungemein reizvolle
– und zunächst einmal ein-
same Tätigkeit. In dem Mo-
ment aber, in dem der Au-
tor seine erste Leserin oder seinen ersten Leser fragt: „Kannst
Du es sehen?“, ein strahlendes „Ja!“ erntet und ein Text den
Schreibtisch verlässt, da beginnt eine Komplizenschaft im
Dienste des Werks. Diese verschworene wie verlässliche Ge-
meinschaft aus Lektoren, Verlegern, Buchhändlern, Kritikern
und Übersetzern, bald aus Bibliothekaren und später aus Ar-
chivaren trägt das Werk eines Autors sicher auf ihren Schultern
wie Atlas das Himmelsgewölbe. Dafür seien sie alle herzlich
bedankt wie der Zöllner in Brechts Gedicht.
GÜNTER BERG. Der Verlagsmanager studierte in Marburg (Li-
teraturwissenschaft, Politik, Philosophie), danach arbeitete er an
verschiedenen deutschen Universitäten. 1990 kam er als Lektor zu
Suhrkamp nach Frankfurt, 2003 verließ er das Frankfurter Haus als
verlegerischer Geschäftsführer. In dieser Position leitete er fortan neun Jahre lang
den Hamburger Traditionsverlag Hoffmann und Campe. Berg gilt als engagierter
Verfechter selbstbewussten Verlegens und Kämpfer für die Zukunft des (gedruck-
ten) Buchs.
Aber rühmen wir nicht nur
den Weisen, dessen Name
auf dem Buche prangt!
Denn man muß dem
Weisen seine Weisheit
erst entreißen.