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DIE WAHRHEIT GEHT
ÜBER DIE GRENZE
Ein Lob für die Zöllner und alle die, denen Autoren ihre Lust am
Schreiben, denen sie ihre Bücher und ihren Erfolg verdanken. Über
die Komplizenschaft einer verschworenen Gemeinschaft im Dienste der
Literatur. Ein Essay von Günter Berg.
Illustration
NIKITA PIAUTSOU-REHFELDT
Neulich besuchte ich mit meinem Freund Siegfried Lenz
dessen Kollegen und Weggefährten Günter Grass. Wenn zwei
derart erfahrene und miteinander vertraute Dichter zusam-
menkommen, dann muss Bilanz gezogen werden, dann geht
es auch um die Vergangenheit, um das gemeinsam Erlebte,
es geht um Errungenes, um schöne Erlebnisse, Erfolge und
auch um Fehler und schmerzliche Niederlagen. Auf dem Tisch
lag eine gerade erschienene Neuausgabe der „Hundejahre“,
jener wichtigen Ergänzung der „Blechtrommel“, die der
Verlag in einer vom Autor selbst überaus reich illustrierten
Sonderausgabe herausgebracht hatte. Es war eine Weile ganz
still im Haus am Kanal, nur die Pfeifen der beiden Dichter
knisterten leise. Stumm aufgefordert durch den Freund hat-
te Lenz die drei in rotes Leinen gebundenen Bände mühe-
los aus dem Schuber gleiten lassen und begann behutsam
zu blättern. Er entdeckte sogleich die Widmung, studierte
sie langsam, dankte dem Freund mit einem einverständigen
Blick und blätterte weiter, wenige Minuten des Eingeden-
kens, wie sie nur entstehen können, wenn zwei Wissende
beieinander sind und das Ergebnis ihrer kaum beschreibba-
ren Arbeit betrachten.
Wenn solche Autoren beieinander sitzen, rückblickend auf
je über 60 Jahre andauernder Arbeit am Text, auf Dutzende
von Romanen, Theaterstücken, auf dichte Lyrik und eingrei-
fende Essays, dann stellt sich unweigerlich die Frage, was
mit all der Arbeit werden soll, was geschehen soll mit den
Notizen, den Manuskripten, den Fahnen und Fassungen,
den Erstausgaben und den zahllosen Übersetzungen in viele
Sprachen. Fleißige und umsichtige Autorinnen und Autoren
vermögen ihr eigenes Archiv zu pfegen, selbst oder mithilfe
von dienstbaren Geistern, doch können alle ein Lied davon
singen, dass genau das Manuskript, genau die Aufage ei-
nes bestimmten Buchs immer dann nicht da ist, wenn man
sie sucht. Alle Autorinnen und Autoren wissen, wie gerne
sie den Freunden, dem interessierten Journalisten die ers-
ten Exemplare der gerade erschienen Bücher schenken; Stolz
über das Erreichte mischt sich da mit Dankbarkeit für die
Begleitung beim Entstehen des Werks oder mit der bangen
Vorfreude auf die Reaktion nach der Lektüre. Und dann sind
diese Exemplare weg, die Arbeit am nächsten Buch besetzt
den Schreibtisch, der Autor selbst blickt nach vorn; mag
sich um das Abgeschlossene kümmern wer will.
Was aber wird geschehen mit all dem, was einmal „das Werk“
eines Dichters ausmachen wird? Bei den Autorinnen und
Autoren, die mit einem gespitzten Bleistift oder einem schö-
nen Füllfederhalter arbeiten und ihre Manuskripte mit einem
Bindfaden schnüren (bei Siegfried Lenz, Günter Grass, Mar-
tin Walser oder Peter Handke etwa), ist das vermeintlich
g