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Nein, noch nicht. Ein Gesetz kann einen Sammelauftrag
nicht en détail regeln und wir haben deshalb drei Ebenen der
Auftragsbeschreibung: Da gibt es zunächst das auf einem ho-
hen Abstraktionsniveau formulierte Gesetz. Darunter kommt
eine Pfichtablieferungsverordnung, die schon etwas konkreter
wird. Und auf der dritten Stufe folgen unsere Sammelrichtli-
nien, die aus den gesetzlichen Vorgaben abgeleitet sind. Diese
Sammelrichtlinien sind über die Jahrzehnte gewachsen – für
gedruckte Werke, Tonträger, Mikroflmträger usw. Immer wie-
der wurden sie neuen Entwicklungen angepasst und sind auf
diese Weise sehr konkret geworden.
Sind diese Regeln auch für digitale Medien schon
brauchbar?
Für die digitalen Medien sind sie derzeit noch wesentlich
weniger detailliert als für die gedruckten Medien. Aber die
Diferenziertheit, die wir benötigen, beginnt gerade zu entste-
hen. Ende vergangenen Jahres haben wir zum Beispiel einen
Experten-Workshop gemacht zu dynamischen Publikationen
wie etwa aktuellen Nachrichtenseiten, Blogs, Tageszeitungen
im Internet bis hin zu Websites von Unternehmen und Institu-
tionen: Ein Snapshot von heute hat gegenüber dem Bild von
morgen viele Unterschiede.
Welche Fragen sind da zu klären?
Zum Beispiel, in welchen Abständen wir Snapshots machen
sollten. Wir hatten neben Medienschafenden auch Wissen-
schaftler und Blogger eingeladen, um sie nach ihren Anforde-
rungen zu fragen. Wir wollten wissen, ob sie das Sammeln und
Archivieren ihrer Veröfentlichungen begrüßen oder es ihnen
wichtig ist.
Gibt es Blogger, die es schlecht fänden, wenn ihre Veröf-
fentlichungen langfristig haltbar gemacht würden?
Da kommt man schnell zu Fragen der Privatsphäre und der
Öfentlichkeit im Netz. Wie ist mit einer aktiven Depublikati-
on durch Blogger, etwa weil sie nach einiger Zeit ihre Aufas-
sungen weiterentwickelt haben, umzugehen?
Aber das hängt doch nicht von Ihren Sammelrichtlinien
ab …
Es gibt sicherlich verschiedene Kanäle, auf denen mehr oder
weniger systematisch etwas gesammelt wird. Aber ich weiß
nicht, ob wir heute davon ausgehen können, dass Blogs nach
zehn oder 15 Jahren noch da sind; ich halte das eher für un-
wahrscheinlich. Jedenfalls ist die Frage nach einem Recht auf
Löschen eine Diskussion, die in Europa unter dem Stichwort
„Privacy“ läuft. Die Hürde, sich in einer Publikation öfent-
lich mitzuteilen, war in der gedruckten Welt eine viel höhere
als in der digitalen. Deshalb haben wir zu überprüfen, ob das
Kriterium „Was einmal veröfentlicht wurde, ist und bleibt in
unserer Sammlung“ in dieser sehr klaren Form auch für digita-
le Veröfentlichungen bedingungslos gelten kann. Das ist eine
gesellschaftliche Debatte, die sich dann natürlich auf unsere
Sammeltätigkeit und Archivierungsrichtlinien auswirkt.
Werden Sie bei der Frage, wie mit dem Internet umzu-
gehen ist, nicht von der schieren Menge und der Vielfalt
da draußen überfordert?
Spätestens seitdem die Library of Congress das Twitter-Archiv
bekommen hat, stellte sich auch für andere Bibliotheken die
Frage, ob Tweets gesammelt werden sollten. Mein Ansatz
ist, weiterhin zu unterscheiden zwischen einer prinzipiell ge-
schützten Privatkommunikation – vergleichbar etwa dem Tele-
fonieren – und einer für eine breitere Öfentlichkeit gedachten
Kommunikation.
Wie wird die Deutsche Nationalbibliothek in 20 Jahren
aussehen?
Die Deutsche Nationalbibliothek wird stärker noch als bisher
Teil eines nationalen und internationalen Netzwerks von Part-
nereinrichtungen sein. Dessen Metadaten, Dienstleistungen
und nicht zuletzt seine großen Bestände werden jedermann
überall und jederzeit zur Verfügung stehen. Diese Bestände
sind leicht zu fnden, zu klar defnierten Konditionen zu nut-
zen, die Suche erfolgt vielsprachig. Die Dienste sind verlässlich
und am Bedarf der Nutzerinnen und Nutzer orientiert.
Welche Projekte für die DNB stehen bei Ihnen für die
nächsten Jahre auf dem Plan?
In naher Zukunft gilt es, das Gesetz über verwaiste und ver-
grifene Werke umzusetzen. Dazu entwickeln wir ein Konzept,
eine klare Digitalisierungsstrategie für die Erscheinungsjahre bis
1966, ausgerichtet an dem, was von Nutzerinnen und Nut-
zern nachgefragt wird. Wir werden Anträge für Projektmittel an
Drittmittelgeber stellen. Das Ziel ist, einen Großteil aus diesem
„Schwarzen Loch“ des 20. Jahrhunderts ans Licht zu bringen.
Und mittelfristig?
Es gibt nach wie vor Unsicherheiten in der Urheberrechts-
gesetzgebung. Was uns bedrückt, das formulieren wir immer
wieder, sei es auf EU-Ebene, sei es in unseren Gremien, gegen-
über der Kulturstaatsministerin oder dem Justizministerium.
Überall stoßen wir auf großes Verständnis für unser Anliegen,
Klarheit für diese Bereiche zu erhalten.
Welche Unsicherheiten bedrücken Sie besonders?
Zum einen das Text- und Data-Mining zu wissenschaftlichen
Zwecken. Es fehlt eine Defnition, was erlaubt ist und was nicht.
Wie klein müssen z.B. die Snippets sein, die gezeigt werden dür-
fen? Was gilt für uns als DNB? Wir haben ja keine Lizenzen, die
wir abschließen, sondern wir haben Pfichtexemplare.
Wie steht es mit der Langzeitarchivierung?
Auch da gibt es immer noch Meinungsunterschiede unter den
Experten. Wir bekommen Werke ins Haus, die nur unter ganz
bestimmten Rahmenbedingungen technischer Art vorgehalten
und genutzt werden können, sagen wir, ein PDF in einer be-
stimmten Version. Dazu brauchen wir die Soft- und Hardware,
die dazu passt. Nun ändern sich aber diese technischen Um-
gebungen permanent. Deshalb müssen wir diese Dokumente
in die jeweils nächste Umgebung migrieren. Dabei geschieht
auch etwas mit dem Dokument. Wir tun unser Bestes, um das
Dokument im urheberrechtlichen Sinne nicht zu verändern.
Aber es wird auch immer wieder einmal unvermeidbar sein,
etwas zu ändern.
Wenn Sie auf Ihre bisherige Zeit bei der DNB schauen
– was verbuchen Sie auf der Habenseite?
Vor allem das großartige Team, die Kolleginnen und Kollegen
in der Deutschen Nationalbibliothek. Ohne sie – aber auch
ohne unsere Partner in anderen Organisationen – wäre nichts
auf der Habenseite. Ganz konkret gesagt brachte 2006 das „Ge-
setz über die Deutsche Nationalbibliothek“ eine bedeutsame
Veränderung. Das hat unsere Handlungsmöglichkeiten wirk-
lich erweitert. Wichtig fnde ich auch, dass es gelungen ist, ei-
nen so schönen und funktionalen Erweiterungsbau in Leipzig
zu planen und zu realisieren. Mit der Integration des großzü-
gigen Museums hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum
eine prominente Rolle am Deutschen Platz übernommen und
seine Sichtbarkeit strahlt mit der ebenfalls neuen Ausstellung
„Zeichen – Bücher – Netze“ weit über Leipzig hinaus. Dass wir
zugleich das in Berlin unter Platznot leidende Deutsche Mu-
sikarchiv mit herausragenden Arbeitsmöglichkeiten ausstatten
und in unser Leipziger Haus integrieren konnten, war ein be-
sonderer Glücksfall. Wir bekommen auch international sehr
viel Anerkennung für unser Engagement bei der Entwicklung
neuer Standards der bibliothekarischen Erschließung – den-
ken Sie an die Einführung der DDC im deutschsprachigen
Raum und jetzt die Berufung in das Steuerungskomitee für
die RDA – und machen gute Fortschritte auf dem Gebiet
der automatischen Erschließung – ein wesentliches Element
bei der Sammlung großer Mengen von Netzpublikationen.
All das wäre ohne eine hochmotivierte und hochqualifzierte
Belegschaft, wie wir sie in der Deutschen Nationalbibliothek
haben, nicht möglich.
Wie fällt Ihre Bilanz zu den internationalen Projekten
aus, an denen Sie maßgeblich mitgewirkt haben?
Das Wichtigste war die Aufbauphase der Europeana. Als Vor-
sitzende der Europeana bin ich in das Comité des Sages be-
rufen worden. In diesem „Ausschuss der Weisen“ habe ich
gemeinsam mit dem Publicis-Chef Maurice Lévy und dem
belgischen Philosophen Jacques De Decker die Europa-Kom-
missarinnen Neelie Kroes und Androulla Vassiliou in Fragen
der Digitalisierung des kulturellen Erbes Europas beraten. Das
war eine intensive und spannende Zeit der europäischen zu-
kunftsorientierten Zusammenarbeit. Auf unseren Bericht, der
bis heute zitiert wird und auf den sich viele beziehen, bin ich
immer noch ein bisschen stolz.
g
Ich unterscheide
zwischen einer
geschützten privaten
und einer öffentlichen
Kommunikation.