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WAS SUCHEN
SIE DENN HIER?
Täglich kommen knapp 800 Menschen in die Deutsche
Nationalbibliothek, um sich Medienwerke auszuleihen und in
den Lesesälen zu arbeiten. In dieser Reihe stellen wir jeweils
sechs von ihnen vor: Woran sind sie interessiert? Und warum?
TEXTE: ULRICH ERLER/CHRISTIAN SÄLZER FOTOS: STEPHAN JOCKEL
Das Leiden
eines Dauergasts
Francisco Anguita.
Der BWL-Student
hat Druck: Es sind nur noch wenige
Wochen, bis er seine Diplomarbeit über
das Thema „Zeitarbeit in Unternehmen“
an der Frankfurter Fachhochschule ein­
reichen muss. Und bislang hat er erst
wenige Seiten geschrieben. Daher ist er
seit Kurzem morgens einer der Ersten,
der sich einen Arbeitsplatz im Lesesaal
sichert, und abends einer der Letzten,
der ihn wieder verlässt. Wenn es nach
ihm ginge, könnten die Öfnungszeiten
durchaus noch länger sein. In Spanien
etwa hätten manche Bibliotheken rund
um die Uhr geöfnet. Und da ist noch
etwas, was ihn stört: die Stühle. Die
seien zu hart. Diese Rückmeldung
jedenfalls gibt ihm sein Po nach jeder
seiner Zehn-Stunden-Schichten in der
Bibliothek.
Warum so viele
Selbstporträts?
Annika Michalski.
Einige Jahre ver­
bringt die 31-jährige Kunsthistorikerin
schon in den Leipziger Lesesälen, ihrem
„momentanen zweiten Zuhause“, mit
Werner Tübke: mit seinem grünen Skiz­
zenbuch, mit Ausstellungskatalogen,
Rezeptionen und Theoriebänden. Sie
ist Mitarbeiterin der Tübke Stiftung
Leipzig, über ihn hat sie ihre Abschluss­
arbeit geschrieben und promoviert sie
aktuell. Mit Bernhard Heisig und Wolf­
gang Mattheuer war der Maler in den
1970er und 1980er-Jahren der bekann­
teste Repräsentant der „Leipziger Schu­
le“. Sein bedeutendstes Werk ist ein
14 x 123 Meter (!) großes Bauernkriegs­
panorama. Daneben fnden sich 300
Selbstporträts. Genau das interessiert
Michalski: Wie kommt es, dass sich ein
Maler in einem auf Kollektivität getrimm­
ten Gesellschaftssystem so intensiv mit
seiner Individualität beschäftigt hat?
Protestantismus
trifft Orthodoxie
Dr. habil. Stefan Reichelt.
Der Re­
ligionswissenschaftler erinnert sich
noch gut an seine ersten Besuche in
der Deutschen Bücherei kurz vor der
Wende: an die Leihzettel etwa oder das
Warten auf einen der raren Arbeitsplätze.
Doch Reichelt ist seiner Lieblingsbiblio­
thek durch alle Entwicklungen treu ge­
blieben, vom Studium bis heute. Längst
ist ihm das Haus zur, wie er sagt, „geis­
tigen Heimat“ geworden. Aufwendig zu
recherchieren sind seine Forschungen
allemal. Seine Habilitationsschrift etwa
handelt von den „Vier Büchern von wah­
rem Christentum“, die der nachrefor­
matorische Erbauungstheologe Johann
Arndt vor rund 400 Jahren verfasst hat.
Wie diese Werke gewirkt, sich bis nach
Russland verbreitet und dabei, etwa
durch die Übersetzung ins Kirchensla­
wische, auch verändert haben – das hat
Reichelt akribisch nachgezeichnet.
Exerzitien am
Kopierer
Dr. Alf Mentzer.
Der Redaktionsleiter
Literatur vom benachbarten Hessi­
schen Rundfunk recherchiert für seine
Sendungen querbeet, von Donald Duck
über Thomas Mann bis zu hessischer
Satire und Gedichten. Aber im Lesesaal
der Frankfurter Deutschen National­
bibliothek zu arbeiten ist nicht seine
Sache. All die konzentrierten Menschen
machen es ihm eher schwer, die eigene
Konzentration zu fnden. So beträgt
seine durchschnittliche Verweildauer
nur geschätzte 27 Minuten. Werden aber
vor ihm am Kopierer mal wieder in aller
Seelenruhe umständlich Bücher kopiert,
nimmt der Schnitt dramatisch zu. Dann
gibt sich der Eilige ganz dem Exerzitium
des Wartens hin und ist sich sicher: Wer
diese Situation meistert, ohne die Ner­
ven zu verlieren, ist grundsätzlich für die
Unbill des Lebens gewappnet.
Wann wird Abkupfern
zum Plagiat?
PD Dr. Roswitha Reinbothe.
Dass
die Sprachwissenschaftlerin regelmäßig
in der Deutschen Nationalbibliothek in
Frankfurt arbeitet, liegt nicht nur daran,
dass sie in der Nähe wohnt. Vielmehr
benötigt sie historische Veröfentli­
chungen – etwa Kongressberichte vom
Anfang des 20. Jahrhunderts –, die sie
hier in Hülle und Fülle bekommt. Sie
forscht nämlich über die Entwicklung
des Deutschen als Wissenschaftssprache.
Hierüber hat sie auch ihre Habilitati­
onsschrift verfasst. Seit anderthalb Jah­
ren beschäftigt sie sich, wieder mithilfe
des Bibliotheksbestandes, auch mit dem
Urheberrecht. Denn sie hat entdeckt,
dass ein Professor wesentliche Teile ihrer
Habilitationsschrift abgekupfert hat –
und sie wehrt sich gegen das Plagiat.
So hat sie den Fall bereits vor Gericht
gebracht.
Mit Musik geht
die Arbeit leichter
Ines Filler.
Vom großen Altehrwürdi­
gen bis zum Hypermodernen: Ines Filler
hat fast alle Lesesäle der Deutschen Nati­
onalbibliothek in Leipzig probiert. Kei­
nen aber nutzt die Mitarbeiterin eines
privaten Bildungsträgers, die momentan
ein betriebswirtschaftliches Fernstudium
absolviert, so gerne wie den des Deut­
schen Musikarchivs. Wie ein schweben­
der Tropfen ist er in einen der Innen­
höfe platziert worden. Warum er Fillers
Favorit ist? Er ist neu, daher noch nicht
stark nachgefragt, rundum verglast, mit
Teppich ausgelegt und topmodern aus­
gestattet. Entscheidend für die 37-Jähri­
ge, die selbst Altsaxofon spielt, ist aber,
dass sie das gewaltige Musikangebot des
Archivs nutzen kann. Kürzlich etwa hat
sie, während sie über ihren Studienbrie­
fen brütete, einem barocken Trompeten­
konzert gelauscht.
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