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Bücherwürmer gibt es ist in der Deutschen Nationalbibliothek
naturgemäß recht viele. Allerdings glücklicherweise nur jene
mit zwei Beinen. Die Larven der Nagekäfer, die sich an zellulo­
sehaltigen Stofen im Allgemeinen und Büchern im Besonde­
ren laben, gelten dagegen in den Bibliotheken als weitgehend
ausgestorbene Gattung. Doch auch wenn der menschliche
Bücherwurm keine Löcher und Gänge im Buchblock hinter­
lässt, entstehen durch sein Wirken ebenfalls immense Schäden.
Fast noch harmlos ist da der Speckrand am Buchblock, der
sich bei häufg genutzten Büchern regelmäßig fndet. Und ver­
gleichsweise leicht zu beseitigen sind auch die unliebsamen
Lesezeichen wie Dreck, Haare oder Krümel zwischen den
Seiten. Problematischer wird es allerdings, wenn es der
Benutzer oder die Benutzerin nicht nur an der nötigen Sorg­
falt fehlen lässt, sondern sich allzu sehr für den Inhalt des
Buches interessiert. „Früher wurde auch schon einmal zur
Schere gegrifen“, erzählt Martina Hohensee, Leiterin der
Buchbinderei. Inzwischen habe sich das Bewusstsein aber
erfreulicherweise verändert. Außerdem gibt es ja längst
Kopierer. Diese aber werfen neue Probleme auf: „Einmal den
Deckel zu fest zugedrückt – und die Klebebindung ist hin.“
Martina Hohensee ist eine von neun Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die sich in der Werkstatt am Leipziger Standort
der Deutschen Nationalbibliothek um die Bestandserhaltung
kümmern. Ihre Aufgabe ist, die Medienwerke benutzbar zu
halten und zu pfegen. Behutsam verklebt sie daher Risse auf
einzelnen Seiten, ergänzt Fehlstellen am Papier, befestigt den
Buchblock oder baut einen neuen Einband. Ziel ist es, das
Buch möglichst originalgetreu zu restaurieren, also möglichst
viele originale Bestandsteile zu erhalten. Dass das Buch danach
nicht mehr so aussieht, wie es mal ausgesehen hat, ist sogar
beabsichtigt. „Uns geht es nicht um Täuschung“, so Hohen­
see. „Man soll danach ruhig sehen, dass das Buch nicht mehr
im Originalzustand ist. Aber man muss möglichst erkennen
können, wie es einmal im Original aussah.“
Auf ihrem Tisch stapeln sich Objekte in mehr oder weniger
schlechtem Zustand. Auch wenn ihr Arbeitsbereich Buch­
binderei heißt, geht es bei ihrer Arbeit beileibe nicht nur um
Bücher, sondern auch um Zeitschriften, Amtsdrucksachen, Ki­
oskhefte oder kartografsche Werke. Aktuell arbeitet sie an ei­
nem vergilbten Adressbuch aus den 30er-Jahren. Ein kurzlebiges
Massenprodukt, das aus besonders minderwertigem Material
hergestellt wurde. Lohnt da überhaupt der Aufwand? Die Fra­
ge, welches Objekt es wert ist, restauriert zu werden, stellt sich
für Hohensee nicht. Denn alles, was in den Sammlungsauf­
trag der Bibliothek fällt, gilt als gleich erhaltenswert. Allenfalls
besonders wertvolle Exponate, zum Beispiel aus dem Deutschen
Buch- und Schriftmuseum, bekommen eine Sonderbehandlung.
Die Entscheidung, welches Buch restauriert und welches sei­
nem Schicksal überlassen wird, trefen dabei weitgehend die
Benutzerinnen und Benutzer. Wenn auch unwissentlich. Denn
nur wenn ein Buch ausgeliehen wird, fällt auf, ob es in einem
schlechten Zustand ist. Bei rund 400 Regalkilometern wäre
es eine Sisyphusarbeit, den Bestand regelmäßig auf Schäden
zu durchforsten. Spätestens, wenn das Buch bei der Benut­
zung auseinanderfällt, landet es jedoch in der Werkstatt. Bis zu
5.000 Objekte im Jahr kommen so zusammen.
Neben den Restaurationsarbeiten sind für die Bestandser­
haltung die vorsorglichen Maßnahmen von entscheidender
Bedeutung. Es darf keine Feuchtigkeit an die Bücher dringen,
sonst werden die Seiten wellig und es kann sich Schimmel
bilden. Sonne ist ebenso tabu. Die Zeiten, in denen die ge­
fährlichen Sonnenstrahlen ungehindert durch große Fenster­
fronten auf die Bücher trafen, sind Geschichte. Stattdessen
lagern die Medien heute – gerade in den Neubauten in Frank­
furt und Leipzig – in modernen, geschützten Magazinen, die
stabile Bedingungen sicherstellen: eine gute Lüftung, maximal
18 Grad Raumtemperatur und eine Luftfeuchtigkeit von rund
50 Prozent. „Der Erweiterungsbau in Leipzig hat sogar eine
Klimaschleuse, in der die Bücher sich erst einmal ein Stünd­
chen an die neue Außenumgebung gewöhnen können“ berich­
tet Hohensee. Denn ein Buch mag konstante Bedingungen,
Schwankungen tun ihm nicht gut.
Wenn Bücher sauer werden,
wird es für Bibliotheken bitter
Doch nicht alle Fehler der Vergangenheit lassen sich ohne
Weiteres beheben. Insbesondere nicht, wenn sie schon lange
zurückliegen. Mit der Industrialisierung zur Mitte des 19.
Jahrhunderts veränderten sich auch die Techniken der Buch­
herstellung und mit ihr die verwendeten Materialien. Die
zuvor benutzten handgeschöpften Papiere aus Lumpen wurden
durch günstige holzstofhaltige Papiere ersetzt. Bei deren Her­
stellung wurde auf stark säurehaltige Bindemittel und Bleich­
stofe zurückgegrifen. Das Problem: Dieses Papier entwickelt
Säure, wird gelb und brüchig und verfällt früher als Papier
aus der vorindustriellen Zeit. Besonders problematisch sind
die Bücher, die in Kriegs- und Krisenzeiten hergestellt wur­
den – mit entsprechend minderwertigem Material. Erst in den
80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts veränderte sich das
Bewusstsein, aber auch vor allem die Erkenntnis, dass hier
mehr auf die Papierqualität geachtet werden muss. Bis dahin
sind einige „Problembücher“ zusammengekommen. „Gut zwei
Drittel der Bücher der Nationalbibliothek sind vom Säure­
verfall betrofen“, schätzt Jörg Räuber, der für Bestandserhal­
tung zuständige Abteilungsleiter in Leipzig. Würde man nichts
dagegen unternehmen, wären die Folgen verheerend: „Wir
hätten irgendwann quasi Mumien im Regal stehen, die zerbrö­
seln, sobald man sie berührt“, so Räuber.
Was also tun, wenn die Bücher sauer werden? Hier kommt die
Preservation Academy in Leipzig ins Spiel. Dort, in den kleinen
Fabrikräumen nahe dem Stadtzentrum, fndet das statt,
g
DER FEIND
IN MEINEM BUCH
Nicht der Bücherwurm, sondern die Säure ist der Todfeind
des Buches. Doch es gibt viele weitere Gefahren. Gefährliche
Sonnenstrahlen. Problematische Temperaturschwankungen.
Und nicht zuletzt den unachtsamen Benutzer.
REPORTAGE: MARTIN SCHMITZ-KUHL FOTOS: STEPHAN JOCKEL
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