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WAS SUCHEN
SIE DENN HIER?
Täglich kommen knapp 800 Menschen in die Deutsche
Nationalbibliothek, um sich Medienwerke auszuleihen und in
den Lesesälen zu arbeiten. In dieser Reihe stellen wir jeweils
sechs von ihnen vor: Woran sind sie interessiert? Und warum?
TEXTE: CHRISTIAN SÄLZER UND ULRICH ERLER FOTOS: STEPHAN JOCKEL
Briefe als
Zeitzeugen
Christine Kausch.
Drei Mal schon
ist die Historikerin aus Bochum nach
Frankfurt am Main gereist, um eine Wo-
che lang in einem Lesesaal im Unterge-
schoss Briefe zu lesen: Briefe, die von der
Deutschen Rosa Meyer ab 1933 aus dem
niederländischen Exil fast wöchentlich an
ihre reisefreudige Tochter Elisabeth nach
Sydney, Bombay oder Manila gesandt
worden sind. Über Umwege sind sie in
das zur Deutschen Nationalbibliothek
gehörende Deutsche Exilarchiv gelangt.
Anhand solcher privaten Dokumente
zeichnet Kausch in ihrer Doktorarbeit an
der Uni Münster nach, wie die Lage der
jüdischen Exilanten in den Niederlanden
von 1933 bis 1945 immer bedrohlicher
wurde. Der Briefwechsel zwischen Mutter
und Tochter endet 1940, kurz nachdem
die Wehrmacht das Nachbarland über-
fallen hatte. Drei Jahre später ist Rosa
Meyer in Auschwitz umgekommen.
Stöbern in der
Bildungsoase
Prof. Dr. Andreas Huber.
Wenn ein
Professor für Marketing und Neue Me-
dien seine Hausbibliothek auföst, liegt
der Gedanke nahe, dass er das tut, weil
er nur noch „digital“ liest. Doch das
Gegenteil ist der Fall: Huber liebt Bü-
cher und seiner Regale hat er sich nur
entledigt, weil er alles, was er braucht,
in der Deutschen Nationalbibliothek
in Frankfurt am Main fndet. Seit 25
Jahren kommt er hierher, als Nutzer
– und als Fan. Denn es ist nicht nur
die Fachliteratur, die ihn lockt: Die
Cafeteria etwa nutzt er für Termine mit
seinen Studierenden, die er dabei auch
mit der, wie er sagt, „Bildungsoase“
vertraut macht. Und er kommt wegen
der „inspirierenden Atmosphäre“. So
stöbert er ab und an in den Regalen mit
den Klassikern und liest einfach so mal
wieder einen Böll oder einen Brecht.
Jede Zeit hat
ihre Kaufhäuser
Dr. Katharina Junghans.
Einer Land-
schaftsarchitektin fällt so etwas auf: Von
den Leipziger Lesesälen bevorzugt die
53-Jährige deshalb den Zeitschriftenlese-
saal, weil er der hellste und am besten
durchlüftete ist. In ihrer angestammten
Profession arbeitet Dr.-Ing. Junghans
allerdings kaum noch, lieber setzt sie
sich wissenschaftlich mit architektoni-
schen und kulturhistorischen Themen
auseinander. So hat sie in ihrer Promo-
tion untersucht, welche Typen von Wa-
ren- und Kaufhäusern sich in Leipzig
vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1990
entwickelt haben. Diese wissenschaft-
liche Arbeit verwandelt sie gerade in
ein schönes Buch, weswegen sie in der
Nationalbibliothek vor allem stadthis-
torische Foto- und Architekturbände
interessieren. Ihr nächstes Projekt hat sie
bereits gefunden: Es soll um Suburbani-
sierung gehen.
Jährlich neue
Kalender-Girls
Adriane von Hoop.
Zum fünfundzwan-
zigsten Mal gibt es ihn nun schon, den
Suhrkamp-Taschenkalender „Berühmte
Frauen“. Neben bedeutenden Frauen der
Geschichte werden Monat für Monat
auch außergewöhnliche Zeitgenossinnen
vorgestellt: Von Jeanne d’Arc und Helena
Schjerfbeck über Aretha Franklin, Liza
Markl und Elizabeth Taylor bis Shirin
Ebadi, Benazir Bhutto und Jodie Foster.
Als verantwortliche Bildredakteurin ist
für von Hoop die Deutsche Nationalbi-
bliothek in Frankfurt am Main der ide-
ale Ort zur Recherche. Die langjährige
Nutzerin kennt noch das Karteikarten-
system im alten Gebäude. Heute bestellt
sie die Bücher, die sie braucht, von zu
Hause. Trotzdem weiß sie die Unterstüt-
zung durch die freundlichen und kompe-
tenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
vor Ort zu schätzen.
Ein mühsames
Puzzle
Ulrich Rottleb.
„Ich sitze hier mitten
in der Historie.“ Der 35-Jährige mag die
vielen originalen Details der Leipziger
Lesesäle. Doch auch auf seinem Arbeits-
platz breitet sich die Geschichte aus. Der
Kulturwissenschaftler erschließt histo-
risches Material für seine Dissertation
an der Berliner Humboldt-Universität
über „Kindereuthanasie in Sachsen“, vor
allem von 1939 bis 1945. Ein düsteres
Kapitel – und ein weitgehend unerforsch-
tes Feld, das eine komplizierte Recherche
erfordert. Denn viele Materialien, die
Aufschluss über Akteure und die Abläu-
fe geben könnten, seien gezielt vernichtet
worden. Rottleb sucht daher nach Quer-
verweisen – zum Beispiel zwischen einer
Personalakte aus den Leipziger Staats-
und Stadtarchiven und einer medizini-
schen Dissertation, die in der Deutschen
Nationalbibliothek aufbewahrt wird.
Wer ist wer
im Buchhandel?
Michael Hofert.
Als der Leipziger
Buchhändler Otto August Schulz 1839
ein „Adressbuch für den Deutschen
Buchhandel“ veröfentlichte, ahnte er
nicht, dass dieses Jahr für Jahr aktualisiert
und bis zum heutigen Tag neu aufgelegt
wird. Ein Klassiker also. Mit dem Ver-
zeichnis wollte er der jungen Branche ein
Hilfsmittel und der Nachkommenschaft
eine Quelle für die Forschung an die
Hand geben. Mehr als 170 Jahre später
hat Hofert, Absolvent am Leipziger Ins-
titut für Philosophie, Letzteres beherzigt.
Unterstützt vom Deutschen Buch- und
Schriftmuseum der Nationalbibliothek
hat er viele Jahrgänge des „Schulzschen
Adressbuchs“ durchgearbeitet. Jüngst ist
die Magisterarbeit veröfentlicht worden,
in geringer Aufage, aber wer weiß: Viel-
leicht wird sie auch zur Forschungsquelle,
heute, morgen oder in 170 Jahren.

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