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auch nicht jeder Konzertbesucher ist von Dylans Sucht nach
Veränderung unbedingt begeistert. Wer beispielsweise von
einem Dylan-Konzert erwartet, dass er die großen Hits hören
darf, wird gerne enttäuscht – man mag zufällig einen Abend
erwischt haben, an dem der Sprunghafte sich für introver-
tierte, wenig bekannte Lieder entschieden hat. Da bekommt
man dann an einem Juliabend des Jahres 1993 in Mailand
obskure Folksongs zu hören, die heißen „Little Moses“, „To-
morrow Night“ oder „Hard Times“ – aber kein „Like a Rol-
ling Stone“, kein „Blowing in the Wind“, kein „Highway 61
Revisited“ und kein „Hurricane“.
Aber es gibt auch jene Konzertbesucher, die sich von dieser
Unberechenbarkeit so angezogen fühlen wie Motten vom
Licht, die den selten gewordenen Thrill der Überraschung zu
schätzen wissen – und die vermut-
lich ihre jährlichen Reiseplanungen
nach den Tourneerouten des Sän-
gers richten, um in einem Rutsch
möglichst Zeuge so vieler Reinkar-
nationen von Songs zu werden, wie
es nur geht. Viele dieser Parallelrei-
senden haben irgendwann damit
begonnen, sich auf dem Schwarz-
markt Bootlegs – Raubpressungen
von Liveauftritten – der von ihnen
besuchten Konzerte zu besorgen.
Als Souvenir, als Erinnerung, als
Vergewisserung, dass man dabei
war, als Dylan diese eine magische
Version von „Gates of Eden“ in
Dortmund 1987 auf die Bühne
zauberte, oder als er 1999 im New
Yorker Tramps Club an einem
Abend zu stellarer Form aufief
und diamantene Versionen von
„Boots of Spanish Leather“, „John
Brown“ und vor allem „Visions of
Johanna“ spielte.
Mit dem Siegeszug des Internets, der Tauschbörsen und
der Newsgroups, mit der Möglichkeit, sich zu vernetzen
und auch größere Datenmengen über die virtuellen inter-
kontinentalen Highways zu jagen, begannen viele Fans Bob
Dylans – und ihnen gleich taten es die Fans von Neil Young,
The Grateful Dead und Miles Davis –, ihre Live-Raritäten zu
tauschen. Aus einem Tausch Konzert gegen Konzert, bei dem
laut Ehrenkodex dieser verschworenen Internetgemeinschaften
keiner der Beteiligten etwas verdienen durfte, wurde bald der
Tausch von Gigabyte-Festplatte zu Gigabyte-Festplatte: biete
den kompletten Jahrgang 1981, suche 1994. Noch nie war es
so leicht wie heute, sich Hunderte von Dylan-Shows auf die
externen Platten zu schaufeln. Auf den Informations-Overkill
folgte nicht selten die Übersättigung. Wer aber aus Liebe zu
den Versionen und Überraschungen und wer aus Neugier
auf das Unbekannte weitermachte, sah sich bald mit dem
Problem konfrontiert, wie man in diesen unübersichtlichen
Soundarchiven gezielt fündig werden konnte. Schließlich hat
sich niemand bisher die Mühe gemacht, die Konzerte und
Songs zu taggen – die von Hans Ulrich Obrist so herbeige-
sehnte intuitive Möglichkeit, durch Texte auf der Fährte klug
gesetzter Kontextualisierungen hindurchsurfen zu können,
ist im Dylan-Archiv Zukunftsmusik.
Aber immerhin ist es Musik. Und was für welche. Ich wurde
für diesen Beitrag gefragt, ob ich ein Sammler von Musik sei,
und ob ich Erhellendes zum Phänomen akribischen Sam-
melns beitragen könne. Tatsächlich bin ich kein sogenannter
Dylanologe und möchte es auch nie werden. Aber ich gebe
gerne zu, Dylans einst schneidender und heute gebrochener
Stimme verfallen zu sein. Die vielen
Konzerte des Sängers, der wie kein
Zweiter die Arbeit an Wortwerk
und Melodie Abend für Abend vor
staunendem oder entsetztem Pub-
likum dekonstruiert, sind Erkennt-
nisgewinn und garantieren musi-
kalische Entdeckungen. Das liegt
auch daran, dass der Sänger zwar
in der Vergangenheit immer wieder
Live-Platten veröfentlicht hat, die
jede für sich quasi ofzielle Versi-
onen einer jeweiligen Tournee dar-
stellen, aber seit dem Jahr 1984 nur
noch Studioalben veröfentlichte.
Ein irritierender Widerspruch.
Denn einerseits befndet sich Bob
Dylan seit dem Sommer 1988 auf
einer ununterbrochenen, never en-
ding Konzerttournee mit rund 100
Auftritten pro Jahr, ohne diese zu
dokumentieren. Und andererseits
zelebriert die große Mehrheit des
um die Welt tourenden Musik-Jet-
sets das Prinzip Sicherheit – mit
weitgehend identischen Setlists, Arrangements und sogar
Publikumsansprachen.
Ein Beispiel dafür, wie erkenntnisreich es sein kann, sich auf
Dylan einzulassen: Am 3. Juli 1988 gab Bob Dylan ein Kon-
zert in Old Orchard Beach in Maine – natürlich ist es nie
ofziell veröfentlicht worden. Als neunten Song spielte er an
diesem Abend (und danach lange nicht mehr wieder) eine
hochkonzentrierte, durch seinen beseelten Gesang enorm
berührende Version von „Trail of the Bufalo“, einen Song
des amerikanischen Folksängers Woody Guthrie, den dieser
einst unter dem Titel „Bufalo Skinners“ geschrieben hatte.
Der Song beschreibt die harten Arbeitsbedingungen der Büf-
feljäger im Wilden Westen. Dylan singt: „Well me being out
of work right then, at this drover I did say / ‘This a –goin’
g
„But if you pay good
wages, transportation to
and fro’ / Think I might
go with you on the hunt
of the bufalo.“
Trail of the Bufalo

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